Eine Rezension von Manfred Knoll

Berlin, am besten zu Fuß

Klaus und Lissi Barisch: Berlin, Stadtführer
Vista Point Verlag, Köln 1992, 240 S.

Die Vista-Point-Reiseführer gehören von ihrer Grundkonzeption her zu den Routenführern, d. h. das beschriebene Reiseziel, ob nun Land, Region oder Stadt, wird nicht flächendeckend erschlossen, sondern mittels „eigens erprobter, optimaler Routenvorschläge“ erkundet, so jedenfalls der im Klappentext formulierte Anspruch des Verlages.

Das gilt auch für den Stadtführer Berlin; das allein unterscheidet ihn aber noch nicht von gleichen Titeln manch anderer Stadtführerreihe. Was dann? Zunächst: Seine Routenbeschreibungen vermeiden weitgehend das Schema „Links sehen Sie ... rechts sehen Sie ...“ und atemlosen Telegrammstil. Vielmehr bieten sie Fakten unterhaltsam-plaudernd an, sie beziehen Beobachtungen und Histörchen ein und gewähren außer der Information über Sichtbares der Stadt und dessen Hintergründe auch ein Lesevergnügen. Das geht bis zu solchen „Ausgrabungen“, daß Westberlins erster Regierender Bürgermeister, Ernst Reuter („Schaut auf diese Stadt!“), wolgadeutscher Kommissar unter Lenin und Stalin, später in Deutschland KPD-Generalsekretär und dann SPD-Abgeordneter war, in der Emigration zwölf Jahre als Regierungsberater in der Türkei wirkte und 1946 als quasi „Berlins erster Türke“ zurückkam. Oder daß Bundeskanzler Kohl die Öffnung des Brandenburger Tors durch die DDR um fünf Wochen auf den 22. Dezember 1989 verschieben ließ. Am anfänglich vorgesehenen 16. November wäre er verhindert gewesen, und Außenminister Genscher - just mit seinem englischen Amtskollegen Hurd in Berlin - hätte ihm die Show gestohlen. Das Lesevergnügen wird auch dadurch befördert, daß Humor und polemische Gedankengänge nicht fehlen; man freut sich immer, wenn auch der Autor eines Reiseführers eine nachvollziehbare Meinung hat. Und sie äußert.

Es werden fünf Routen durch Berlin beschrieben und jeweils am Kapitelbeginn in einem Stadtplanausschnitt übersichtlich markiert. Sie sind überlegt gewählt, wie auch die Routentitel verraten, und führen den Besucher zu Alltag und Historie Berlins, dabei stets zu Wesentlichem, das einerseits das heutige Antlitz der Stadt bestimmt, andererseits Einblick in ihre Entwicklung bis in die Gegenwart ermöglicht, seien die nun siedlungs-, wirtschafts-, verkehrs-, kulturgeschichtlicher oder politischer Natur. Route 1, „Vom Fischerdorf zu Preußens Gloria“ , will das alte und das imperiale Berlin bewußt machen: vom Reichstag über die Linden, durch Nikolaiviertel und Fischerinsel zum Märkischen Museum. Route 2, „Kunst - KaDeWe - Ku'damm“ , widmet sich den „drei ,westlichen‘ K“ und geht vom Hansaviertel durch den Tiergarten zum Martin-Gropius-Bau und weiter über Kulturforum, Landwehrkanal und Tauentzien zum Kurfürstendamm. Route 3, „Zerstörte Viertel im Aufbruch“ , will Ideale und Marktwirtschaft beleuchten: vom Mehringplatz bis zum Gendarmenmarkt und über Friedrichstraße und Oranienburger Straße zum ehemaligen Scheunenviertel am Rosa-Luxemburg-Platz. Route 4 führt „Von Kiez zu Kiez“ mit Blick auf Stadtplanung zwischen Abriß und Restaurierung: vom Kreuzberg längs der Hochbahn Linie 1 zu Oberbaumbrücke und East Side Gallery (in der Karte irreführend eingetragen), weiter über Karl-Marx-Allee und Alexanderplatz zum Prenzlauer Berg. Route 5 endlich ist die reizvolle, wenngleich „Sie sehen links Sie sehen rechts“ -Tour per Schiff „Unter den Brücken, auf den Kanälen Berlins“, die vom Wasser aus Architektur und Stadtbilder erschließt.

