Eine Rezension von Hans Prang

Auf anderen Wegen durch Berlin

Berlin hat schon sehr eigene Einwohner. Sie fühlen sich sicher, Berliner zu sein, sind aber eigentlich viel mehr Charlottenburger, Köpenicker oder Treptower. In ihrem „Kiez“ , da kennen sie sich aus, auch noch im Umkreis ihrer Arbeitsstätte und vielleicht am Ziel von Wochenendspaziergängen. Sehenswürdigkeiten wie Ku'damm, Brandenburger Tor und Unter den Linden, Reichstag oder ähnliche Stätten sind ihnen natürlich vertraut - wie dem Touristen. Aber geht es um andere als eigene Wohnbezirke, ist die Kenntnis häufig recht gering, und überalterte Klischees, vage Vorstellungen, wenn nicht gar Vorurteile ersetzen das Wissen. Da gibt es „Prenzelberger“, die halten Zehlendorf nur für ein nobles Villenviertel, Schönebergern ist Friedrichshain ein dunkles, wenn nicht sogar anrüchiges Quartier rings um den (längst über Ost- zum Hauptbahnhof mutierten) Schlesischen Bahnhof, und Pankower stellen sich unter Hohenschönhausen oft nur langweilige Plattenbauten vor.

Genau so einfarbig aber sind die vielen Facetten hauptstädtischer Stadtlandschaften gerade nicht. Der renommierte Verlag Haude & Spener, dessen Editionen stets zuverlässige Auskünfte übers Berliner Leben geben, beweist das überzeugend mit seinen Berlinischen Reminiszenzen. Von den bisher weit über siebzig Bänden dieser Reihe seien drei herausgehoben, die ebengenannte Stadtbezirke nicht nur dem Nachbarn auf ungewohnten Wegen präsentieren.

Horst Kammrad schlägt in seinen Spaziergängen in Zehlendorf den weiten Bogen vom immer noch kleinstädtisch wirkenden Urkern Zehlendorfs, über Stolpe und Kohlhasenbrück in der waldreichen Umgebung nahe dem Wannsee bis zum modernen Dahlem mit seinen Museen, dem Botanischen Garten und den Neubauten der Freien Universität. Er fädelt am Königsweg wie an einer Perlenkette Zehlendorfer Geschichte und Geschichten auf, erzählt, wie es zur Gründung des Museumsdorfes Düppel kam, und nennt das Haus, in dem die Bombe lagerte, ehe Oberst Graf Stauffenberg damit am 20. Juli 1944 in die Wolfsschanze fuhr.

Ganz anders als das eher geruhsame Zehlendorf erlebt man mit Jan Feustel durch die Spaziergänge in Friedrichshain einen Stadtteil, in dem erhaltene Gebäude meist nur selten von historischer Bedeutung sind, andererseits aber viele Stätten, die mit bedeutenden Personen und Geschehnissen verbunden waren, Krieg und Bomben nicht überdauert haben. Dennoch erfährt man auf Schritt und Tritt des Merkens Wertes, neue Informationen auch an Stellen, die man schon unzählige Male passiert hat. Vom namensgebenden Volkspark Friedrichshain und seinem populären Märchenbrunnen geht es zu Brauereien und ihnen häufig benachbarten Friedhöfen, man sieht die vom „Berliner Spar- und Bauverein“ errichteten Mietshäuser mit anderen Augen, besucht die Stralauer Halbinsel, die zum Bezirk gehört, und erlebt in Boxhagen Berliner Vorstadtatmosphäre pur. Von den Lokalen der Ringvereine und den Ganovenkaschemmen im ehemals verrufenen Bahnhofsviertel, in dem auch Wilhelm Voigt, der legendäre „Hauptmann von Köpenick“, seine Schlafstelle hatte und wo Heinrich Zille seine Kindheit verbrachte, ist nichts geblieben. Erhalten aber sind im Bezirk erstaunlich viele, architektonisch durchaus beachtliche Schulgebäude (meist vom Stadtbaurat Ludwig Hoffmann zwischen 1900 und 1924 projektiert). Ein eigenes Kapitel widmet Feustel der 1,7 km langen, 90 m breiten Allee, die einst Stalins Namen trug, durch ihren Zuckerbäckerstil berühmt wurde und heute als längstes Bauwerk Deutschlands unter Denkmalschutz steht. Dabei hatte dort, so läßt es uns Feustel wissen, alles einmal mit zwei im sachlichen Stil der 20er Jahre erbauten Laubenganghäusern begonnen, die Hans Scharoun und Ludmilla Herzenstein 1949 entworfen hatten.

