Analysen · Berichte · Gespräche · Essays

Manfred Knoll

Man sieht nur, was man weiß

Warum verreist der Mensch überhaupt? Wobei hier „verreisen“ den freiwilligen, lustvollen Ortswechsel meint und nicht das von einer unabwendbaren Notwendigkeit diktierte Reisen. Die Gründe haben sich gewandelt und haben sich vermehrt. Der Historiker Herodot vor 2500 Jahren oder der venezianische Kaufmann Marco Polo im 13. Jahrhundert oder der Forschungsreisende James Cook und der Naturwissenschaftler Georg Forster 500 Jahre danach - sie (und namhafte andere und spätere) wollten die Welt kennenlernen, sei es aus purem Entdeckerdrang, Unbekanntes zu ergründen, sei es aus merkantilem oder wissenschaftlichem Beweggrund oder aber, weil sie - wie Forster oder der Dichter Heinrich Heine - einheimischer geistiger Enge und Rückständigkeit entfliehen und neue Horizonte gewinnen wollten. Der Philosoph Johann Gottfried Herder schrieb 1769, vor seiner Reise nach Frankreich: „Meine einzige Absicht ist die, die Welt meines Gottes von mehr Seiten kennenzulernen und von mehr Seiten meinem Berufe brauchbar zu werden, als ich bisher Gelegenheit gehabt, es zu werden.“

Sie alle beschrieben in berühmt gewordenen Büchern, was sie unterwegs gesehen und erlebt und erkannt hatten. Es entstand über die Zeiten eine ganz eigene und nicht die unbedeutendste Spezies von Literatur: die der Reisebeschreibungen. Ihre Verfasser begnügten sich sehr oft nicht mit dem bloßen Abschildern des Gesehenen und Erlebten, sondern boten eine Fülle von anspruchsvoll gestalteten Gedanken, Reflexionen und von kritischen Vergleichen mit den Zuständen daheim. Zu ihrer Gilde gehören nicht wenige, ein Heer bilden sie dennoch nicht. Denn das Reisen damals war beschwerlich und auch sonst - im Gegensatz zu heute - nicht jedermanns Sache. Der Schriftsteller Johann Gottfried Seume absolvierte seinen „Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802“ von Grimma in Sachsen nach Sizilien und wieder zurück gar zu Fuß.

Heute ist, wie sich jeder denken kann, die Zahl derer, die verreisen, um ein vielfaches größer als noch vor 150 Jahren. Denn die Revolutionierung des Verkehrswesens seit dem Aufkommen der Dampfschiffahrt und der Erfindung der Eisenbahn, gar nicht zu reden vom Automobil und dem Flugzeug, schuf dafür sowohl technisch wie zeitlich, zudem auch pekuniär viel günstigere und bequemere Möglichkeiten. Hinzu kam der Wandel der Gesellschaftsstruktur: Die sich ausdehnende kapitalistische Produktionsweise erweiterte den Kreis der Besitzenden, Sozialreformen den Kreis potentieller Reiselustiger. Geschäftstüchtige Unternehmer erkannten das, boten Reisen zum Kaufen an und warben kräftig dafür; das Reisen wurde - für Zahlungsfähige - zu einer ganz neuen Form des Vergnügens, der Zerstreuung, doch auch der Bildung. Der Engländer Thomas Cook betrieb seit Mitte des 19. Jahrhunderts als erster den Handel mit Reisen in großem Stil und kann - einiger kleiner Vorgänger ungeachtet - als der Erfinder des neuzeitlichen Reisebüros gelten. Der Massentourismus kündigte sich an. - Damit ließ dann freilich nach, daß Reisende unterwegs oder hinterher ihre Erlebnisse und Eindrücke von Land und Leuten gültig zu Papier brachten. Nun wollte man, vorher oder unterwegs, schon etwas lesen können über sein Reiseziel.

Was Wunder also, daß da neben Wirten, Mietskutschern und Fremdenführern, die alle an der touristischen Entwicklung partizipieren wollten, auch Verleger auf den Plan traten. Sie boten Reisehandbücher an. Die Idee war nicht neu, doch waren die Vorbilder 200 Jahre lang sehr vereinzelt geblieben. Das änderte sich schon, als der Engländer Murray 1830 sein erstes Red Book (so genannt wegen der Farbe) des Titels „Holland, Belgium an the Rhine“ herausbrachte mit der Beschreibung von Routen und Sehenswürdigkeiten sowie deren Klassifizierung durch Sternchen. Es änderte sich vollends, als - vom Red Book angeregt - der Buchhändler Karl Baedeker kurz danach die „Rheinreise von Mainz bis Köln“ erscheinen ließ, ein „Handbuch für Schnellreisende“ , mit dem er den Grundstock für einen noch heute existierenden, weltweit verbreiteten, stets den sich wandelnden Bedürfnissen angepaßten Reiseführertyp schuf, dem es auf praktische Brauchbarkeit und Zuverlässigkeit ankommt.