Das Buch erschöpft sich nicht in den Routenbeschreibungen; sie machen nur gut die Hälfte aus und korrespondieren mit mehreren Einführungsbeiträgen mit keineswegs zufälligen Themen. Im Einstieg - „Berlin ist wieder Berlin“ - geht es um die Hauptstadt damals, die Hauptstadt heute, zwischendurch „geteilteste Stadt der Welt“, es geht um Traditionen und Nimbus, Licht und Schatten, Probleme und Hoffnungen. Drei Seiten über „Der Reichstag - 23 Jahre Gerangel um Grundstück, Planung, Ausführung“ - machen nicht 1894 schon Schluß, sondern widmen angemessenerweise seiner Rolle in den Jahren 1933, 1945 sowie dem erneuten Gerangel um seinen Umbau nach der Wende gebührende Aufmerksamkeit. Im Kapitel „Die Berliner Mauer - Symbol des kalten Krieges“ sind Hintergründe und Fakten vom Anfang bis zum Ende dieses „welthistorisch einzigartigen“ und keineswegs rein deutschen Bauwerks zusammengefaßt. Ein Kapitel rückt verdienstvoll die Frage „Was wäre Berlin ohne die Juden?“ ins Bewußtsein. Da wird an vielen Beispielen beeindruckend der Satz bewiesen: „... nirgendwo sonst in Europa war der Beitrag der jüdischen Bevölkerung zur allgemeinen Entwicklung und Kultur so vielseitig und wirkungsmächtig wie in Berlin“ . Da paradieren im Dutzend Namen wie Albert Einstein, Felix Mendelssohn Bartholdy, Giacomo Meyerbeer, Max Reinhardt, Erwin Piscator, Max Liebermann, Marc Chagall, Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky, Alfred Kerr, Friedrich Hollaender ... Ein Kapitel „Chronik zur Geschichte Berlins“ kümmert nicht als knochige Geschichtstabelle dahin, sondern fügt mit zwar lapidaren, doch lesefreundlichen Aussagesätzen ein buntes Mosaik der Stadtgeschichte zusammen. Ein Zitat dient als Motto: „So dunkel die Anfänge Berlins sind, eines ist klar: der Urberliner ist nicht in Berlin geboren!“

Der Beitrag „Kurfürsten, Könige, Kaiser - Die Hohenzollern in Berlin“ dürfte mitnichten als Huldigung der Monarchie gemeint sein, eher als Ariadnefaden im Labyrinth all der Friedrichs, Wilhelms und Friedrich-Wilhelms.

Ein Berlin-Aufenthalt ohne Besuch Potsdams mit Sanssouci hieße ein Erlebnis verschenken. So bietet denn der Stadtführer als zusätzliche 6. Route den „Spaziergang im Park von Schloß Sanssouci - Ein Ausflug nach Potsdam“ an. „Spaziergang“ verniedlicht einigermaßen, was man da als eher tüchtige Wanderung absolvieren muß, so man der Routenskizze folgt. Sanssouci ist nun mal weitläufig und an allen Ecken sehenswert.

Im letzten Viertel des Buches dominieren, wie üblich, die „Praktischen Hinweise“, hier Serviceteil genannt. Sie verzeichnen u. a. Hotels, Gastronomie, Nachtleben, Kulturstätten, Einkaufsstätten usw., geben Tips für Behinderte. Und eine Sprachhilfe für das Berlinische. Eine Spezialität sind die „Vista Points - Architektur/Kirchen/Kunst/Museen“, eine alphabetische Zusammenstellung von Sehenswürdigkeiten mit Anschrift, Öffnungszeiten und kurzer Erläuterung; dies gibt Handhabe, sich Routen nach eigenem Gusto zusammenzustellen.

