Wiedergelesen von Jan Knopf

Bertolt Brecht: Buckower Elegien

Versuche, Heft 13 (Versuche 31), Berlin/West

Wiedergelesen! Was? Sechs harmlose, zweifellos schöne und meist kurze Gedichte, eines über den Garten und wie man ihn weise anlegt, eines über alte Zeiten, ein weiteres über Rauch, der vom Dach steigt, noch eines über Rudern (eigentlich Paddeln) und Gespräche, sprich: Harmonie, eines gegen Harmonie - da ist immerhin vom preußischen Adler die Rede -, und schließlich noch ein Gedicht über den Stalingrader Staudamm, eine Eloge auf den angeblichen Triumph der Technik, an den wir heute nicht mehr glauben.

Die „Buckower Elegien“ gibt es eigentlich nicht; die bibliographische Angabe besagt es bereits. Zwar verheißt das Titelblatt des grauen Hefts der „Versuche“ - der Schriftenreihe, die Brecht 1930 beim Kiepenheuer Verlag begonnen hatte und nach dem Krieg bei Suhrkamp fortsetzte - eine gleichlautende Sammlung, die geneigte Leserin jedoch muß aus der Vorbemerkung erfahren: „Die Buckower Elegien, von denen sechs hier abgedruckt sind, gehören ebenfalls, wie u. a. der im Heft voranstehende Aufsatz ,Weite und Vielfalt der realistischen Schreibweise‘ zum 23. Versuch. Sie wurden im Sommer 1953 geschrieben.“ Auch der Vorabdruck in „Sinn und Form“ (1953, Heft 6) umfaßt nur diese sechs Gedichte in derselben Anordnung, hat den lapidaren Titel „Gedichte“ - ohne weiteren Kommentar. Sechs Gedichte - Der „Blumengarten“, „Gewohnheiten, noch immer“, „Rudern, Gespräche“, „Der Rauch“, „Heißer Tag“, „Bei der Lektüre eines sowjetischen Buches“ - und ist keine Sammlung.

Eine Nachsuche im Bertolt-Brecht-Archiv fördert ebenfalls keine Anthologie zutage, die dennoch inzwischen zu den bekanntesten und meistinterpretierten von Brecht gehört. Drei maßgebliche Mappen sind nachweisbar, die die Gedichte in ziemlich beliebiger Reihenfolge, teils sich überschneidend, teils Unikate enthaltend - überliefern. Ich habe nach diesem Material 1985 im Suhrkamp Verlag eine Ausgabe herausgebracht, mit der ich versucht habe, die „authentische“ Sammlung zu rekonstruieren. Das gelang, wie ich meine, durchaus. Aber eine Rekonstruktion ist nach den „heiligen“ Richtlinien der Editionswissenschaft strengstens verboten, auch wenn sie nützliche und vor allem lesbare Ergebnisse zur Folge hat. Bei der Edition der nicht vorhandenen Sammlung für die „Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe“ der Werke Brechts in 30 Bänden mußte ich nach den gültigen Regeln verfahren. Herausgekommen ist ein elender Torso, aber keine lesbare Anthologie (aber sie ist philologisch „richtig“ und damit „verbindlich“). Da ich die Sammlung trotzdem noch zu retten suchte, habe ich eine Zeitzeugin aufgesucht, Brechts Mitarbeiterin und Freundin Käthe Rülicke-Weiler. Sie hatte mit den Buckower Elegien überhaupt keine Probleme. Befragt über die Anordnung der Gedichte, setzte sie sich wortlos an die Schreibmaschine, schrieb aus dem Kopf die für sie gültige Zusammenstellung kurzerhand nieder und übergab sie mir mit einem triumphierenden und zugleich freundlichen Lächeln: „So hat sie Brecht immer für gültig angesehen. Sie begann mit „Der Blumengarten“ und endete mit „Bei der Lektüre eines sowjetischen Buches“. Punktum. Jedoch, so war's auch schon bei den ausgewählten sechs Gedichten der Drucke. Was machen? Ignorieren. Die Editionswissenschaft besteht auf der Überlieferung und räumt den Zeitzeugen keine Rechte ein. Also blieb mir nur der Torso. Der kurze Exkurs in die Editionen ist notwendig, um die Leser zu informieren, daß ich über etwas schreibe, was es damals gar nicht gab. Und entsprechend gab es zu den Publikationen von 1953 und 1954 keine nennenswerten Reaktionen, abgesehen davon, daß das Eingangsgedicht „Der Blumengarten“ auf Rückzug schließen ließ und auf Idylle. Wer das Anwesen der Brechts in Buckow einmal gesehen hat, wird einer solchen Deutung sofort zustimmen: Die (zwei) großen Häuser unter Bäumen am See, vom Dach steigt Rauch, und da er nicht fehlt, wie trostvoll sind Häuser, Bäume und See.