An Neubauten aus Zeiten vor und nach der Wende ist in dem Stadtbezirk, durch den uns Walter Püschel spazieren läßt, wahrlich kein Mangel. Hohenschönhausen, erst 1985 nach Abnabelung von Weißensee als jüngster Stadtbezirk Berlins entstanden, ist deshalb aber durchaus nicht reizloser als andere Stadtlandschaften. Wer es nicht weiß, wird es nicht vermuten, daß die Wohnhäuser, die sich nach und nach von der Stadt aus in die freie Natur hinausschoben, auf ehemaligen Rieselfeldern stehen (über die Feustel höchst informativ zu berichten weiß). Bedeutender jedoch und der Spaziergänge wert erweisen sich die ehemaligen Dörfer Wartenberg, Falkenberg und Malchow, deren einstige Besitzer - märkische Ritter aus den namhaften Geschlechtern der von Arnim, Röbel, Humboldt, Rochow und so weiter - auch anderswo den Randgebieten Berlins ihre Spuren aufgedrückt haben. Namen aus jüngerer Zeit begegnen dem Spurensucher ebenfalls in Hohenschönhausen. Suermondt und Grosse-Leege zum Beispiel, Geldleute, die mit Grund und Boden spekulierten, oder Friedrich Degner, der sich als Direktor des Hohenschönhausener Straßenbahnunternehmens um eine eigene Hohenschönhausener Straßenbahn verdient machte. Sie gaben Straßen ihren Namen. Bruno Taut baute nahe dem Malchower Weg eine seiner - hier allerdings recht kleinen - Wohnkolonien. Und Feustel verweist auch auf den „alle liebenden“ Erich Mielke, der sich in die Villenkolonie am (künstlichen) Obersee einnistete, dort Gästehäuser und Kommandozentralen für die Stasi und nicht weit davon entfernt für „seinen“ Sportclub Dynamo ein riesiges Sportforum bauen ließ. Schließlich erweiterte er noch das Lager Hohenschönhausen, die Untersuchungshaftanstalt, in der er nach der Wende - hoppla - selbst einsitzen mußte.

Drei Stadtbezirke, drei Verfasser, drei Bände einer Reihe. Der Verlag muß ein ausgezeichnetes Konzept für seine „Berlinischen Reminiszenzen“ haben und seine Autoren strikt anhalten, danach zu arbeiten, sorgsam Quellen zu studieren und tiefschürfende Recherchen einzuholen, um im Ergebnis Werke so gleichbleibend guter Qualität zu erhalten. Ihre Lektüre - bei der dem Leser angeraten sei, einen guten Stadtplan als „Begleitmaterial“ zu nutzen - bereitet ausgesprochenes Vergnügen, der Lesestoff ist im besten Sinne abenteuerlich, steht an Wissensvermittlung dem guter Reiseliteratur kaum nach. Und die „Reminiszenzen“ vermitteln, bei aller lokalen Unterschiedlichkeit, auch eine umfassende Sicht auf das ganze Berlin, von dem der Schriftsteller Jurek Becker einmal sagte: „Ich finde, daß Berlin keine Hauptattraktion hat wie manche andere Städte. Das Aufregende an Berlin ist sozusagen die Stadt als Ganzes, nicht die einzelne Facette, sondern deren Summe.“

Berlinische Reminiszenzen

Horst Kammrad: Spaziergänge durch Zehlendorf
Haude & Spenersche Verlagsbuchhandlung, Berlin 1996, 110 S.

Jan Feustel: Spaziergänge in Friedrichshain
Haude & Spenersche Verlagsbuchhandlung, Berlin 1994, 119 S.

Walter Püschel: Spaziergänge in Hohenschönhausen Haude & Spenersche Verlagsbuchhandlung, Berlin 1995, 110 S.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 09/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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