Eine Stadt wird stark durch Architektur geprägt. Das spiegelt sich in diesem Stadtführer um so nachhaltiger wider, als die Co-Autorin (aus Köln) in Berlin Architektur studiert hat. Der Co-Autor (geborener Berliner, doch Wahl-Kölner) studierte in Köln Theaterwissenschaften und Soziologie. Eine gute Ergänzung, so blieb die Gefahr gebannt, daß das Buch ein reiner Architekturführer wird. Man gewinnt den Eindruck, daß beide Autoren Berlin kennen, zumindest gute Rechercheure waren. Ausnahmen bestätigen, wie meist, die Regel. Da wird mit Verweis auf den Volksmund der Brunnen von Fritz Kühn am Strausberger Platz als „Nuttenschnalle“ bezeichnet. Tatsächlich war es der Womacka-Brunnen auf dem Alex, der gleich 1969 den Spitznamen „Nuttenbrosche“ weghatte ob seiner rosettenverzierten bunten Emailumrandung und der großen farbigen Glasbrocken in kupfergoldenen Fassungen zwischen den 17 sprudelnden, spiralig zur Mitte hin wachsenden „Gold“ -Säulen. Apropos Alex: Mit den Autoren geht der Architekt durch, wenn sie überraschend rigide meinen: „Bis auf die beiden Hochhäuser des Architekten Peter Behrens ... lohnt sich eine Besichtigung des Alexanderplatzes nicht ...“ (S. 156). Da haben sie wohl die geradezu charakteristische Siesta-Stimmung verpaßt, die bei schönem Wetter Einheimische wie Gäste zur Rast an der „Nuttenbrosche“ verleitet, und auch den heiter-gelassenen, intimeren Trubel dort, der jenem rings um die Gedächtniskirche deutlich nicht gleicht. Stadt - das sind nicht nur die Bauwerke. Sachlich voll daneben geht auch die Behauptung, durch betontes Berlinern hätten sich ehedem die Ostberliner als Hauptstädter ausweisen „und sich so auch bewußt gegen ihre Landsleute in der sozialistischen Provinz abgrenzen“ wollen (S. 225). Die Distanz zwischen „Provinz“ und der (von ihr geschmähten, weil bevorzugt geförderten) Hauptstadt erwuchs aber in umgekehrter Richtung. - Wenn es in der Chronik heißt: „Mit Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz erscheint 1929 der erste große Berlin-Roman“ (S. 26), dann fragt man sich: Was ist mit Willibald Alexis' Der Roland von Berlin? Was mit den Romanen Theodor Fontanes? - Schade, daß die Autoren sich ausgerechnet beim Märkischen Museum, dem regionalgeschichtlichen Museum von Berlin/Brandenburg, entgehen ließen, es als Baukuriosum kenntlich zu machen: Seine einzelnen Gebäudeteile sind Zitate verschiedener Stilformen an märkischen Bauwerken: Turm der Bischofsburg in Wittstock, Giebel von St. Katharinen in Brandenburg nebst Rolandsfigur, märkische Backsteinkirchen mit Feldsteinsockel, Renaissancebauten. Schade auch, daß der einstige Spitzname „Tischkasten“ für das heutige Berliner Congreßcenter an der Jannowitzbrücke nicht erklärt wird (S. 171); so bleibt diese Anspielung auf Harry Tisch, den damals hier residierenden DDR-Gewerkschaftschef, nur Insidern verständlich, und die kennen sie schon.

Die uns vom Vista-Point-Verlag überlassene Ausgabe des Stadtführers Berlin von 1992 macht - nach vier Jahren - unbeabsichtigt deutlich, wie schnell sich eine Stadt verändert, zumal eine, die sich auf ihre erneute Hauptstadtfunktion vorbereitet. Da wird nun die Friedrichwerdersche Kirche von Schinkel nicht mehr vom Hochhausriegel des ehemaligen DDR-Außenministeriums fast erschlagen (S. 62), der ist weg; da hat die Hochbahn Linie 1 nicht mehr am Schlesischen Tor Endstation (S. 150), sondern im angestammten Bahnhof Warschauer Straße, und die Oberbaumbrücke ist nicht mehr zerstört, sondern restauriert und ein Schmuckstück; und die alte Bolle-Meierei am Spreebogen (S. 176) dient nun als Domizil für Hotel, Gaststätten usw. und hat von Bolle nur noch den Namen. Eine heute aktualisierte Neuauflage des Stadtführers Berlin wird nach wiederum erst vier Jahren ähnliche Altersrunzeln haben ...


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 09/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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