Brecht hatte zwar „Buckower Elegien“ angekündigt, sie als Ganzes aber vorsätzlich zurückgehalten. Sowohl aus seinen Briefen als auch aus Elisabeth Hauptmanns Nachlaß wissen wir, daß er Gedichte der Sammlung nicht publiziert haben wollte. Die Texte der übrigen Gedichte wurden so erst von Elisabeth Hauptmann aus dem Nachlaß ediert, wobei sie immer noch zwei Gedichte zurückhielt: „Die neue Mundart“ und „Lebensmittel zum Zweck“. Sie erscheinen erst in den Supplement-Bänden der „Werkausgabe“ in der Edition Suhrkamp. „Die neue Mundart“ handelt vom „Kaderwelsch“ - ein Neologismus Brechts in Anlehnung an „Kauderwelsch“ -, das die DDR-Funktionäre dem Volk anbieten, anstatt sie ausreichend mit Lebensmitteln zu versorgen („Dem, der Kaderwelsch hört / Vergeht das Essen. / Dem, der es spricht / Vergeht das Hören“), und „Lebensmittel zum Zweck“ mokiert sich satirisch über die Verteilung von Lebensmittel-Paketen an die „ostzonale“ Bevölkerung durch die Amerikaner. Die DDR-Bevölkerung folgte dem Lockruf in Scharen und ging erneut - so Brechts böse Interpretation, wie schon zu Zeiten der Nazis („Der Kälbermarsch“) - in die Falle („Wenn das Kalb vernachlässigt ist / Drängt es zu jeder schmeichelnden Hand, auch / Der Hand des Metzgers“).

Wenn ich wiederlese, um die damaligen Zusammenhänge rekonstruieren zu können, bin ich folglich auf die wenigen Andeutungen Brechts selbst angewiesen. Die Elegien gehören zum 23. Versuch, und im Heft ist erstmals ein Aufsatz von 1938 (!) abgedruckt, der zum selben Versuch gehört. Diesen Aufsatz hat Brecht geschrieben, als es für ihn darum ging, der „Moskauer Clique“, wie er sie nannte, also Becher, Erpenbeck, Kurella u. a., dem „sozialistischen Realismus“ nach Georg Lukács' Theorien einen „kritischen Realismus“ entgegenzuhalten. Brecht hatte, da er im „Wort“ , der maßgeblichen Exilzeitschrift, in Moskau redigiert, von ihm als Mitherausgeber gezeichnet, nicht mehr zu Wort kam, mit Wieland Herzfelde einen eigenen Band „Neunzehnhundertachtunddreißig“ geplant, um diesen und andere Aufsätze zur Realismus-Debatte zu publizieren, aber er kam wegen der Besetzung Prags, wo der Verlag residierte, nicht mehr zustande. Wenn Brecht in der DDR daran anknüpfte, so stellte er einen Zusammenhang her - zu den finsteren Zeiten. Auf einen zweiten Zusammenhang spielt der lapidare Hinweis an, die Elegien seien im Sommer 1953 geschrieben. Daraus ist zu schließen: Die „Buckower Elegien“ haben mit realistischer und antifaschistischer Schreibweise zu tun, und sie gehören in den Kontext der Zeit, und dieser heißt 17. Juni 1953.

Am 20. August 1953 notiert Brecht im „Journal“: „Der 17. Juni hat die ganze Existenz verfremdet. In aller Richtungslosigkeit und jämmerlicher Hilflosigkeit zeigen die Demonstrationen der Arbeiterschaft immer noch, daß hier die aufsteigende Klasse ist. Nicht die Kleinbürger handeln, sondern die Arbeiter. Ihre Losungen sind verworren und kraftlos, eingeschleust durch den Klassenfeind, und es zeigt sich keinerlei Kraft der Organisation, es entstehen keine Räte, es formt sich kein Plan. Und doch hatten wir hier die Klassen vor uns, in ihrem depraviertesten Zustand, aber die Klasse.“

„Verfremdet“, nicht entfremdet, wie man zu lesen geneigt ist, schreibt Brecht. Nicht der soziologische, sondern der ästhetische Begriff ist eingesetzt. Leben in der dritten Person, hieß dies u. a. für den Autor: Man lebt nicht, man wird gelebt. Die Arbeiter - im depraviertesten Zustand -, aber immerhin handelnd. Wer aber handelte noch? Und was hatte Brecht zu verbergen?