Der moderne Massentourismus entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit der Zahl der Verreisenden nahm die Zahl der Reisemotive rapid zu (und dank Flugwesen auch der Aktionsradius, Quelle für wiederum neue Motivationen). Bildungs- (also Entdeckungs)reisen, Erholungsreisen, Urlaubsreisen, Hobbyreisen, Städtereisen, Badereisen, Wintersportreisen, Gebirgsurlaub, Autotouren, Kreuzfahrten usw. usf. - all das sind im Grunde bereits Oberbegriffe geworden, die sich weiter untergliedern, wobei es vielerlei Überlappungen gibt. Auch immer mehr Reiseveranstalter traten auf, größere und kleinere, die alle am Reiseboom verdienen wollten. Sich neben den Branchenriesen zu behaupten und Marktanteile zu sichern, das versuchten sie durch Spezialisierung und Entdecken von Marktnischen.

Es war nur folgerichtig, daß parallel zu diesen Vorgängen eine gewaltige Literatur-Industrie heranwuchs, die sich vorgenommen hatte, all die vielen Haupt-, Teil- und Spezialinteressen mit entsprechender Reiseliteratur zu bedienen, um daran zu verdienen. Mittlerweile fragt man sich, ob denn immer noch das Reisemotiv die betreffende Reiseliteratur verursacht oder ob sich zu Teilen der Vorgang nicht schon umgekehrt hat. - Wobei letzteres kein blankes Negativum sein muß: sofern nämlich nicht nur nackte merkantile Absichten dahinterstecken. Denn es können auf solche Weise auch Reiseströme gelenkt, touristische Ballungsräume und Reisespitzenzeiten entlastet werden, was den Reisenden durchaus zum Vorteil gereicht. Beispiel: Ein guter Berlin-Stadtführer wird deutlich machen, daß der Sommer als traditionelle Haupturlaubszeit in der Stadt nicht das Optimum an Erlebnismöglichkeiten bereithält - man denke nur an die Theaterferien -, daß aber z. B. eine Woche Teil- oder Resturlaub im Frühling oder Herbst, also außerhalb der Badesaison und zu witterungsmäßig möglicherweise unentschlossenen Zeiten, viel mehr Anreiz „verursacht“ , sich bestimmte (und nicht die geringsten) Schätze der Stadt zu erschließen: etwa ohne längere Wartezeiten Einlaß in die weltberühmten Museen und anderen Kulturstätten zu finden, den Spielbetrieb aller Bühnen und Klangkörper nutzen zu können; von den möglicherweise günstigeren Nebensaison-Hotelpreisen ganz abgesehen. Und an freundlichen Tagen sind Lenz oder Herbst in der gerühmten Berliner Naturumgebung dem Sommer mehr als nur ebenbürtig.

Vielgestaltige Reiseliteratur also und Spezialisierung. Auf der Internationalen Tourismusbörse (ITB) 1996 in Berlin waren rund 100 Verlage von Reiseliteratur vertreten, die größeren unter ihnen mit ganzen Literaturprogrammen. Ein Kataloghersteller ermittelte empirisch 7 800 deutschsprachige Reise-, Wander- und Kunstführer. Für den Reiselustigen genügt da heute in der Buchhandlung - das Reiseziel als Stichwort und Suchbegriff bereits im Kopf - nicht mehr einfach ein Griff ins Regal. Denn dort präsentiert sich die Fülle in beträchtlicher Auswahl, und auch die oft als ein nur kleiner Teil von noch sehr viel mehr Greif- und Beschaffbarem. Es gibt mittlerweile Buchhandlungen, die sich bei Reiseliteratur auf bestimmte Bereiche spezialisiert haben. Fachleute meinen, der Markt sei riesig und allmählich unüberschaubar. Da muß der Verreisende in spe, um an das Geeignetste zu geraten, bereits eine Vorstellung haben, wie sein Urlaub aussehen soll: ob er vor allem Relaxen oder auch Entdeckungstouren unternehmen will; ob er vom Reiseziel einen ersten Überblick braucht, auch über die praktischen Dinge des Aufenthalts, oder es gern schon detaillierter hätte; ob er mit Hinweisen auf Sehenswertes rechts und links der Wege zufriedengestellt ist oder mit weiterführenden, tiefergehenden Darstellungen auf mehr als nur das äußerlich Sichtbare von Land und Leuten aufmerksam gemacht werden möchte; ob er eine Rundreise plant und also ein Routenführer nützlich wäre oder ob er von einem Standquartier aus den vielen Facetten „seiner“ Urlaubsregion auf die Spur kommen will.

