Eine Rezension von Reiner Ponier

Im Wettlauf mit der Abrißbirne

Christian Bedeschinski: „Ein-Blicke“
Industriekultur im Osten Deutschlands.
Haude & Spenersche Verlagsbuchhandlung, Berlin 1995, 96 S.,
zahlr. Fotographien

„Ein-Blicke“ in die „Industriekultur im Osten Deutschlands“ verspricht der Titel eines neuen Bildbandes. ... „eine Kultur der Arbeit“ werde sichtbar, verheißt gar die Rückseite des Schutzumschlages. Wer das Buch aufschlägt, bekommt Fotos aus der Braunkohlenindustrie zu sehen; Kraftwerke, Kokereien, Brikettfabriken so weit er blättert. Und er schaut auf Ruinen und Kahlschlag. Von Kultur bei flüchtiger Betrachtung keine Spur.

Das Vorurteil scheint bestätigt. Denn heutzutage ist es opportun, die Braunkohlenindustrie des Ostens zu verteufeln und deren Geschichte auf Landverwüstung und Luftverschmutzung zu Zeiten der DDR zu verkürzen. Völlig verdrängt wird, daß große Traditionen des so oft beschworenen Standortes Deutschland gerade dort ihr Wurzeln haben.

Christian Bedeschinski hat in der Lausitz und in den Braunkohlenrevieren um Leipzig, Halle, Bitterfeld die - wie es im Buch heißt - „Strukturveränderungen nach der Vereinigung“ mit der Kamera beobachtet. Es wurde ein Wettlauf mit einem „in wahnwitzigem Tempo erfolgenden Abbruchgeschehen“, ganz wie im Märchen von „Hase und Igel“: Wo der Fotograf hinkam, die Abrißbirne war schon vor ihm da.

„Ruinen schaffen ohne Waffen“, hatte der Volksmund eine Losung der achtziger Jahre verballhornt. So antwortete der DDR-Bürger auf die Erfolgsmeldungen in den Medien, die sich immer offensichtlicher von der Wirklichkeit entfernten. Wir Ahnungslosen kannten die Treuhand damals noch nicht.

Ob die Entscheidungen dieser Anstalt tatsächlich so unumgänglich waren, darüber wird noch lange gestritten werden. Wem es noch in den Ohren klingt, daß es zur „Politik von Partei und Regierung“ angeblich auch keine Alternative gab, der hört es mit Mißbehagen. Unstrittig ist allerdings schon jetzt, daß es zu Folgen dieser Treuhandpolitik nirgendwo eine Parallele gibt.

Der amerikanische Finanzminister Morgenthau hatte mitten im Zweiten Weltkrieg vorgeschlagen, Deutschland nach der Niederlage zu entindustrialisieren und in einen Agrarstaat umzuwandeln. Die Geschichte nahm einen anderen Lauf; der Plan blieb Gedankenspiel. Was die Rache der damaligen Sieger rigider nicht vermocht hätte, ist im sechsten Jahr der deutschen Einheit fast vollendet: Der Osten ist zur größten Industriebrache verödet. Die Zahl der industriellen Arbeitsplätze pro 1000 Einwohner ist inzwischen geringer als in Irland. „Ostdeutschland ... gehört zu den rückständigsten Regionen an der Peripherie der Europäischen Union“, war kürzlich in dem in Hamburg erscheinenden „Wirtschaftsdienst“ zu lesen.

Gut vierzig Kraftwerke und Betriebe der Braunkohlenverarbeitung arbeiteten, als Bedeschinski 1990 erstmals dort fotografierte. Fünf waren übrig, als der Bildband erschien. Für die einen sei damit einer beträchtlichen Umweltbelastung ein Ende gesetzt, meint Axel Föhl, der das Vorwort geschrieben hat, für Tausende andere habe das ein jähes Ende ihres Arbeitslebens bedeutet, „und wieder andere bedauern die allzu schnelle und planlose Vernichtung einer historischen Arbeits- und Technikwelt“.

