Eine Rezension von Gisela Reller

Die Kriminalfälle können gar nicht abartig genug sein ...

Polina Daschkowa: Die leichten Schritte des Wahnsinns
Roman.
Aus dem Russischen von Margret Fieseler.
Aufbau-Verlag, Berlin 2001, 464 S.

Alexandra Marinina: Mit verdeckten Karten
Anastasijas dritter Fall
Roman.
Aus dem Russischen von Natascha Wodin.
Argon Verlag, Berlin 2000, 315 S.

Alexandra Marinina: Tod und ein bißchen Liebe
Anastasijas vierter Fall
Roman.
Aus dem Russischen von Natascha Wodin.
Argon Verlag, Berlin 2000, 326 S.

Die Marinina hat Konkurrenz bekommen. Eine ernstzunehmende! Alexandra Marinina kann auf eine Auflage von mehr als 15 Millionen Exemplaren blicken, Polina Daschkowa ist „erst“ bei 12 Millionen angekommen. Was haben die beiden Autorinnen gemeinsam? Sie sind gestandene Frauen, schreiben unter einem Pseudonym, leben im russischen Sündenbabel Moskau, beide schrecken in ihren Romanen vor keinem noch so gemeinen Mord zurück, beiden sind die Strukturen der Mafia kein Buch mit sieben Siegeln. Was unterscheidet die beiden Autorinnen voneinander? Die Marinina hat selbst zwanzig Jahre als Major bei der Miliz gearbeitet, die Daschkowa ist Journalistin und hat das Gorki-Literaturinstitut in Moskau absolviert; bei der Marinina ermittelt in jedem Krimi Anastasija Kamenskaja, Ermittlerin bei der Miliz, noch unverheiratet, kinderlos. Bei der Daschkowa gibt es keine „Miß Marple“ - in Die leichten Schritte des Wahnsinns ist die Laiendetektivin Lena Poljanskaja, Übersetzerin und Journalistin, Mutter einer zweijährigen Tochter, verheiratet mit einem Oberst der Miliz. Lena Poljanskaja sei Strategin, könne abstrakt denken, sei fähig zu verallgemeinern und könne selbst unklare und nicht ausgereifte Indizien analysieren. So charakterisiert uns die Daschkowa ihre Heldin. Ihr Krimi beginnt mit dem Selbstmord (oder raffinierten Mord?) des Bruders ihrer Freundin Olga. Im Laufe des Buches werden noch sieben junge Mädchen vergewaltigt und ermordet - von Wenjamin Wolkow, heute ein milliarden(!)schwerer Produzent im Show-Busineß, zur fraglichen Zeit ein Komsomolfunktionär. Womit nichts verraten ist, denn auch der Leser erfährt schnell, wer das mädchenmordende Monster ist, das gut aussieht, ein offenes, charmantes Lächeln und einen weichen, leisen Bariton hat, intelligent ist - wenn er nicht gerade „den großen Hunger“ kriegt. In dem spannungsgeladenen Krimi findet dann noch die drogensüchtige Frau des schon gemeuchelten Bruders einen durchtrieben-gewaltsamen Tod, ferner wird ein Untersuchungsbeamter der Miliz im fernen Sibirien umgebracht, ein Milizbeamter im nahen Moskau, ein namhafter Sänger und eine ungezählte Anzahl Mafiosi. Obwohl ein unschuldiger Säufer für die Mädchenmorde büßen muß, bleiben solche Morde von da an aus. Wie das zusammenhängt, das ist von der Daschkowa nun wirklich phantasievoll, psychologisch kenntnisreich und gekonnt konstruiert. Aber um die aufschlußreichen Tatbestände zu interpretieren, die Lena Poljanskaja in Moskau und Sibirien zusammenträgt, bedarf es nicht der von der Autorin so gerühmten Fähigkeiten, da genügt eine Portion gesunden Menschenverstandes.

Ganz anders bei Alexandra Marinina, die in ihren zwei ersten deutsch erschienenen Kriminalromanen ihrer Kamenskaja wirkliches Kombinationsvermögen abverlangt (BLZ 4/00, Anastasijas erster und zweiter Fall). Worum nun geht es in Anastasijas drittem und viertem Fall?

In Anastasijas drittem Fall gerät der Kriminalbeamte Platonow in Verdacht, zwei Männer ermordet und mit Wirtschaftsverbrechern großen Stils zusammengearbeitet zu haben. „Mit dem Gehirn eines Computers“ ausgestattet, beweist Anastasija Kamenskaja seine Unschuld. Aber was haben jene Verbrechen mit den sechs jungen Männern zu tun, die kaltblütig jeweils an einem Montag mit jeweils einem Schuß und aus jeweils 25 Meter Entfernung erschossen werden? Morde ohne Motiv? Die gibt es bekanntlich nicht. Aber dieses Motiv schlägt dann doch dem Faß den Boden aus! Da empfiehlt sich einer (oder eine?) durch diese Art Präzisionsarbeit als Auftragskiller. Wer? Nun, darauf konnte wirklich nur die hypothesenreiche Kamenskaja kommen, mit der – das hat sich auch in der Unterwelt, die in Rußland ganz oben ist, inzwischen herumgesprochen – „nicht gut Kirschen essen ist“.

In Anastasijas viertem Fall erhalten fast fünfzig Frauen, die auf dem Standesamt ihr Aufgebot bestellt haben, Drohbriefe immer gleichen Inhalts: Tu das nicht. Du wirst es bereuen! Zwei Bräute werden auf dem Standesamt dann auch tatsächlich ermordet, erschossen – zum Bereuen sind sie nicht mehr gekommen ... Einer der Morde spielt sich vor den Augen Anastasija Kamenskajas ab, da diese sich mit 35 Jahren nun doch entschlossen hat, den küchenerprobten Mathematikprofessor Alexej Tschistjakow zu heiraten, den sie schon seit fast zwei Jahrzehnten gern hat. Natürlich verschiebt die „Kriminalistin durch und durch“ ihre Hochzeitsreise und ermittelt in ihrem Hochzeitsurlaub. Wer da nicht alles ein Motiv hat ... Nur einer wird nicht verdächtigt, einer, auf den die Rezensentin dieser Zeilen schon ab Seite 73 ihr Verdachtsauge gerichtet hatte. Nicht so die geniale Ermittlerin, der es diesmal trotz allem Nachdenken mit ihrem Computer-Gehirn erst ganz am Schluß des Buches gelingt, hinter die Logik und den Plan des Mörders zu kommen. Eine Pleite, die sich in Anastasijas fünftem Fall nicht wiederholen darf, schließlich wird die Daschkowa von der russischen Presse trotz ihrer geringeren Auflage schon heute als die „Königin des russischen Krimis“ gefeiert. Noch bevorzuge ich die Marinina ...


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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