Eine Rezension von Helmut Caspar

Der Bauch von Berlin

Susanne Schindler-Reinisch (Hrsg.): Berlin Central-Viehhof.
Eine Stadt in der Stadt.
Aufbau-Verlag, Berlin 1996, 215 S., 83 Abb.

Vor einhundert Jahren war der Zentralviehhof d i e Attraktion vor den Toren Berlins. Jetzt ist die Riesenanlage zwischen Landsberger Allee, Hausburg- und Eldenaer Straße eine Altlast. 1995 gab es auf dem bis auf wenige Reste bereits leergeräumten Gelände eine Ausstellung, in der Geschichte und Schicksal des ehemals so hochgelobten Wirtschaftsunternehmens dokumentiert wurden. Die Schau bildete die Grundlage für das von Susanne Schindler-Reinisch herausgegebene, reich illustrierte Buch mit Aufsätzen, Chronik, Begriffserklärungen und einem umfangreichen Literaturanhang. Der Band erschließt dem Leser ein Stück weitgehend unbekannter Berlin- und Sozialgeschichte. Leider kommt er zu spät, denn die Würfel für den Abriß sind schon längst gefallen. Denkmalschützer und Heimatfreunde haben sich nach der Wende nicht durchsetzen können, die stark sanierungsbedürftigen Hallen im märkischen Backsteinstil zu retten. Letzte Gewerbebetriebe wurden inzwischen ausquartiert. Nachdem die Planungen für die Berliner Olympiabauten ins Wasser gefallen waren, entstehen auf dem attraktiven Standort teure Wohn- und Geschäftshäuser. Die Abrißbirne spart wenige Bauten aus. Ob sich die Neubauten wirtschaftlich tragen in einer Gegend, wo viele „City-Points“ zur Hälfte leerstehen, wird sich zeigen. Darüber zu spekulieren, haben die Autoren unterlassen. Da der Arm des Denkmalschutzes hier wie auch im Falle anderer auf dem Altar wirtschaftlicher Prosperität geopferter Bauwerke viel zu kurz ist, zeugen nur noch alte Fotos, geringe steinerne Relikte und eben dieses hochinteressante Buch.

Wie Daniela Guhr eingangs unter der Überschrift „Rundgang durch ein Jahrhundert“ darlegt, liegen die Anfänge der 50-Hektar-Anlage im späten 19. Jahrhundert, als die Millionenstadt aus den Nähten platzte. „Eklatant“ sei damals der „provinzielle Standard“ auf dem öffentlichen Versorgungssektor und im Bereich des Wohnungsbaues, bei der Beseitigung des Schmutzwassers und der Versorgung der Berliner mit Trinkwasser und Lebensmitteln gewesen, so Guhr. Namhafte Politiker und Mediziner, allen voran der Arzt, Abgeordnete und Altertumskundler Rudolf Virchow, forderten die Abschaffung unhygienischer Zustände. James Hobrecht, seit 1869 Chefingenieur des Berliner Kanalisationswesens, entwickelte ein System zur Entwässerung der Stadt auf auswärtigen Rieselfeldern. Die Angst vor Epidemien war weit verbreitet und berechtigt. Sie war es schließlich, die widerstrebende Politiker dazu bewegte, sich den teuren Modernisierungsplänen anzuschließen. Fleisch sollte künftig nur noch unter strenger behördlicher Kontrolle erzeugt und in geschlossenen Räumen verkauft werden. Ein Bauprogramm für öffentliche Markthallen und Schlachthöfe wurde in Gang gesetzt - gegen den Widerstand professioneller Schlächter, die, so die Autorin, von einer zentralen kommunalen Vieh- und Schlachthofanlage die „Gefahr der Zerstörung ihres jahrhundertealten Gewerbes“ befürchteten.

Nach vielen Debatten über das Für und Wider privater oder kommunaler Einrichtungen wurde der „Bauch von Berlin“ auf der Lichtenberger Feldmark nach Plänen des Stadtbaurats Hermann Blankenstein und des Stadtbauinspektors August Lindemann angelegt. Sie hatten die neuartigen Anlagen in Wien, Paris und London studiert; große Schlachthäuser gab es auch in den USA. Die Planung war so, daß der Schlacht- und Viehhof noch erheblich erweitert werden konnte. Leiter des Unternehmens von 1880 bis 1901 war Ökonomierat Otto Hausburg, nach dem eine Straße am Ort seines Wirkens benannt wurde.

