Wiedergelesen von Helmut Fickelscherer

Hans Lorbeer: Die Sieben ist eine gute Zahl

Mitteldeutscher Verlag, Halle 1953, 346 S.

Hans Lorbeer (1901-1973), sozialistischer Autor und Mitbegründer des „Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller“ , war von 1945 bis 1950 Bürgermeister der Industriegemeinde Piesteritz, bekannt durch die Stickstoffwerke. Sicher hat er in dieser Zeit Einblicke in den Wiederaufbau und die Produktionsschwierigkeiten dieser volkswirtschaftlich wichtigen Werke, die vor allem auch Dünger für die Landwirtschaft produzieren, gewonnen. So ist es nur folgerichtig, daß sein Anfang der fünfziger Jahre entstandener Betriebsroman in einem allerdings fiktiven Chemiewerk an der Elbe spielt.

Der Text beginnt mit einer unter der lakonischen Überschrift „Die Menschen“ zusammengestellten Liste von 28 handlungstragenden Personen, was ein wenig vor der Lektüre zurückschrecken läßt. Die Handlung fängt dann zwar auch nicht gerade zügig an, es kommt aber doch bald zu einem Zwischenfall. Mit der Sieben aus dem Buchtitel ist der Karbidofen Nummer 7 gemeint, eine Neukonstruktion, die eingeweiht werden soll. Werkdirektor Schattenberg hält eine längere Rede und erklärt (für den Leser) erst einmal, worum es in einem Stickstoffwerk geht: „Siliziumkarbid, Siliziumkarborundum, Nitrophoska, Trinatriumphosphat, Stiphoska, Salpetersäure ... eine stolze Reihe von Erfolgen ist unser Beitrag zum wirtschaftlichen Aufbau ... Am Ende des Fünfjahrplans müssen wir die Sieger dieser Welt sein!“ Danach spricht der BGLer, dann der Parteisekretär: „Wir werden noch manchen Ofen erbauen ... Und immer besser werden sie sein, denn unsere Erfahrung bauen wir mit hinein. Auch unsere Begeisterung, unsere neue Lebensauffassung. An diesen Öfen werden die lauernden Imperialisten mit ihren Eroberungskriegen verdorren ...“

Solche starken Worte entsprechen durchaus dem Zeitgeist. Schon in den Zweijahresplan, der die Wirtschaft auf das Niveau der Vorkriegsproduktion bringen sollte (was er sicher zumindest statistisch irgendwie auch geschafft hat), wurden große Hoffnungen gesetzt, und der erste Fünfjahrplan war ebenfalls noch nicht zum Planungskrampf seiner Nachfolger verkommen.

Nun steigt die Festgemeinde auf die Deckbühne des Ofens, ein Ingenieur hält einen Vortrag über dessen technischen Aufbau, dann spricht der Regulierer des neuen Ofens: „Er wird uns viel Brot schaffen! Gewiß, wir werden von ihm nur Karbid erhalten, aber hinter dem Karbid, da liegt das Brot für uns ..., nicht nur Brot allein, es ist Kleidung, Wohnung, eine Erholungsreise, Theater, Musik, gute, wahre Literatur in schönen Büchern, ist die Universität für unsere Kinder, ist der Frieden! ...“

Endlich gibt der Betriebselektriker das Startzeichen, und Direktor Schattenberg läßt die Betriebssirene heulen. Der Ofen beginnt zu arbeiten. Doch plötzlich gibt es Stichflammen und einige kleine Explosionen - ein Kurzschluß legt den Ofen lahm. Betroffenheit herrscht unter den Versammelten, die bedrückt von der Ofenbühne abgehen.

Zwei von ihnen haben beim Leser einen schlechten Eindruck hinterlassen: Das ist der Chemiker Dr. Jan Zunderlein, der recht überheblich „nicht immer einverstanden“ ist mit der Politik und ihrer Umsetzung im Werk. Und dann die Frau des Direktors, die sich zum Festakt unangemessen aufgetakelt hat - was eigentlich unglaubwürdig ist, da sie selbst als Chemikerin gearbeitet hat und das staubige Werk zur Genüge kennt. Aber sie ist eben eine Bürgerliche und hat einen Bruder in Westberlin, der ihr Kosmetika schickt, bei denen „man etwas von der Kultur der amerikanischen Dame“ spürt. Dagegen ist das neben Kopfschmerztabletten als Konsumgut im Werk hergestellte Haarwasser für sie nichts wert.

Direktor Schattenberg hat es also nicht leicht mit seiner Frau, und dabei hat er doch schon Schwierigkeiten genug. Nach dem Krieg wurde er als einer der wenigen Fachleute aus dem ehemaligen IG-Farben-Betrieb, die nicht in der NSDAP waren, als Werkdirektor eingesetzt, ist nun Genosse und gibt sich alle Mühe. Aber jetzt stellt sich heraus, daß er wenig Kontakt mit der Arbeiterklasse hat. Er administriert, anstatt mit den Ofenarbeitern über den Umgang mit dem Ofen 7 zu reden. Zwar war der Kurzschluß die Missetat von Saboteuren, aber auch nach Beseitigung der Schäden gibt es immer wieder Schwierigkeiten mit Ofen 7, die zum Teil aus Bedienungsfehlern, zum Teil aus technischen Mängeln resultieren; z. B. sind die eingesetzten Elektroden ungeeignet, aber andere zu verwenden ist sehr teuer und würde den Produktionsprozeß erneut unterbrechen.

