Eine Rezension von Erich Preuß

Radtouren für Neugierige

Peter Becker: Mit dem Rad durch Berlin
Haude & Spenersche Verlagsbuchhandlung, Berlin 1994, 128 S., 29 Abb.

Beim Betrachten des Titelbildes glaubt man, das Büchlein empfehle Radtouren an der Ostsee. Ja, Berlin ist nicht nur Stadtlandschaft, sondern bietet den Kontrast von Häuserschluchten, Wasser und Wald. Das findet sich in den 15 originellen Vorschlägen für Radpartien wieder. „Erst Windmühlen, später Mietskasernen“ oder „Eiszeit in Neukölln, Vergnügen an der Spree“. Man bekommt Lust zum Radeln, aber auch auf das Lesen.

Hier kommen alle auf ihre Kosten, der Radfahrer ebenso wie der, der Berlin nicht auf dem Fahrradsattel erkunden möchte. Denn Autor Peter Becker glänzt weniger mit genauen Routenbeschreibungen als mit sachlich-witzigen Erklärungen zu dem, was es rechts und links der Straßen zu sehen gibt. Und nicht nur das! Man erfährt auch, welche Bewandtnis es mit diesem oder jenem Haus hat, warum es so genannt wird oder wer in ihm berühmt wurde. Beispielsweise vergaß Becker angesichts des berühmten Pergamonmuseums nicht, das gegenüberliegende, etwas unauffällige Magnus-Haus zu erwähnen, von dem er weiß, daß es das letzte erhaltene Stadtpalais aus dem 18. Jahrhundert ist. Und er teilt auch mit, wer hier wohnte oder ein und aus ging. Bis zum Schluß bleibt er diesem Trachten nach Perfektion treu. Seine Sprechweise ist lebendig, nur das Stereotyp „Zu DDR-Zeiten“ wirkt ein wenig unbeholfen.

„Zum Ausruhen“ sind vier je bis zu zwei Seiten lange Kapitel überschrieben mit Themen, an denen der Leser nicht vorbeifahren, sondern verweilen soll: die erbärmlichen Straßen und Wege von 1700, die Wasserstadt, die Wohnverhältnisse und natürlich der „Schutzwall“. Auch hier finden wir die Akribie, die das Büchlein zu einem Stadtführer auch für Nicht-Radfahrer macht. Zudem paßt das Format gerade in die Jackentasche. Radfahrer werden wohl nicht während der Fahrt lesen, sondern an bestimmten Punkten blättern.

Jede Route wird mit der Anzahl der zu bewältigenden Kilometer angekündigt und mit einer Fahr-Karte vorbereitet. Würden Sie die vom U-Bahnhof Savignyplatz bis zum U-Bahnhof Alex abradeln wollen, kämen Sie unter anderem am Schloß Charlottenburg vorbei, durchs Brandenburger Tor, an den historischen Gebäuden Unter den Linden entlang, durchs Nikolaiviertel und am Roten Rathaus und der Marienkirche vorbei. Becker verbindet diese Route mit Erläuterungen zu „Machtansprüchen in Gebäuden und Straßen“, das heißt, mit Einblicken in ihre Geschichte und in die Aktionen der jeweils Mächtigen. So ist das Berliner Stadtschloß über Jahrhunderte hin Austragungsort von Machtkämpfen. Dank weniger Zeilen, die Kurfürst Friedrichs Pläne für eine Zwingburg und die als „Berliner Unwillen“ in die Geschichte eingegangene Reaktion von Berliner Bürgern, die den Bauplatz unter Wasser setzten, erwähnen, die darauf folgende Errichtung des Stadtschlosses nach italienischem Vorbild, die Zeremonie für die Märzgefallenen von 1848, die Ausrufung der sozialistischen Republik durch Liebknecht 1918, die Sprengung des Schlosses durch Ulbricht 1948 und den Bau des Palastes der Republik DDR benennen, erhält man nicht nur eine Beziehung zu diesem Fleck, sondern begreift auch, warum der Palast der Republik fallen muß.

Die jeder Tour vorangestellten Skizzen sind Anhaltspunkte, die man sich vorher einprägen sollte. Ansonsten heißt es gerade im Berliner Straßenverkehr, selbst auf Radwegen (Karl-Marx-Allee!): Augen auf im Straßenverkehr! Zwar lenkt der Führer, wo es nur irgend geht, weg von den belebten Straßen, aber selbst der Hackesche Markt, die Oranienburger oder die Auguststraße haben für den Ritter der Pedale ihre Tücken. Die Touren im Randgebiet bieten da weit angenehmere Bedingungen. Für die An- und Rückreise an die Peripherie kann der Berliner oder der Berlin-Gast sich und sein Fahrzeug der S- oder U-Bahn anvertrauen. Die Touren beginnen und enden deshalb auch an den S- und U-Bahn-Stationen.

Der Unsitte, Informationen über geographisch, historisch oder architektonisch Denkwürdiges als Extra-Tips in die Reiseführer einzustreuen, entging auch dieser Reiseführer nicht. Dabei hätten sie genausogut in den laufenden Text gepaßt. Dem Vorwurf schwindender Aktualität entzog sich der Autor mit dem Hinweis auf den weitreichenden Umbau der Hauptstadt, die Bauzäune und die Momentaufnahme. Recht hat er - aber der Radfahrer ist beweglich und kann solche Tücken umrunden.

Im Anhang werden dem Leser Adressen von Tourismus-Büros und Fahrrad-Verleihs serviert, Möglichkeiten zur Kombination der Fahrrad- mit einer Dampferpartie, Rundfahrten und Führungen aufgezählt, und ein Register gibt Suchhilfen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 09/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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