Die 1881 eröffnete Anlage, deren Bauten, Funktionalität, Kapazitäten und deren Veränderungen auch in den folgenden Beiträgen von Susanne Schindler-Reinisch („Strukturen und Instrumente“), Susanne Schindler-Reinisch/Antje Wittenberg („Das Leben in der Fleischerstadt“) und Jörg Heininger („Zur Sozialhygiene“) beschrieben werden, erlitt im Zweiten Weltkrieg Verluste von etwa 80 Prozent. Nur wenige Hallen wurden wiederaufgebaut. Mühsam war der Neubeginn der 1946 unter städtische Verwaltung gestellten Anlage, die 1952 VEB und 1963 Fleischkombinat Berlin wurde. Pläne, den Betrieb nach Marzahn zu verlegen, wurden in den siebziger Jahren aus Kostengründen fallengelassen. Die Rinderverarbeitung kam nach Eberswalde, ist zu erfahren, während die Schlachtung der Schweine weiter am alten Ort erfolgte.

Die Hallen, in denen Hunderte Schlächter und Verkäufer unter unbeschreiblich schweren Bedingungen arbeiteten, wurden zu einer wichtigen Sehenswürdigkeit der Stadt. Die eigentlichen Akteure bekam man in der „Stadt in der Stadt“ nicht zu sehen. Ihnen setzt der Band ein Denkmal. In den Restaurationen und Schankstuben konnte man gut und preiswert speisen und trinken. Arme Leute kauften das billige „Freibank-Fleisch“ verunglückter oder sonstwie nicht ganz einwandfreier Tiere.

Das Buch dokumentiert die innere Struktur des „Central-Viehhofs“, auf dem man nicht nur Fleisch und Wurst, sondern auch Tabakwaren und sogar Brillen kaufen konnte. Dargestellt wird die Entwicklung der Veterinärmedizin und Fleischbeschau, und der Leser erfährt auch Einzelheiten über die Technologien der Fleischverarbeitung sowie die Mühen, die Tiere auf „humane“ Weise mit Hammerschlägen und Stromstößen zu töten. Die Arbeit mit der Keule und dem Messer galt als nicht mehr zeitgemäß, und so wurden, oft gegen den Widerstand der über die teuren Neuerungen wenig erbauten Schlächter, Schußbolzen, der Kopfhalter „Humanitas“ zur Abkürzung des Todesaktes der Rinder oder der Schußapparat „Mors“ (Schlaf) entwickelt und benutzt. Versuche zur „blitzartigen Tötung“ mittels Elektroschocks wurden angestellt. Betäubungsversuche mit Dynamit, Alkohol und Kohlensäure wurden wieder aufgegeben.

Zum Schluß sei auf den Beitrag von Andrea Gärtner „Von Schlachthöfen und Schachtfeldern - Expeditionen in die unbekannte Nähe“ aufmerksam gemacht. „Zonen des Todes“ wie die Schlachthöfe sowie andere Industrieanlagen und technische Errungenschaften seien von Intellektuellen nach dem Ersten Weltkrieg mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu betrachtet worden. Journalisten und Romanautoren wie Upton Sinclair und Alfred Döblin schilderten das Leben in solchen „Mordsunternehmen“. Was in dem literaturgeschichtlichen Ausflug allerdings der Massenmörder Fritz Haarmann zu suchen hat, ist nicht recht erklärlich. Auch der Bezug zwischen dem Mikrokosmos Schlachthof und dem großen Abschlachten im Krieg und in den Vernichtungslagern des „nationalsozialistischen Schlachthauses Deutschland“ ist schwer nachvollziehbar. Schlachtfelder und Schlachthöfe sind verschiedene Qualitäten. Die Unterschiede sind, auch wenn Verbindungen bisweilen in der Literatur und bildenden Kunst hergestellt werden, zu groß.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 09/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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