Eine Rezension von Hannelore Sigbjoernsen

Wertvolles von Henschel, unterschiedlich in den Zeiten

Die jüdischen Friedhöfe in Berlin
Henschel Verlag, Berlin 1991, 168 S.

Als das Buch Jüdische Friedhöfe in Berlin aus dem Henschel Verlag Kunst und Gesellschaft, DDR - Berlin, im Jahre 1987 in der 1. Auflage erschien, hatte Glück, wer es zu kaufen bekam. Berlin-Literatur gab es so reichlich nicht (Bücher von Heinz Knobloch waren immer „Bückware“), und über jüdisches Leben in Berlin und jüdische Geschichte wurde in DDR-Zeiten ohnehin nicht sehr viel publiziert.

Nun gab es also etwas wie ein „Standardwerk“, in dem nachzulesen war, was man sich sonst in Einzelwerken mühsam zusammensuchen mußte. Außerdem waren das Personenregister und das umfangreiche Quellenverzeichnis für Interessierte sehr hilfreich bei weiteren Recherchen.

Daß über einen jüdischen Friedhof in Berlin in der 87er Ausgabe nichts geschrieben stand, fiel wohl nur demjenigen auf, der wirklich Insiderkenntnisse besaß und die Entwicklungen in der Berliner Jüdischen Gemeinde beobachtet hatte. So lautete der Titel denn auch einschränkend Jüdische Friedhöfe in Berlin und nicht „Die jüdischen Friedhöfe ...“. Jetzt, in der 4., verbesserten und erweiterten Auflage 36/91, aus der nunmehr Henschel Verlag GmbH mit dem Redaktionsschluß 31. Dezember 1990 ist selbstverständlich auch der 1955 eingeweihte Friedhof an der Heerstraße/Scholzplatz aufgenommen. Der Titel heißt nun auch, vervollständigt, Die jüdischen Friedhöfe in Berlin.

Unbestritten - ein wertvolles Buch. Man möchte, was in den Abschnitten „Der jüdische Friedhof und seine Besonderheiten“ und „Trauerbräuche“ geschrieben steht, beinah als Lehrmaterial für Schulen publiziert wissen. Ebenso - zumindest für Berliner Schüler - das, was über „Die Friedhöfe im Berliner Stadtbild“ mitgeteilt wird, was Aufschluß über das Werden und Wachsen der Stadt und ihrer Bewohner gibt. Der Hauptteil, „Die jüdischen Friedhöfe in Berlin“, birgt ein so umfängliches Informationsmaterial, daß der Leser Mühe haben wird, es zu bewältigen. Da sind Geschichte und Lage der Grabstätten, ihre architektonische Gestaltung, die Kurzbiographie des/der Beigesetzten und Angaben zum Schicksal wie zur gesellschaftlichen Stellung oft in wenigen Zeilen zusammengefaßt. Erschüttert liest man von denen, die durch Krieg oder faschistischen Terror umgekommen sind oder den Freitod wählten, um der Ermordung zuvorzukommen. Das Leid, das der spätere Landesrabbiner Dr. h. c. Martin Riesenburger und seine Helfer in den letzten Kriegsjahren auf dem Friedhof in Weißensee erlebten, als sie Tag für Tag mit dem Massentod jüdischer Bürger konfrontiert waren, denen sie die letzte Ehre erwiesen, während SS die Friedhofsgebäude heimsuchte, ist emotional kaum faßbar. Es ist mehr als recht, wenn das Buch um viele Namen erweitert wurde, um möglichst viele Opfer zu ehren.

Natürlich liest man, wenn vom Verlag Verbesserung und Erweiterung der Nachauflage versprochen werden, die Einleitung eines solchen Buches nach den politischen Ereignissen der Jahre 1987 bis 1991 mit besonderer Aufmerksamkeit. Natürlich ist zu akzeptieren, wenn sich der Verlag für den Wortlaut der Erstauflage entschieden hat: „Diese Publikation, die in wesentlich bescheidenerer Form erstmals 1980 erschien, soll ...“ Die Ausgabe von 1987 wird nicht erwähnt. Man fragt sich: Will der Verlag das Buch Jüdische Friedhöfe in Berlin (1987) nicht mehr genannt wissen? Das provoziert dazu, beide Ausgaben genauer miteinander zu vergleichen.

