Eine Rezension von Eberhard Fromm

Ein Jaspers-Lesebuch

Karl Jaspers: Was ist der Mensch?
Philosophisches Denken für alle
Piper Verlag, München 2000, 397 S.

„Da der Mensch ein denkendes Wesen ist, muß die Wahrheit irgendwann an ihn gelangen. Wenn der Augenschein dagegen steht, trauen wir diesem Augenblick nicht. Mag er übermächtig im Augenblick sein, am Ende trügt er“ (S. 393). Mit diesem unverwüstlichen Optimismus entläßt uns Jaspers aus seiner Gedankenwelt, die in diesem Band wohlgeordnet und in verdaubaren Häppchen vorgeführt wird. Hans Saner (*1934), seit 1962 Mitarbeiter des Philosophen und heute sein Nachlaßverwalter, ist ein geübter Fachmann in der Herausgabe von nachgelassenen Schriften des Meisters. Ich denke dabei an die „Großen Philosophen“ oder auch an die Einleitung zur Weltgeschichte der Philosophie. Und auch die Zusammenstellung interessanter und bedeutsamer Texte von Jaspers ist für Saner kein Neuland, wie das Lesebuch Denkwege belegt.

Wenn nun, am Ende des 20. Jahrhunderts, wieder eine repräsentative Auswahl der Gedankenwelt von Karl Jaspers (1883-1969) vorliegt, dann ist das ein gutgewählter Zeitpunkt. Denn Jaspers ist einer der großen und modernen Denker dieses Jahrhunderts, der nicht nur unter den Fachleuten der Philosophie im Gespräch bleiben wird, sondern der auch für alle nachdenklichen Menschen lebendig bleiben sollte.

Der Herausgeber hat eine gute Auswahl getroffen und sie auch übersichtlich geordnet. In fünf großen Schritten wird der Leser von den autobiographischen Darstellungen über die Fragen „Was ist Philosophie?“, „Was ist der Mensch?“ und die „Frage nach der Transzendenz“ bis hin zu den Wirkungsmöglichkeiten der Philosophie geführt. Dabei stellt Saner den ausgewählten Textstücken stets kurze, stichwortartige einführende Kommentare voran, mit denen er in ihrer Gesamtheit auf die zentralen Ideen der Philosophie Jaspers' verweist.

Der umfänglichste Teil ist der Frage nach dem Menschen, seinen Möglichkeiten und Grenzen gewidmet. Hier wird die Ansicht von der Grenzsituation als geschichtlicher Bestimmtheit von Existenz erläutert; hier werden einzelne Grenzsituationen wie Tod, Leid, Kampf und Schuld vorgestellt. Immer wieder geht es um die Existenz, verstanden nicht als Sosein, sondern als Seinkönnen. Das Fragmentarische, das Unvollendbare bestimmt die Überlegungen zu den Möglichkeiten und Grenzen des Menschen. Saner weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß diese Philosophie der Existenz wesentlich eine Philosophie der Freiheit darstellt: „Freiheit im Aneignen der Grenzsituationen und im Prozeß der Kommunikation“ (S. 188).

Wenn man in den abschließenden Passagen des Buches mit den zeitbezogenen Aussagen des Philosophen - von der Schuldfrage bis zur Notstandsgesetzgebung, von der Demokratie bis zum Problem des Weltfriedens - konfrontiert wird, erkennt man sowohl die Originalität der Jasperschen Positionen als auch ihre dauerhaften Einsichten. Wenn man die Welt am Beginn des 21. Jahrhunderts - und hier vor allem die manipulative Herrschaft über die öffentliche Meinung - betrachtet, dann muß man Jaspers recht geben, wenn er schreibt: „Unser Zeitalter ist das der Simplifikationen. Die Schlagworte, die alles erklärenden Universaltheorien, die groben Antithesen haben Erfolg“ (S. 327).

So ist denn das vorliegende Jaspers-Lesebuch eine gute Stütze bei der eigenen Erkenntnis von der Welt, vom Denken, vom menschlichen Sein und von der modernen Gesellschaft.

Ein Charakterzug des Philosophierens von Karl Jaspers besteht darin, daß er sich weigert, fertige Antworten zu geben. „Wer nicht mehr staunt, fragt nicht mehr. Wer kein Geheimnis mehr kennt, sucht nicht mehr“, heißt es bei ihm (S. 123). Deshalb läßt er auch in seinen Werken den Leser an seinem Fragen und Suchen nach Antworten als Denkprozeß teilhaben. Dieses Moment geht natürlich in einem solchen Auswahlband ein wenig verloren; manchmal steht eben ein knappes Zitat wie eine klare, eindeutige Antwort, wie eine klassische Definition. Man lernt so zwar wichtige Aussagen des Philosophen „auf einen Blick“ kennen - darin besteht der Vorteil des Buches. Wer jedoch am Denkprozeß von Jaspers wirklich und ganz teilnehmen will, muß komplette Arbeiten studieren. Es bleibt eben - bei allem Lob - ein Lesebuch zum Einlesen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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