Ich mußte - „naturgemäß“ - die Buckower Elegien mehrfach wiederlesen, und je mehr ich sie las, bemerkte ich im Gegensatz zur Verschwörerpraxis in Ost und West - sie entweder als harmlose Parabeln (mit wenig politischem Bezug) oder als Naturlyrik abzulegen, aber dennoch ausgiebig nach allmöglichen Theorien zu interpretieren -, daß sie einen brisanten Kommentar zum Faschismus, zum unerledigten Nazitum, in der DDR enthielten. Dieser mußte nur „gehoben“ werden. Aber ich bemerkte auch, warum Brecht seine Gedichte mit Vorsicht behandelte. Die aufständischen Arbeiter des 17. Juni sollten nicht in den Ruch kommen, daß sie in die Schwierigkeiten der DDR-Regierung, den propagierten Sozialismus aufzubauen, ohne die Betroffenen zu beteiligen - von „oben“ also -, involviert waren. Die Arbeiter mußten abgegrenzt werden vom Zusammenhang, in den sie gestellt wurden: im Westen als diejenigen, die nichts sehnlicher wünschten, als „befreit“ zu werden, um am westlichen Wohlstand, den es damals nur sehr bedingt gab, teilzuhaben; im Osten als diejenigen, die sich des Aufbaus des Sozialismus widersetzten und deshalb gemaßregelt gehörten.

Die Zeiten waren durchaus nicht schon so, daß die späteren Abgrenzungen „griffen“ . Die Unsicherheit aller Beteiligten und die Legenden, die sich über den 17. Juni verbreiteten, sprechen deutliche Worte. Jede Seite bestand auf ihrer eigenen Version. Die DDR, daß der Aufstand aus dem Westen eingeschleust worden sei, folglich konterrevolutionäre Kräfte am Werk waren. Die BRD, selbst noch in den Kinderschuhen, hatte das Schreckgespenst des Bolschewismus in Deutschland aufgebaut, nutzte jeden Anlaß, die ungeliebte „SBZ“ doch noch zu liquidieren, und sah folglich im Aufstand den unerbittlichen Wunsch der Arbeiter, sich vom Sozialismus abkehren zu wollen. Die Wirklichkeit lag weder in der Mitte, noch sonstwo, sondern im unerledigten Faschismus auf beiden Seiten. Und dazu waren Brechts Gedichte! - der angemessene Kommentar.

Die DDR-These, der Aufstand sei aus dem Westen eingeschleust worden, wurde schon am selben Tag widerlegt dadurch, daß in Halle, Dresden, Leipzig und anderswo der Arbeiteraufstand von Berlin merkwürdige Unterstützung erhielt. Wer sollte da eingeschleust gewesen sein? Die Grenzen waren zwar noch relativ offen, aber es wäre selbst gut organisierten „reaktionären Kräften“ schwergefallen, an so vielen Stätten der „Provinz“ maßgeblich wirksam zu werden. „In der Provinz wurde ,befreit‘. Aber als die Gefängnisse gestürmt wurden, kamen merkwürdige Gefangene aus diesen ,Bastillen‘, in Halle die ehemalige Kommandeuse des Ravensbrücker Konzentrationslagers, Eva Dorn. Sie hielt anfeuernde Reden auf dem Marktplatz. An manchen Orten gab es Überfälle auf Juden, nicht viele, da es nicht mehr viele Juden gibt.“ So schrieb Brecht am 1. Juli 1953 als Rechtfertigung seiner Haltung, von seinem verunsicherten Verleger Suhrkamp darum gebeten. Brecht war in die Schlagzeilen geraten, sich dem „ostzonalen System“ liebesdienerisch angebiedert zu haben. Die rechte Westpresse schrie laut danach, nun endlich mit diesem kommunistischen Untertan und seiner Poesie abzurechnen und beide in den Orkus zu schicken - und feierte statt dessen (wenig später) den denkwürdigen Sieg der Deutschen über die Ungarn bei der Fußballweltmeisterschaft von 1954 als Beginn des Wirtschaftswunders. Nur der Reporter brüllte noch „Tor Tor Tor“ und „Sieg Sieg Sieg“ so wie Goebbels, und so, als habe Deutschland den Weltkrieg doch noch gewonnen.