Harte Planvorgaben und heftige Auseinandersetzungen mit dem sektiererischen Kaufmännischen Leiter Arno Flaniger, der später als ehemaliger Agent der faschistischen Polizei entlarvt wird, führen bei Schattenberg zu einem Zusammenbruch. Die Genossen helfen ihm auf, und er erkennt seine Fehler, geht auf die Arbeiter zu und ruft zu Aktionen für den Ofen 7 auf. Es werden Brigaden gebildet, von denen einige sogar nach der Kowaljow-Methode arbeiten, also die Arbeitsweise der Bestarbeiter analysieren und verbreiten. Die Erlöse aus freiwilligen Sonderschichten werden den Umbau des Ofens 7 mit geeigneten Elektroden ermöglichen, ohne das Betriebsbudget zu belasten. Weiteren Sabotageakten ist ebenfalls vorgebeugt. Zwar konnte Dr. Zunderlein, der Drahtzieher der Anschläge, nach dem Westen flüchten, seine äußerst dilettantisch vorgehenden Handlanger jedoch, die auch Flugblätter und Westzeitungen verbreiteten, sind festgenommen worden. Dabei ist sich der Autor durchaus bewußt, welche drakonischen Strafen ihnen drohen: Ein junger Mitläufer der Agenten erhängt sich in der Zelle aus Angst vor der Strafe.

Eine ideologische Gefährdung Direktor Schattenbergs ist ebenfalls endgültig beseitigt; seine wankelmütige Frau hat ihn via Westberlin verlassen, und seine ansehnliche Sekretärin steht zum Trost bereit, sie, die ihn bereits mit den Worten: „Der Mensch ist ja die Partei. Und die Partei ist der Mensch“ auf den rechten Weg gebracht hat.

So können alle zum guten Schluß unbeschwert die Hymne der Deutschen Demokratischen Republik singen. Es ist eine Zeit, in der der Text der Nationalhymne noch gesungen werden darf, eine Zeit des Aufbruchs. Und in dieser Hinsicht ist Lorbeers Buch ein Zeitzeugnis. Der Krieg lag erst wenige Jahre zurück, mancher fühlte sich noch entwurzelt, die neue Ideologie faßte erst allmählich Fuß.

Durchaus nachvollziehbar der Aufbauwille, auch die Bereitschaft, n o c h zurückzustecken, was die persönlichen Belange betrifft: „Das Große und Ganze aber, das ist in Ordnung. Und darauf kommt es doch an, nicht auf unsere kleinen Sorgen und Wünsche!“

Aber solchem „Nachkriegskommunismus“ folgte keine echte „Neue Ökonomische Politik“ . Fehlplanungen, mangelnde Investitionen, Flickschusterei und Verzettelung bei der Produktpalette waren auch weiterhin, mehr oder weniger sichtbar, ein wesentliches Merkmal der DDR-Wirtschaft. Die Kinderkrankheiten, wie in Lorbeers Buch geschildert, wurden zur chronischen Krankheit. Und anfängliche Begeisterung und Opferbereitschaft schlugen um in Gleichgültigkeit. Schuld daran war wohl auch ein seltsames Demokratieverständnis. „Demokratie heißt nicht nur, den Weg freigeben, sondern mitmarschieren“ , sagt ein Ofenarbeiter. Ein paar Seiten weiter ist von „Demokratie der Arbeit“ die Rede, und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, Demokratie sei auch so eine Art „Transmissionsriemen“ wie die sozialistischen Gewerkschaften.

Es ist schwierig, einem Buch mit so vielen handelnden Personen umfassend gerecht zu werden. Da wird geliebt und gehaßt, gefeiert und getrunken, Paare finden zusammen, es wird viel diskutiert, aber auch hart gearbeitet, Wilhelm Pieck besucht das Werk, und die FDJler schmettern frohe Lieder. Die 28 Figuren, die verschiedene Stufen der Bewußtwerdung des Neuen dokumentieren, sind Gestalten einer „neue(n) fortschrittliche(n) Literatur, die Demokratie, Arbeit und Frieden besingt“ . Aber merkwürdig: Ein paar Tage nach der Lektüre versinken die Einzelschicksale allmählich im Staub des Chemiewerks.

Hans Lorbeer hat mit der Reformations- und Bauernkriegs-Trilogie Die Rebellen von Wittenberg bleibende Literatur geschaffen, über seinen Roman Die Sieben ist eine gute Zahl wird sich wohl endgültig der Vorhang des Vergessens breiten. 1953 starb Stalin, und es kam der 17. Juni, das Vertrauen in das Neue war erschüttert, die Zeit des Aufbruchs vorbei.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 09/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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