Natürlich ist die Gestaltung des Buchtitels moderner, liest es sich von mattem Papier angenehmer als vom Kunstdruck, sind die Fotodrucke kontrastreicher, ist hier und da eine großzügigere Gestaltung und Bildaufmachung augenfällig und sind - wie oben erwähnt - neue Namen aufgenommen worden. Und doch ... Da hat es z. B. in der „Berliner Zeitung“ vom 28. Januar 1992 eine Geschichte von der Entdeckung eines Fotos vom jüdischen Friedhof in der Großen Hamburger Straße gegeben, das als „sensationell“ bezeichnet wird. Heinz Knobloch ist der Autor. „Es ist das vermutlich letzte Foto, das ihn vor seiner Vernichtung zeigt“, schreibt er. Wo, wenn nicht in diesem Buch, sollte es zu sehen sein? und sollte in eine nächste Auflage aufgenommen werden.

(Der „Schriftsteller Heinz Knobloch und das Centrum Judaicum“ hatten der Zeitung das Foto „zur Verfügung“ gestellt.)

Da gab es in der Ausgabe von 1987 ein Foto, das besonders neugierig machte: Seite 119, ein Denkstein für „Michail Bodjana“. Er trägt den Namen in kyrillischen und lateinischen Buchstaben sowie einen Davidstern und einen Sowjetstern. Dazu im Text (dieser in beiden Ausgaben identisch) das Zitat von Martin Riesenburger, daß der Stein für einen 28jährigen Soldaten gesetzt wurde, der kurz nach der Befreiung Berlins verstarb. Ein Foto, das die Zeitumstände deutlich machte - in der Nachauflage ist es nicht mehr enthalten. Überhaupt scheint manche Auslassung nicht sehr schlüssig. Es fällt ein fast peinliches Bemühen auf, die drei Buchstaben „DDR“ aus Text und Bild zu verbannen. Selbst da, wo zur Sprache kommt, daß aufgrund eines Regierungsbeschlusses der jüdische Friedhof in der Schönhauser Allee zu einem zentralen Denkmal erklärt wurde. Daß die DDR-Regierung Martin Riesenburger mit einem hohen Orden ehrte, mag aus heutiger Sicht nebensächlich sein. (Oder auch nicht, denn sie tat sich schwer mit dem jüdischen Erbe.) Die Ehrendoktorwürde ist ihm jedoch von der Humboldt-Universität verliehen worden. Nicht mehr erwähnenswert oder eben nur gestrichen?

Herbert Baum - sein Schicksal und das seiner Mitkämpfer wird in beiden Ausgaben beschrieben. Aber, Ausgabe von 1987, S. 92: „Am 11. Juni 1942 wurde Herbert Baum im Untersuchungsgefängnis ermordet.“ Ausgabe 1991, S. 90: „ ... starb Herbert Baum im Untersuchungsgefängnis“. ?!

Auffällig ist auch die Korrektur einer Jahreszahl. In der 1. Auflage, Seite 75, ist zu lesen, daß die Mitgliederzahl der Jüdischen Gemeinde um 1875 bereits auf 65 000 angewachsen war. In der späteren Ausgabe (S. 75) wird diese Angabe auf das Jahr 1871 bezogen.

Gewiß gibt es in den Forschungen der Jüdischen Gemeinde immer wieder neue Erkenntnisse, sicherlich auch in der Geschichte ihrer Friedhöfe. Wenn nun andere Jahreszahlen, andere Aussagen für richtig befunden werden, hätte ein zweites Vorwort in der Ausgabe, die sich die „4. verbesserte und erweiterte“ nennt, nicht gestört. Auch die Publikation von 1980 hätte erläutert, die erste Auflage durchaus kommentiert werden können. Mehr noch: Wissend, daß die Wege zu den Ruhestätten nun für jedermann aus ganz Berlin zugänglich sind, wissend auch, daß in dem nun großen Berlin nicht jeder gleich den richtigen Weg findet - wäre eine Wegbeschreibung zu den Friedhöfen unangebracht gewesen?

Es bleibt der Eindruck, die 91er Ausgabe mußte vor allem schnell erscheinen, DDR sollte darin nicht mehr vorkommen, und manches, was hinzugefügt wurde, war eigentlich schon vorhanden, „gehörte“ aber nicht in das Buch vom „Henschelverlag Kunst und Gesellschaft - DDR“, 1987.

Nun mag sich gratulieren, wer beide Ausgaben besitzt. Sie sind schon in sich Zeitdokumente - abgesehen von ihrem gleichermaßen wertvollen Inhalt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 09/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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