In der Bundesrepublik stellte sich heraus, daß dem denn doch so war. Wer wollte heute ernsthaft - unter den Nachgebornen - behaupten, der Zweite Weltkrieg habe sich für uns nicht gelohnt? Die Toten wurden schnell abgehakt, wie in Brechts „Mutter Courage“ , wo die toten Kinder in der Rezeption schnell dem „Schicksal“ der armen Mutter untergeordnet wurden. Sie, die Courage, blieb schließlich bis zuletzt auf der Bühne, und so bleiben auch also diejenigen, die auf der Bühne überleben, uns wichtiger als die Opfer. Sie sind abgehakt - Brecht schrieb immer „abgehackt“ .

Uns ging's nie besser, also? Brecht bat die Nachgeborenen um Nachsicht, weil „wir, die wir den Boden bereiten wollen für Freundlichkeit selber nicht freundlich sein konnten“ . Diese Nachsicht gab es nicht, weder im Osten noch im Westen, und sie gibt es heute weniger denn je. Alle machen ihren unbescheidenen wie bescheidenen „Schnitt“, wie die Mutter Courage an ihrem Krieg. Aber wenn sie im Theater sitzen, bejaulen sie das „Schicksal“ der armen Frau, des „Muttertiers“ .

Was blieb? Brecht unterdrückte Texte - bedauerlicherweise -, und wenn es einen wirklichen Vorwurf an den Autor gegeben hätte, dann diesen! Der aber wurde nie erhoben. Warum?

Die Elegien lesen sich in der Tat heute anders. Ich kann, um den Beitrag nicht noch weiter aufzuschwellen, nur ein Beispiel wählen und für die Wiederlektüre der „Buckower Elegien“ auf die greifbaren Ausgaben verweisen - und ich meine, sie lohnt sich: Lyrik, die zur Politik Stellung genommen hatte, aber nie in diesen Dimensionen wahrgenommen wurde und trotzdem in jeder Hinsicht schön ist: ein einzigartiger Beitrag der Lyrik zur Politik. Selbst Erich Fried oder Heiner Müller haben dem nichts an die Seite zu stellen vermocht.
Also das Beispiel:

    DER EINARMIGE IM GEHÖLZ

    Schweißtriefend bückt er sich
    Nach dem dürren Reisig. Die Stechmücken
    Verjagt er durch Kopfschütteln. Zwischen den Knieen
    Bündelt er mühsam das Brennholz. Ächzend
    Richtet er sich auf, streckt die Hand hoch, zu spüren
    Ob es regnet. Die Hand hoch
    Der gefürchtete S. S. Mann.

Die DDR verstand sich von Beginn an als antifaschistischer Staat, als „Bollwerk gegen den Kapitalismus“, der im Westen Deutschlands restauriert wurde, und er verstand sich dadurch auch als das „bessere“ Staatswesen, das die Konsequenzen aus Faschismus und Krieg wirklich gezogen hatte. Dieser „moralische Vorsprung“, die Überzeugung, den humaneren Weg in die Zukunft eingeschlagen zu haben, wirkte noch bis zum Ende des „real-existierenden“ Sozialismus als verbindende und staatstragende Klammer, auch wenn von den Realitäten des Sozialismus ansonsten nicht viel zu spüren war. Die Regierenden des neuen „Arbeiter-und-Bauern-Staates“ auf deutschem Boden waren durchweg als Antifaschisten ausgewiesen, und vor allem waren die Nazis aus allen wichtigen öffentlichen Ämtern vertrieben worden.

Einer von denen, denen angeblich jeglicher Einfluß genommen war, ist der ehemals gefürchtete SS-Mann, von dem die Elegie berichtet. Er ist versehrt, hat nur noch einen Arm. Mühsam, unter schweißtreibenden Anstrengungen muß er sich nun seinen Lebensunterhalt zusammenraffen, Brennholz, dürres Reisig für den kommenden Winter. Ungeschützt ist er der Natur ausgesetzt, den Mücken, dem Regen, in gedemütigter, bückender Haltung. Sein Arm taugt nur noch zur Prüfung ihn bedrängender Unbilden. Die erhobene Hand zeigt ihn hilflos und ungefährlich. So hatte der neue Staat die alten Nazis ausgeschaltet.

Diese Interpretation, die ich in Kurzform referiert habe, entstammt der Brecht-Forschung der siebziger Jahre, als die Buckower Elegien mit einer Flut von neuen Deutungen überschüttet wurden. Sie wurde vertreten von jüngeren Wissenschaftlern, die aus der Studentenrevolte von 68 hervorgegangen waren. Der Sozialismus in der DDR, auch wenn er mit skeptischen Augen betrachtet wurde, war als mögliche Alternative anerkannt - jede Wiedervereinigung schien auf Generationen hin suspendiert - und ließ sich zur Kritik am herrschenden und sich stetig ausbreitenden Kapitalismus in der Bundesrepublik gut gebrauchen. So konnte denn die Elegie über den gefürchteten SS-Mann dazu herhalten, die „bewältigte“ Vergangenheit in der DDR zum Gegensatz zum Neonazismus in der BRD hochzuhalten.

