Eine Rezension von Manfred Knoll

Berlin mit reduziertem Format

Christiane Theiselmann: Berlin. Polyglott-Reiseführer
Polyglott-Verlag, München 1996, 96 S.

Gewiß, es geht um den jüngsten Stadtführer Berlin aus der bekannten, weil vergleichsweise handlichen, wohlfeilen und bislang bei aller Knappheit für gewöhnlich solide informierenden Polyglott-Reiseführer-Reihe. Aber da seine jüngste „komplett aktualisierte Auflage 1996/97“ von den gleichen Veränderungen geprägt ist, wie sie der mit rund 250 Titeln umfänglichen und immer noch wachsenden Reihe insgesamt zuteil werden, so sei zunächst von diesen Veränderungen die Rede.

Ungefähr seit zwei Jahren ist der Polyglott-Verlag dabei, der Edition sukzessive ein neues, zumindest verändertes Gesicht zu geben; äußerlich daran erkennbar, daß die Titelseite eines jeden Bändchens nicht mehr zur Gänze von der jeweiligen Flagge beherrscht wird, sondern nur noch im unteren Drittel; den Rest zieren ein freundliches Farbfoto und der Buchtitel. Auch das Innere der als Routenführer angelegten Paperbacks zeigt sich grafisch und farblich bunter. Die bislang strenge Zweispaltigkeit wird durch Bildleisten aufgelockert; die früher sporadisch eingestreuten Schwarzweiß-Zeichnungen sind einer Fülle von Farbfotos gewichen. (Dies wird zu einer Aufgabe für den Verlag anwachsen, die hoffentlich nicht eines Tages erneut auf den Preis abfärbt: Ein Foto veraltet schneller als eine aufs Wesentliche abstrahierende Zeichnung.) Die ehedem zweifarbigen Kartenskizzen sehen, nun mehrfarbig, nicht schlechthin freundlicher aus, sondern ihr Inhalt erschließt sich dem Auge besser: Farbe besitzt Informationswert.

Ein paar sehr praktische Kleinigkeiten kommen dem Gebrauchswert der Reiseführer zugute. Da wird im - gewissermaßen optisch aufbereiteten - Inhaltsverzeichnis der Bereich jedes Routenverlaufs verdeutlicht: durch ein rotes Rähmchen in einer schematischen Karte des gesamten Reisegebietes. Flattermarken am Vorderschnitt der Büchlein lassen selbst beim schnellen Durchblättern im Nu die gesuchte Route finden. Ein piktogrammartiges Kartenschnipselchen unter jeder Flattermarke verweist auf die Seite, wo sich die dem Text zugehörige Kartenskizze findet. - Was allgemein in Büchern früher etwas hausbacken als „Einführung“ oder „Vorbemerkung“ oder ähnlich firmierte, das heißt hier serienmäßig jetzt „Editorial“. Klingt bedeutend, nur: Der verschreckte Otto Normalverbraucher findet weder im Duden noch im Lexikon Verständnishilfe. Polyglott soll nun nicht verschlimmbessern und etwa per Fußnote auf ein anderes Erzeugnis der Verlagsgruppe, auf ein Langenscheidt-Englischwörterbuch verweisen. Eine pointierte Überschrift wäre dem Leser lieber. In besagtem „Editorial“ wird auch der Autor des Reiseführers, Hauptadressat für Ruhm oder Tadel, kurz vorgestellt. Der Buchumfang hat zugelegt, von jeweils 64 auf 96 Seiten, so daß man schließen darf, daß die reichere Ausstattung nicht auf Kosten des Textanteils erfolgte. Der Buchpreis konnte, wie sich denken läßt, auch nicht der alte bleiben. Daß er sich um drei Mark, von 9,80 auf 12,80 DM „entwickelte“ , bedeutet drei Mark Marktnachteil gegenüber den (nur äußerlich) vergleichbaren Marco-Polo-Reiseführern aus Mairs Geographischem Verlag. Die folgen allerdings einer anderen, einer Art „Tip-Konzeption“, die sich nicht entscheiden kann zwischen Stadt-, Gaststätten-, Hotel- oder Veranstaltungsführer und bei gleichem Buchumfang ein kargeres, dazu oberflächlicheres Informationsangebot liefert. Marco-Polo Berlin macht da keine Ausnahme. Dies am Rande.