Häme, die sich sonst schnell einstellt, sobald über die sogenannte Ehemalige gesprochen wird, ist Föhl fremd. Das Modewort marode fehlt seinem Wortschatz. Föhl bedient sich keiner Klischees. Er hat Eigenes mitzuteilen und viel Bedenkenswertes. Und er scheut sich nicht, den Finger in eine offene Wunde zu legen, indem er das zweierlei Maß anspricht, mit dem im vereinten Deutschland gemessen wird. Während die Eisenhütte im saarländischen Völklingen in die UNESCO-Liste des Weltkulturerbes aufgenommen werde und für Steinkohlenzechen des Ruhrgebietes Konzepte zur Denkmalerhaltung und Folgenutzung erarbeitet würden, gehen weiter östlich „Millionen statt in die Weiternutzung in die Beseitigung von ähnlich wichtigen, ähnlich beeindruckenden Zeugen vergangener Technikarchitekturen“. Wer dagegen auftrete, werde als Investitionsverhinderer verschrien, obwohl er „das genaue Gegenteil, nämlich Ressourcenerhalter, ist“.

Manche Doppelseite dieses Buches erinnert an Richard Peters Klassiker Dresden - Eine Kamera klagt an. War das kurz nach dem Krieg der Aufschrei eines tief ins Herz Getroffenen, so sind Bedeschinskis Fotos eher Ausdruck einer kühl-distanzierten Sicht. Diese Feststellung mindert nicht sein Verdienst. Als letzter und einziger vielleicht hat er im Überblick Architektur und Technik der Braunkohlenindustrie als Kulturleistung des mitteldeutschen Raumes, die dieses Buch in einem Atemzug mit herausragenden Werken der Kunst nennt, kurz vor ihrem endgültigen Aus in Aufnahmen von dokumentarischem Wert festhalten. Industriebau im Wandel eines Jahrhunderts bleibt damit für später anschaulich. Diejenigen, die in Vockerode, in Hirschfelde, Hagenwerder, in Lauchhammer, Lübbenau-Vetschau oder in Schwarze Pumpe mitgebaut oder danach im Schichtdienst dort gearbeitet haben, wird es freuen, daß ihre Lebensleistung nicht aus der Geschichte ausgeblendet wurde, nur weil sie diese im ungeliebten anderen deutschen Staat erbracht haben.

Bedeschinski hat in historischer Architektur gelesen wie ein guter Porträtist in Gesichtern. Würde und herbe Schönheit hat er entdeckt, wo andere nur Alter, Vernachlässigung, Belanglosigkeit und puren Zweckbau sehen (wollten). Klug gewählte Ausschnitte erfassen Typisches und mitunter sehr Überraschendes. Bilder von gestochener Schärfe verführen zu längerem Betrachten. Wie der Fotograf Kontraste zwischen wortwörtlichem Kohlschwarz und gleißendem Gegenlicht bei Aufnahmen im Kohlebunker oder im Pressensaal einer Brikettfabrik bewältigt, zeugt von technischer Perfektion. Nuancenreiche Grautöne sind sein Markenzeichen. Aus solcher Beherrschung der handwerklichen Mittel erwächst aber nicht durchgängig Fotokunst. Zu fragwürdig ist die Art der Menschendarstellung, sofern der Fotograf Arbeiter überhaupt in seine Bilder einbezogen hat. Die Kumpel sind ihm über all die Jahre befremdlich fremd geblieben. Kultur der Arbeit ohne den arbeitenden Menschen.

Die Handschrift des Architekturfotografen prägt den Band. Industriekultur in ganzer Vielfalt, gar „Ein-Blicke“ in eine eigenständige „Industriekultur im Osten Deutschlands“ vermittelt er nicht.

Ich bezweifle sogar, daß Bedeschinski das tatsächlich angestrebt hat. Der vom Verlag gewählte Titel greift vielmehr zu hoch, scheint mir, und weckt Erwartungen, die der Fotograf selbst bei allem Bemühen gar nicht mehr hätte befriedigen können. Denn mit dem Zusammenbruch des zweiten deutschen Staates, der Bedeschinski, dem Westberliner, überhaupt erst den Zugang zu dieser „Kultur der Arbeit“ erlaubte, kam zugleich auch deren jähes Ende. Das allerdings ist unübersehbar.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 09/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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