Wiedergelesen von Irene Knoll

Paul Schallück: Ankunft null Uhr zwölf

Literarischer Verlag Braun, Köln 1977, 402 S.

Paul Schallück ist Jahrgang 1922. Er ist nur wenige Jahre jünger als Lenz, Böll, Bachmann, Grass, Rühmkorf. Er teilt mit ihnen wesentliche Erfahrungen, das Erlebnis von Faschismus und Krieg, die politischen Auseinandersetzungen der Nachkriegsjahre, die Regenerierung der alten Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland unter Adenauer.

Schallück wurde 1944 kriegsverletzt und war bis 1946 in französischer und amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Er hat nach dem Krieg Philosophie, Germanistik, Geschichte und Theaterwissenschaften studiert. Er hat Theaterkritiken und Essays geschrieben und sich im Hörspiel betätigt, das nach dem Krieg seine große Aufnahmefähigkeit für das literarische Wort entfaltete.

Schallück gehörte zur Gruppe 47. Er hat vier Romane geschrieben. Die „Themen seiner Romane zielen deutlich und treffend auf zentrale Zeitprobleme“ , wird über ihn in Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart gesagt. 1951 erschien sein erster Roman Wenn man aufhören könnte zu lügen, 1953 Ankunft null Uhr zwölf.

Es ist schwer, diesen Büchern aus heutiger Sicht, aber auch mit dem Blick auf die junge Literatur jener Jahre in der Bundesrepublik, gerecht zu werden. Schallücks außerordentlich anspruchslose Darstellungsweise verstellt den Zugang zum Thema. Er ist im Grunde kein Erzähler, sondern ein Betrachter und Argumentierer. Zwar ist der Moralist, der den den Verhältnissen innewohnenden Zwang attackiert, im Buch Wenn man aufhören könnte zu lügen erkennbar, doch wird diese Tendenz durch die Unbeholfenheit der Dialoge, die die Jugendlichen führen, eingeengt. Die Komplexität des Themas kann in den Gesprächen der jungen Leute nicht nur nicht erfaßt werden, sondern mißrät zur kleinbürgerlichen Optik. Schallück benutzt eine grobe, ja holprige Alltagssprache, in der tiefere Bedeutungsschichten nicht zu transportieren sind. Die Lüge, man erwartet bei diesem Titel Lebenslüge, Gesellschaftslüge, tritt als die Notlüge eines Mädchens, vielmehr eigentlich die verschwiegene Tatsache in Erscheinung, daß sie für Geld mit einem anderen Mann zusammen ist, da sie ihre Mutter finanziell unterstützen muß. Man folgt irritiert dem Gang der Dinge, einzig durch innere Monologe der Hauptperson, des Studenten Thomas, zu intensiverem Interesse angeregt. Die aber übersteigen wiederum den Horizont der Figur. Die handelnden Personen sind Studenten, junge Leute, die von der Frage nach Sein oder Nichtsein mehr oder weniger affiziert sind. In diesem Zusammenhang hat das Buch einen gewissen soziologischen Aussagewert. Denn obwohl oder weil Schallück sein Thema nicht bewältigen konnte, da er offensichtlich von zu vielen Sachverhalten oder Beobachtungen bedrängt war, die er ins Wort fassen wollte, offenbart sich dem sensiblen Leser die Orientierungslosigkeit der jungen Leute, ihre Bindungslosigkeit und hilflose Aufsässigkeit in einer Gesellschaft, die noch am Werteverfall der Kriegsjahre leidet.

Insofern ist Schallücks Stimme durchaus der „jungen deutschen Literatur der Moderne“ zuzurechnen, eine Charakteristik, die Walter Jens über die Prosaliteratur der fünfziger traf, in denen die jungen westdeutschen Autoren begannen, ihre eignen Gesellschaftserfahrungen zu gestalten, und in der Auseinandersetzung mit zeitbezogenen Gegenständen wie mit Einflüssen aus anderen Literaturen die eigene Sprache suchten. In seinem zweiten Roman versuchte Schallück, sich von der platt realistischen Gestaltungsweise des ersten Buches abzusetzen. Ankunft null Uhr zwölf erscheint als eine Publikation, der noch das experimentelle Stadium anhaftet. Es ist ein Familienroman. Ein verwitweter Vater mehrerer erwachsener Kinder versucht, an einem verregneten Abend alle Töchter und Söhne zu Hause zu versammeln, weil die jüngste Tochter schwer erkrankt ist. Das undeutliche Motiv, die Anwesenheit der Familie könnte ihre Lebenskraft stärken, wird erst gegen Ende deutlich erklärt, als der Vater selbst die Hoffnung aufgibt. Auf den langen Wegen des alten Mannes wird es bis zur Lächerlichkeit der Figur strapaziert.

Schallück schuf sich mit dieser Ausgangssituation die Möglichkeit, Erzähltechniken wie Synchronität der Ereignisse und Rückblenden auszuprobieren. Die Struktur ist der Dramaturgie des Hörspiels verwandt, Kritiker meinten allerdings, in der Struktur des Romans das Vorbild Dos Passos' zu erkennen. Wie auch immer, die um die Vermittlung von Gleichzeitigkeit bemühte Darstellung wirkt befremdlich, ja störend und aufgesetzt, und zwar um so mehr, als die Erzählung selbst außerordentlich retardierend vor sich geht. Es gibt nicht ein Moment im Handlungsverlauf, das das Nebeneinander, die Gleichzeitigkeit von Ereignissen zu einer übergreifenden Bedeutung oder Einsicht vertieft hätte. Rückblenden, die in auktorialer Darstellung aus der jeweiligen Situation abgeleitet werden, bilden in sich geschlossene kurze Erzählungen, die das Bild der betreffenden Person runden. So entstehen Erzählkreise innerhalb der Rahmenkonstruktion. Darunter gibt es zwei Geschichten, Erlebnisse der Töchter Luise und Hilde, die berühren, aber nicht recht zu den Personen, die man bereits kennengelernt hat, zu passen scheinen. Immerhin sind all diese Rückblenden geeignet, Kriegs- und Nachkriegsjahre heraufzuholen und in das unmittelbare Nebeneinander des westdeutschen und ostdeutschen Staates zu blenden. Zunehmend leidet der Fortgang der Erzählung unter den Zwängen, die sich der Autor mit seiner Montagetechnik auferlegt hat. Das wird besonders kraß, wenn er am Schluß das Konstrukt wieder abbauen muß.

Aus der Anteilnahme fordernden Ausgangssituation des Buches, die ja durchaus appellatorisch ist, folgt im Grunde nichts.

In keiner Situation gewinnt der Autor aus der Ambivalenz von Tod und Leben Spannung, wird ein Engagement deutlich, das über die platte Widerspiegelung mehr oder weniger simplen, von der Notdurft des Alltags bestimmten Denkens und Verhaltens hinausginge.

Der Literarische Verlag Braun hat in eine Folge von Rückblicken auf die Nachkriegsliteratur Schallücks Bücher aufgenommen. In diesem literarhistorischen Zusammenhang hat Ankunft null Uhr zwölf seinen Platz, sagt das Buch doch zumindest etwas aus über die Schwierigkeiten, den empfundenen und gewußten Konflikten der 50er-Jahre-Schreibweise adäquaten Ausdruck geben zu können.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 09/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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