Eine Rezension von Herribert Schenke

Friedhöfe - aufgeschlagene Geschichtsbücher

Enrico Straub: Berliner Grabdenkmäler
Haude & Spenersche Verlagsbuchhandlung, Berlin 1984,
Berlinische Reminiszenzen, Bd. 55, 130 S.

Egon Ewin Kisch, den man den rasenden Reporter nannte, der er freilich nie war, eher das Gegenteil, nämlich ein sehr gewissenhafter und genau recherchierender Schriftsteller, hatte eine bestimmte Methode, Bekanntschaft mit einer Stadt oder einer Ortschaft zu machen: Er besuchte stets die Friedhöfe, das waren für ihn aufgeschlagene Geschichtsbücher, in denen Fakten steckten, die sich spannend lesen ließen.

Enrico Straub, der Autor des Bandes 55 in der Reihe „Berlinische Reminiszenzen“ aus dem Verlag Haude & Spener, ist in dieser Beziehung ein Nachfahre Kischs. Er philosophiert über Grabstätten in Berlin und, vor allen Dingen, er fotografierte die Denkmäler berühmter oder bekannter Berliner Persönlichkeiten.

Der Autor ordnete sie nach dem Sterbedatum. Und so reicht die Auswahl von Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff, dem berühmten Baumeister, der im September 1773 starb, bis zu Rudi Dutschke, 1979. Man findet darin das Denkmal für Rudolf Virchow, den Begründer der modernen Heilkunde, das Grab des Rennfahrers Bernd Rosemeyer, Gustav Stresemanns letzte Ruhestätte wie die des Komponisten Hanns Eisler und die des ersten Berliner Nachkriegsoberbürgermisters Ernst Reuter. Auch die Ansicht der Grabdenkmäler kann Anregung sein, sich über die Biographie und die Leistung von Persönlichkeiten, die in Berlin und weit darüber hinaus Geschichte machten, detailliertere Kenntnis zu verschaffen, wie etwa über das Werk des Malers Adolph von Menzel, über den Flugpionier Otto Lilienthal oder den Schauspieler August Wilhelm Iffland.

Das Büchlein umfaßt 130 Seiten, auf sechs Seiten gibt der Verfasser eine Einleitung. Den Hauptteil bilden die 89 Schwarzweiß-Fotoporträts der Grabdenkmäler. Natürlich spiegeln sie Zeitgeist wider, sind verschnörkelt oder klotzig, mal bescheiden, fast unauffällig. Je nach Persönlichkeit, je nach Wertschätzung der Familie oder Kommune ist die entsprechende Größe und Gestaltung ausgefallen. An den Dichter Adelbert von Chamisso, der als erster Dichter eine plebejische Person, nämlich eine Berliner Waschfrau, besang, erinnert nur eine kleine Grabplatte, während für den Gründer des modernen Kaufhauses Georg Wertheim ein protziger Muschelkalksarkophag aufgestellt wurde.

Jedes dieser Fotos ist mit einer kleinen, aber aussagekräftigen Biographie des oder der Verstorbenen versehen. In wenigen Zeilen ist alles Wesentliche zusammengefaßt. Notiert ist selbstverständlich auch der Friedhof, wo man das Grabdenkmal findet, sozusagen eine Empfehlung, selber mal auf Entdeckungsreise zu gehen.

So erfährt man, um nur ein Beispiel herauszugreifen, von einem echten Berliner Original, der Harfenjule, folgendes:

„Luise Nordmann, genannt ,Die Harfenjule‘, geboren Potsdam, 6. September 1829; gestorben Berlin, 12. Januar 1911. Stadtbekanntes Original der Jahrhundertwende. Die Tochter des Holzarbeiters Schulz wurde blind geboren; nach einer sensationellen Operation durch den angesehenen Augenarzt Albrecht von Graefe ( 1828-1870) gelangte sie zu schwacher Sehkraft. Diese reichte jedoch nicht aus, um dem gesangsbegabten Mädchen eine Bühnenkarriere zu ermöglichen. Luise verdiente sich den Lebensunterhalt, indem sie harfespielend und singend durch Berliner Straßen und Kneipen zog. 1871, nach dem Tod ihres Mannes, dem Marionettenspieler Nordmann aus Küstrin, wurde sie in Schöneberg seßhaft. Bis zu ihrem Tod gehörte die Harfenjule ins Stadtbild der südlichen Bezirke; ihr widmete der Dichter Klabund (1890-1928) ein Gedicht.

Das bescheidene Armengrab wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört; 1969 wurde an anderer Stelle durch private Initiative ein Gedenkstein gesetzt. Kirchhof der Luther-Gemeinde Malteserstraße Berlin-Lankwitz.“

Die Auswahl, die der Autor unter der Vielzahl von Grabdenkmälern getroffen hat, scheint ausgewogen. Sein Büchlein ist als Band 55 in der Reihe, die inzwischen schon mehr als siebzig Titel umfaßt (vgl. dazu andere Rezensionen und Annotationen in diesem Heft - d. Red.), erschienen. Das Erscheinungsjahr ist 1984. Die Recherchen des Autors waren damals durch die Teilung der Stadt eingeschränkt. Friedhöfe, die direkt an der Mauer lagen, durften nicht betreten werden. Der Ostteil der Stadt, also die damalige Hauptstadt der DDR, wurde von ihm nur reduziert wahrgenommen. Hier bestünde also Nachholebedarf. Und die Tatsache, daß vom letzten Eintrag an, also seit 1979, viele Persönlichkeiten den Weg alles Irdischen gingen, deren Grabdenkmäler noch nicht erfaßt sind, würde eine neue und erweiterte Auflage des interessanten Buches rechtfertigen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 09/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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