Ganze Reiseführerreihen füllen die Regale, eine immer umfänglicher als die andere, solche mit dicken und solche mit dünnen Büchern. In (fast) jeder findet man sein Stichwort wieder. Und doch sind die Unterschiede erheblich, nicht nur beim Preis. Einige Beispiele: Da gibt es die rot-blauen „Baedeker“ , die dank ihrer langen, ungebrochenen Tradition zum Synonym für Reiseführer schlechthin geworden sind. Innerhalb der Reihe untergliedern sie sich in weitere Reihen: Es gibt sie als Länder-, als Regional-, als Stadtführer. In der klassischen Weise informiert jeder Band - salopp gesagt - „über alles“ , was für den Reisenden in erster Linie interessant sein könnte, vom allgemeinen Überblick über Landschaft, Geschichte, Kultur usw. bis zur Beschreibung einzelner Sehenswürdigkeiten in der Sortierung „von A bis Z“ . Das geschieht faktenfreudig, doch in unvermeidlicher Knappheit (die mit Rücksicht auf Buchumfang und -preis so oder so bei jedem Reiseführer geboten ist). Nie fehlen die „Praktischen Informationen von A bis Z“ mit Tips, Adressen, Telefonnummern. Der Band „Berlin“ enthält auch Extras wie „Berlin in Zitaten“ oder „Berühmte Persönlichkeiten“ .

Ein ähnliches Spektrum bieten die Polyglott-Reiseführer, die es in umfänglichen Reihen einmal als Der Große Polyglott, zum anderen im Taschenbuchformat gibt; in jedem Fall mit dem Anspruch der Solidität (wozu gehört, daß sie regelmäßig aktualisiert werden, die gefragtesten Taschenbuchtitel meist in weniger als Jahresfrist). Sie alle sind als Routenführer konzipiert, beschreiben also von vornherein nur bestimmte, freilich sinnvoll gewählte Bereiche eines Landes oder einer Stadt; das ist ihre Form der gebotenen Beschränkung. Das erweist sich u. a. bei Erstreisen als vorteilhaft, weil man - als praktisch noch Unkundiger - sich bei dem (stets leider zu kurzen) Urlaubsaufenthalt zielgerichtet und zeitökonomisch mit Wesentlichem bekannt machen kann. Bei Polyglott erscheint auch die bislang immer noch einzigartige Reihe Land & Leute, von Insidern über jeweils ein (Aus-)Land verfaßt. Die Bändchen funktionieren nicht vordergründig als Reiseführer, sondern vermitteln ein mitunter viel wichtigeres Hintergrundwissen über Kultur, Alltagsleben, Mentalität der Bevölkerung im Reiseland (Dinge, die bei zu vielen Touristen in der Regel mehr oder weniger unbekannt sind), und zwar anhand eines festen Arsenals von Stichworten. Ein lobenswerter Beitrag zum sanften, nämlich rücksichtsvollen Tourismus in fremden Kulturkreisen, der sich eben nicht allein auf Natur und Umwelt, sondern mindestens ebenso auf die Menschen dort und ihre uns ungewohnten Gepflogenheiten beziehen muß; eine Hilfe zu angemessen sensiblem Verhalten in fremden Verhältnissen und zu Respekt und Achtung vor gänzlich anderen Traditionen, Lebens- und Verhaltensweisen, als sie im eigenen Kirchensprengel usus sind.