Was bietet nun der Polyglott-Reiseführer Berlin „als solcher“? An Einzelheiten zunächst die gewohnten einführenden Abschnitte über Landschaft, Umwelt, Klima und Reisezeit, Bevölkerung, Wirtschaft, eine Geschichtstabelle, Kultur gestern und heute. Nach Polyglott-Tradition finden sich bereits am Anfang auch solche Informationen, die in anderen Reiseführerreihen als „Praktische Tips“ für gewöhnlich erst den letzten Teil des Buches füllen, also Unterkünfte, Gastronomie, Verkehrsmittel, Einkaufstips, Feste und Veranstaltungen, Berlin am Abend. Unerfindlich bleibt da, warum noch ein Abschnitt „Praktische Hinweise von A-Z“ mit Adressen, Bemerkungen zu Kino, Kriminalität, elektronischen Medien, Presseerzeugnissen, Stadtführungen usw. abgetrennt und ans Ende des Bändchens gestellt wurde. Den Hauptteil bilden auf 52 Seiten 12 Routenbeschreibungen, ergänzt mit Kästen, die einzelne Stichworte, wie „Ein ,Klein-Venedig‘“, „Die Berliner Philharmoniker“ oder „Berliner Seele: Zille“, ausführlicher abhandeln.

Insgesamt betrachtet bedeutet der vorliegende Reiseführer Berlin aber keine Sternstunde dieser Edition, die einen Ruf zu verlieren hat; man ist Solideres gewöhnt. Ausgerechnet das sensible Thema Berlin - alte und nun von Geburtswehen gepeinigte neue Hauptstadt, mühsam sich wieder einigendes Gemeinwesen, das eine Generation lang von der scharfen Grenze zweier globaler Machtblöcke zerschnitten war -, das hätte einer angemesseneren Darstellung bedurft. Dem war die Autorin Dr. phil. Christiane Theiselmann (Jahrgang 1961, gebürtige Duisburgerin) nicht gewachsen. Fatal schon der Eindruck, sie schreibe über etwas, das sie nur teilweise kennt. Über das ehemalige Westberlin weiß sie mehr zu sagen (und sie tut es deutlich auch lieber) als über das ehemalige Ostberlin, das sie - fünf Jahre nach dem Fall der Mauer - offensichtlich noch nicht ergründet hat, allenfalls, daß sie öfter mal in Mitte und Prenzlauer Berg weilte und am Müggelsee war. So stimmen die Proportionen der Information weder bei Auswahl noch Qualität noch Umfang. Der Unterschied wird sinnfällig - unverfängliches Beispiel - etwa bei Museen: über Schloß Charlottenburg (West) detailfreudige Auslassungen, über die unstrittig weltberühmten Sammlungen auf der Museumsinsel (Ost) nur das Allgemeinste. Oder bei Erholungsstätten: Die Pfaueninsel wird in allen Details beschrieben, der Tierpark Friedrichsfelde jedoch - ob seiner vorbildlichen und schönen Anlage international von Fachleuten gerühmt, dazu vom Alex in 15 Minuten U-Bahn-Fahrt leicht und schnell erreichbar -, er wird im ganzen Buch nicht mal erwähnt, selbst bei den Tips oder Adressen nicht.

Auch einzelne Angaben liest man mit Stirnrunzeln. Da werden für Berlins Lage im Übergangsklima heiße, trockene Sommer und knackig-kalte Winter genannt (S. 9); das entspräche aber dem Kontinentalklima. Da wird das heutige „Café Bauer“ im Grand Hotel Maritim als der Ort auch des einstigen, legendären Cafés Bauer ausgegeben (S. 39); das lag aber auf der anderen Straßenseite. Da wird Heinrich Zille vom ernst zu nehmenden sozialkritischen Künstler zum Milieu-„Humoristen“ abqualifiziert (S. 70) und Käthe Kollwitz auf Expressionistin eingeschränkt (S. 64 und 78). Da wird behauptet, die Neueröffnung des Schauspielhauses 1984 am Gendarmenmarkt (damals Platz der Akademie) sei unter dem Namen Konzerthaus erfolgt, ein Name, der sich unter den Berlinern nie richtig durchgesetzt habe. Tatsächlich blieb die Umbenennung in „Konzerthaus Berlin“ unseren jüngsten Tagen vorbehalten (nicht durchsetzen scheint allerdings zu stimmen). Da sei die Straße Kietz in Köpenick der Namensgeber für die Fischersiedlung Kietzer Vorstadt (S. 88); umgekehrt: Kietz ist die alte Bezeichnung für Fischersiedlung. Da wird der „Hauptmann von Köpenick“, der Schuster Voigt, zum „nur“ Arbeitslosen verniedlicht (S. 90); in Wahrheit war er ein an der kaiserlich-preußischen Bürokratie Verzweifelnder: „Ohne Arbeit krieg' ich keine Papiere (d. h. Wohnerlaubnis), ohne Papiere keine Arbeit.“ Da wird der Kupfergraben zum Kupfergarten (S. 48), und die Herren vom Marx-Engels-Denkmal, Spree im Rücken, Fernsehturm vor Augen, würden angeblich gen Osten blicken (S. 50). „Was das wohl bedeuten soll?“ fragt dazu die Autorin neckisch-anzüglich.