Das Gedicht läßt sich jedoch auch ganz anders lesen. Ein nur scheinbar alltäglicher Vorgang wird in der Elegie angesprochen. Der Mann sammelt im Sommer und in der Hitze Reisig und Holz. Sein mühsames und ächzendes Aufrichten, scheinbar im Kontext seiner alltäglichen Bemühungen um Unterhalt formuliert, kann auch als ein bedrohliches Erstarken, die ausgestreckte eine Hand als das alte Zeichen des Hitlergrußes verstanden werden. Beschrieben ist ein Vorgang des Erhebens; am Ende steht - gleichsam erstarrt, weil verblos - die alte Geste, die durch die Geschichte mit blutrünstiger Wirklichkeit gefüllt ist. Durch sie wird der Mann buchstäblich kenntlich. Seine Abwehr der Stechmücken - nur Stechmücken sind es - wird zum ignoranten Kopfschütteln, Lästiges abschüttelnd, die prüfende Geste, ob der Regen ihn womöglich stören könnte, zum Geheimplan. Der Mann sammelt kein Holz für die Feuerung seines Ofens, er sammelt Holz für die nächste Brandschatzung, so wie Brecht in seinem Brief an Peter Suhrkamp die Ereignisse des 17. Juni in der DDR eingeschätzt hatte.

„Gegen Mittag, als auch in der DDR, in Leipzig, Halle, Dresden, sich Demonstrationen in Unruhen verwandelt hatten, begann das Feuer seine alte Rolle wieder aufzunehmen. Von den Linden aus konnte man die Rauchwolke des Columbushauses, an der Sektorengrenze des Potsdamer Platzes liegend, sehen, wie an einem vergangenen Unglückstag einmal die Rauchwolke des Reichstagsgebäudes. Heute wie damals hatten nicht Arbeiter das Feuer gelegt: es ist nicht die Waffe derer, die bauen. Dann wurden - hier wie in anderen Städten - Buchhandlungen gestürmt und Bücher hinausgeworfen und verbrannt, und die Marx- und Engels-Bände, die in Flammen aufgingen, waren so wenig arbeiterfeindlich wie die roten Fahnen, die öffentlich zerrissen wurden.“

Ausdrücklich erinnert Brecht mit der Szenerie, die er im Brief entwirft, an die des Jahres 1933, der sogenannten Machtergreifung des Hitlerfaschismus. Brandstiftung und Bücherverbrennung waren die untrüglichen Zeichen für einen faschistischen Putsch - und sogar die Judenverfolgung setzte wieder ein. Aber dieser Putsch kam nicht nur, wenn überhaupt, in der Hauptsache von außen. Er war im Innern produziert und fand eben nicht nur in Berlin statt. Der 17. Juni brachte die verdrängten Tatsachen plötzlich ans Tageslicht. Den Aufstand der Arbeiter nutzend, griffen faschistische Kräfte zu den alten verwerflichen Mitteln der Menschenverachtung. Wo Bücher brennen, so sagte es schon Heine, werden auch Menschen brennen. Die Zeichen waren sichtbar, aber niemand wollte sie sehen, wenn sie nicht gar - wie z. T. im Westen - beklatscht und durch anfeuernde Reden im Radio (RIAS), wie Brecht mit Bedacht formulierte, unterstützt wurden. Die Elegie läßt eine noch verschärftere Lesart zu. Die Einarmigkeit muß nicht nur Zeichen der Versehrtheit des alten Nazi-Schergen sein, sie kann auch auf die prinzipielle Einarmigkeit der angemaßten National-Arbeiter verweisen. Diese Leute haben nur den einen Arm, der zur Arbeit nicht taugt, aber zur Brandstiftung immer noch ausreicht, während den wirklichen Arbeitern im DDR-Staat die Hände „zerarbeitet“ und „zerbrochen“ wurden, wie es in der Elegie „Böser Morgen“ heißt. Das Gedicht meint nicht den im westlichen Gehölz verborgenen Nazi, sondern den des eigenen Landes. Diese Handlanger werkelten weiter und bedrohten den Aufbau des Sozialismus, an dem Brecht zeitlebens als notwendige Alternative zum Kapitalismus festhielt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 09/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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