Einige Verlage entkleiden ihre Reise- und Stadtführer des Charakters von Nachschlagewerken zugunsten eines Lektüre-Charakters. Zwar folgen sie dem Schema Routenführer oder Ausflugsführer, doch bieten sie die Informationsfülle verpackt in einer Folge locker geschriebener reportagehafter Kapitel, die für Impressionen, Rückschauen, Reflexionen mehr Raum lassen. Natürlich fehlt auch ihnen nicht der Abschnitt mit den praktischen Tips, die vor Ort ihren Wert bekommen. Solche Bücher sind bei den „Lehnstuhltouristen“ beliebt, die gern mal in Gedanken auf eine Reise oder auf Stadtbummel gehen. Ediert werden sie z. B. beim Vista Point Verlag (ein Titel Berlin auch in dessen Reihe) oder in der Edition Erde (BW Verlag Nürnberg). Letztere hat 1995 ein durchaus nachahmenswürdiges Gemeinschaftsunternehmen mit dem WDR-Fernsehen bewerkstelligt: Editionen unter dem gemeinsamen Titel 13x Griechenland. Die TV-Anstalt sendete eine Serie, die an touristisch interessante Orte führte, der Verlag brachte zeitgleich ein „TV-Buch“ heraus, das dieselben Ziele vorstellt. Das Buch konnte eine Faktenfülle bieten, die die Filme hoffnungslos überfrachtet hätte, und die 13 TV-Reportagen lieferten dafür das optische Erlebnis, die Originalmusik und Begegnungen mit den Menschen.

Wiederum andere Arten von Reiseführern gibt in mehreren Reihen der Kölner DuMont-Verlag heraus, der 1996 sein 40jähriges Bestehen begeht und zu den profiliertesten zählt. Während z. B. die Reihe Richtig reisen (über Länder, Regionen, Städte, auch Berlin) in nun verbesserter Konzeption den Informationsbedürfnissen, die sich während einer Reise ergeben, Genüge tun will und damit dem klassischen Reiseführer nahe ist, konzentrieren sich die Titel der Reihe DuMont-Kunstreiseführer (ebenfalls in neuer Reihenkonzeption, im Angebot auch Brandenburg) auf Kunst und Kultur am Reiseziel und stellen diese in den gesellschaftlich-sozialen Zusammenhang. Sie beschreiben nicht nur, was man - etwa in einem Schloß oder einer historischen Altstadt - sehen kann, sondern erläutern Hintergründe, Bedeutungen, Zusammenhänge und bieten so auch dem „normalen“ Touristen spannende Lektüre und Fingerzeige zu staunenmachenden Entdeckungen. „Man sieht nur, was man weiß“ , lautet eine sehr wahre Sentenz, die sich DuMont zum programmatischen Slogan erwählt hat.

Vielleicht weil allgemein, auch bei uns, das Lesen bedauerlicherweise zurückgeht - Tribut an TV, an hektischeren Alltag, an hohe Buchpreise und anderes nachteilig Wirkendes -, verlegten sich Verlage darauf, den Kaufanreiz damit neu zu befeuern, daß sie zugunsten aufwendigerer Grafik Umfang und Text (!) der Bücher reduzieren. Kritische Zungen sprechen von „Eye-Catchern“ . Aber auch hierbei gibt es deutliche Unterschiede und positive Ausnahmen. Jemand erfand den Bildreiseführer; kein Bildband im herkömmlichen Sinne. DuMont offeriert davon die Reihe „DUMONT visuell„ , eine Übernahme von Editions Gallimard Nouveaux-Loisier Paris. Das sind optisch opulente 350- bis 500-Seiten-Bücher mit bewegtester Grafik. Da füllen Fotos, Zeichnungen, Faksimiles, kartografische, historische und Schnittdarstellungen buchstäblich jede Seite bis zum Überlaufen und sind umspült und durchwirkt von kurzen und weniger kurzen Texten. Das scheinbare Chaos wird durch eine straffe, teils thematische, teils regionale Gliederung durchschaubar, und die Texte erweisen sich trotz der Kürze immer noch inhalts- und aufschlußreich. (Einen Band Berlin gibt es bislang nicht, wohl weil die Stadt infolge der Wende noch andauernden Wandlungen unterworfen ist.) Optisch ähnlich, wenngleich auf den zweiten Blick grafisch nicht ganz so kühn, und etwas anders aufgebaut sind die Club-Reiseführer des RV Reise- und Verkehrsverlags, ebenfalls eine Übernahme, jedoch von Dorling Kindersley Limited London.