Das muß auch sie sich fragen lassen. Denn noch fataler als das bisher Genannte ist ihre beinahe durchgängig - höflich gesagt - reservierte Grundhaltung zu dem, was einst östlich der Mauer lag oder lebte. Damit erweist sie dem täglich beschworenen Bemühen, die Mauer in den Köpfen abzutragen, statt sie „höher als vorher“ wachsen zu lassen, einen Bärendienst. Vorurteil und mangelnde Neugier für das Tatsächliche sind schlechte Helfer. Für diesen Reiseführer Berlin hätte es eines souveränen Autors bedurft, der gerade in dieser Frage auf der Höhe der Anforderungen steht. Hier verbietet der begrenzte Platz Ausführlichkeit, so daß (zu) wenige Beispiele genügen müssen. Der Abschnitt „Literatur“ (S. 17 ff.) weiß für das halbe Jahrhundert nach 1945 nur - Pardon für die Kurzfassung - „West“ -Schriftsteller zu nennen. Ausnahmen sind zwei Halbsätze: „... Literatur im Prenzlauer Berg in privaten Wohnungen ...“, an der „... auch die Ausbürgerung Wolf Biermanns nichts zu ändern“ vermochte, sowie der Name Christa Wolf. Der Name Brecht taucht nur bei „Literaturforum im Brecht-Haus“ auf. Kein Wort etwa von Stefan Heym, Heiner Müller, Volker Braun, Sarah Kirsch, Günter Kunert, Johannes Bobrowski, Stefan Hermlin, Jurek Becker, Günther de Bruyn, Franz Fürmann, Erwin Strittmatter, die literarisch alle im Osten Berlins groß geworden sind. Nicht zu reden von Anna Seghers oder Johannes R. Becher (der schon um 1913 als namhafter Expressionist hervortrat); in den Skat gedrückt, bitteschön, Hermann Kant, der freilich in den alten Bundesländern für Schullesestoff gut war. Man muß ja nicht alle mögen. Aber ignorieren? Hier wurde etwas zusammengelesen in des Wortes doppelter Bedeutung.

Nun auch Beispiele für eine im Zitat nur schwer nachvollziehbare Blasiertheit (oder Unwissenheit): Friedrichstadtpalast - „einstiger Revuetempel der sozialistischen Werktätigen“ (S. 33 f.); Staatsoper Unter den Linden „... von westlicher Prägung abgeschnitten ... Barenboim ... wird wieder für frischen Wind im Repertoire sorgen“ (S. 42). Kein Wort vom „damals“ internationalen Renommee beider Häuser nicht nur im Osten, kein Wort, daß Berlin sie auch heute gern vorzeigt. Auffällig ist, daß unstrittig beispielhafte Architektur-Rekonstruktionen vor dem Jahre 1989, wenn schon erwähnt, dann nur anonym gewürdigt werden (Kronprinzenpalais S. 44, Altes Museum S. 46), jedoch bei liegengebliebenen Bauten kein Anonymus bevorzugt wird: „... durch den Zweiten Weltkrieg zur traurigen Ruine und von der DDR leider nur behelfsmäßig gesichert“ (Neues Museum, S. 46). Als ob heute das Problem „Kein Geld, also sparen“ von dieser viel reicheren Bundesrepublik ausgerechnet in Sachen Kultur gemeistert wäre. Letztes Beispiel: Bornierter geht's kaum, wenn es beim durchaus gelobten Hirschhof (S. 77) heißt: „... ist einer Bürgerinitiative zu verdanken, die ... den staatlich verordneten Slogan ,Wir machen den Höfen den Hof‘ aufgriff ...“ Wie sagte die Autorin: „Was das wohl bedeuten soll?“ Als ob es nicht auch in den alten Bundesländern längst Initiativen wie „Das schöne Dorf“ gäbe, die, von wem auch immer „verordnet“ (man kann auch sagen angeregt), zum Nutzen der eigenen Wohnumgebung gern aufgegriffen werden. - So ließe sich fortfahren, aber es macht keinen Spaß.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 09/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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