Gewinnt man beim sinoptischen Vergleich von DUMONT-visuell- und RV-Club-Reiseführern über dasselbe Reiseziel den Eindruck, daß vorteilhaft bzw. nachteilig erscheinende Eigenheiten wechselseitig verteilt sind (bei ersteren Titeln gibt es z. B. eine klarere Gliederung und dichtere Texte, bei letzteren wird dafür direkter auf Details aufmerksam gemacht), so zeigt sich das bei anderen miteinander vergleichbaren Reihen nicht immer so. Die in nahezu allen Buchhandlungen schier schockweise präsenten Reiseführer der Marco-Polo-Reihe aus Mairs Geographischem Verlag, jüngerer Versuch eines Polyglott-Gegenstücks, hat sich zwar in wenigen Jahren optisch in den Vordergrund gedrängt, nicht zuletzt durch die nachgerade von „Tonnenideologie“ geprägte bisherige Strategie des Verlages, nämlich alljährlich gleich mehrere Dutzend neuer Titel en bloc auf den Markt zu werfen; ein Beispiel für den „gnadenlosen Verdrängungswettbewerb“ mit immer neuen Massenserien, über die die Buchhändler stöhnen. Aber Masse ist nicht notwendig Klasse; man hat den Eindruck, daß sie in Konzept und Substanz trotz ansprechender grafischer Gestaltung bei näherem Hinsehen merklich abfällt, oberflächlicher erscheint, ja den Verdacht nährt, daß sie nicht vorrangig dem Touristen, sondern mehr dem Verlag zum Nutzen sein soll.

Es bleibt also keinem erspart, aus der Fülle - auch des scheinbar Gleichartigen - günstig auszuwählen, und das ist nicht immer einfach, schon gar nicht für Ungeübte. Da ist gut dran, wer einen kundigen Berater findet, der einen Blick fürs Wesentliche hat: Sind die länderkundlichen Informationen gut? Stimmt die Aktualität? (Das Erscheinungsjahr allein bietet nicht die letzte Gewähr.) Werden gute Hintergrundinformationen geboten? Sind die praktischen Tips tatsächlich verwendbar? (Bei manchem, was als „Insider-Tip“ daherkommt, hat lediglich der Zufall regiert.)

Was die umfassenden Reiseführer nicht leisten (können), nämlich spezielle Themen etwas eingehender zu behandeln, das erkennen kleinere Verlage als ihre Nische. Sie warten mit einer ebensolchen Fülle sehr spezieller Titel auf, die sich unterschiedlichsten Themen widmen, vom Architekturführer bis zum Badestellen-, Restaurant- oder Kneipenführer und vom Stadtführer für Kurzentschlossene mit Tag- und Nachttips bis zum Jugend-Szene-Stadtführer. Zu mancher Thematik werden ganze Reihen ediert, Stadtteilführer etwa. Einem einschlägig Interessierten vermögen solche Publikationen natürlich mehr zu bieten. Für Berlin gibt es von mancher Sorte gleich mehrere, auch sie nicht ohne Qualitätsunterschiede. In diesem Heft des „Berliner LeseZeichens“ ist von einigen zu lesen.

Bleibt noch die Frage: Wer nutzt diese Fülle? Das tut von der Gesamtzahl der Verreisenden ein überraschend niedriger Prozentsatz. Auf der größten Reisemesse der Welt, der schon erwähnten alljährlichen Internationalen Tourismus-Börse (ITB), sprachen Experten davon, daß von 100 (deutschen) Touristen nur etwa 30 einen Reiseführer benutzen. Leseunlust? Sparsamkeit am falschen Platz? Kein wirkliches, tiefergehendes Interesse für den Ort, den zu besuchen sie immerhin einiges Geld aufgewendet haben? Man kommt wohl kaum in den Ruch, Schleichwerbung für Reiseführerverlage zu machen, wenn man konstatiert: Diese Enthaltsamkeit ist sehr schade. Schade für die Reisenden! Gerät man nicht schon ins Staunen, wenn man über den eigenen Kiez in einem (guten) Reiseführer Dinge liest, von denen man bislang nichts wußte? Wieviel an Interessantem entgeht einem da erst an fremdem Ort, wenn man dicht, aber ahnungslos neben einer Attraktion wohnt oder unkundig daran vorbeiläuft. Darum ist das eben mehr als nur ein Slogan, ist eine - nicht ausschließlich touristische - Weisheit: Man sieht nur, was man weiß. Und wer mehr weiß, sieht mehr. Erst das macht eine Reise wirklich zum Erlebnis.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 09/96 (c) Edition Luisenstadt, 1996
www.berliner-lesezeichen.de

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