Eine Rezension von Bernd Heimberger

Sorgsames Sichten

Richard Pietraß: Das Gewicht. Hundert Gedichte.
Langewiesche-Brandt, Ebenhausen-Isartal 2001, 228 Seiten

Mit dem „Anfang“ anfangen. Überschrieben ist dieser : „...ein Gespräch von Jürgen Engler mit dem Autor“. Der Autor ist ein Dichter. Ist Richard Pietraß. Der Band, der ‚Gespräch von ... mit ...‘ im Anhang hat, ist ein Band der reinen, reinsten Pietraß-Poesie. Hundert Gedichte, die der 1946 Geborene gelten läßt und in ihrer Gesamtheit „Die Gewichte“ nennt. Einer sicher nicht sehr schönen Formulierung Englers folgend, ist die Ausgabe eine weiterer „Bilanzband“ des Dichters. Das Ausgewählt-Auserwählte kommt vor allem aus den Büchern Notausgang, Freiheitsmuseum und Spielball, die in den Achtzigern in der DDR veröffentlicht wurden. Nach den schönen Schwierigkeiten des Dichter-Daseins und der Bedeutung der Dichtung in der DDR fragt Engler und hätte viel mehr vom Autor erfahren können, wäre er entschiedener dem Prinzip des Gesprächs gefolgt und hätte mehr gefragt, denn interpretiert gemäß der geäußerten Einsicht: „ ... ich breche hier ab und frage einfach“. Richard Pietraß ist gut für gute, aufschlußreiche, sinnbildhafte Antworten.

Zurück zum Anfang! Zurück zu den Gedichten. Die sind allesamt auch Anworten. Auf alles, was Richard Pietraß ist? Er ist ein Dichter, der Direktes will, ohne das Direkte in der Dichtung zu wollen. Direkt Hirn und Herz von Lesern wie Zuhörern zu erreichen, ist nicht der Maßstab der Lyrik. Statt des Aphorismus bevorzugt Pietraß die Metapher. Also das Bildhafte, in dem das Sinn-Bildliche ist. Der Dichter ist ein Sprach-Bildner der Sinn-Bilder. Was wahrlich nicht bedeutet, daß er Direktheit und Deutlichkeit ausweicht. Direkt und deutlich wird er im Indirekten, in der Indirektheit. Zugespitzt gesagt: in der indirekten Indirektheit. Die was ist? Die geschlossene geistige, ästhetische Gesellschaft der Gedichte schützt Pietraß, gestern wie heute, vor der immer wieder gefährdenden politischen Gesellschaft. Dem Lyriker wäre vermutlich wenig wohl, würden seine Worte als Widerstands-Worte verstanden. Pietraß mag nicht das Groß-Grobe. Widerstehen mit dem Wort war und ist dem Dichtenden immer wichtig. Direkt und stark ist er stets in seinem unaufkündbaren Anspruch, der geschundenen Moral ein verläßlicher Pfleger zu sein. Die Pflege der Moral macht das Gewicht der Lyrik des Richard Pietraß. Die Gewichte, die er bedacht und behutsam in die Waagschale der deutschen Dichtung legt, sind unpamphletische Appellationen eines Gewissenhaften. Sind poetische Plädoyers, die den Möglichkeiten der Moral die Chance lassen, Moral möglich zu machen.

So verstanden, sind Absichten und Ansprüche der Pietraßschen Dichtung nicht so schwer zu verstehen. Leser, die beginnen, Lyrik des Autors zu lesen, sollten mit den Mutter-Vater-Gedichten beginnen. Es ist immer einfacher, eigene Erfahrungen mit denen des anderen zu vergleichen. Moral, wird man sofort merken, fängt für den Dichter damit an, sich mit der eigenen Sprache der verlodderten Tagessprache zu widersetzen. So wird Poesie zum Protest, ohne propagandistisch zu werden. Nichts ist megaphonverstärkt. Es summt der Flüsterton. Pietraß ist ein feinsinniger Flüsterer, der der Phrase den Wind stiehlt, in dem sie aufsteigen könnte. Dem Lyriker genau zugehört, ihn genau gehört, stellt sich schnell heraus, daß das ständig bedrängte Tor zwischen den Pflöcken ‚Freiheit‘ und ‚Demokratie‘ nicht nur ein Tor ohne Netz ist. Das Tor an sich ist ein Trugschluß, weil Freiheit und Demokratie Fiktionen statt Realität sind.

Noch einmal, nun noch genauer auf die Titel der drei im Ostberliner Aufbau-Verlag publizierten Bände geachtet, ist mehr als das Programm eines protestierenden Poeten zu erkennen. Die Titel Notausgang, Freiheitsmuseum, Spielball sind Offenlegungen und Offenbarungen ... des Annäherns, Abstandhaltens und Abschiednehmens. Die Wortverbindungen der Titel sind eindeutig in ihrer Mehrdeutigkeit, die sich aus den Bindungen, Beziehungen, Bezügen der Worte herleiten lassen. Jedes Wort ist Synonym und wird neues Synonym in der Wortverbindung. Schmerzen, Verluste, Trauer, die in den Tagen des Dichters gewesen sind, die Tage in der DDR waren, lassen die Titel nicht nur ahnen. Staunen, im Nachhinein, daß „ so etwas“ in der DDR passierte, in der DDR passieren konnte. Und ebenso ist im Nachhinein zu fragen: „Ja, warum denn nicht?!“ Die Auswahl der Gedichte ist auch ein erfreulicher Beweis dafür, daß die Literatur der DDR besser war als der Ruf der ostdeutschen Literatur und ihrer Literaten im Westdeutschen. Geradezu peinlich müßte es den Verfassern aktueller Lexika sein, fortgesetzt auch auf Pietraß zu verzichten. Er ist wesentlicher als manche Wichtigmacher und manches Wichtiggemachte. Er hat einiges, was in seiner Biographie wuchs, in seinen Gedichten literarisch wichtig gemacht. Die hat ihm Anlässe gegeben, einiges zu sagen, was dem Leben gesagt sein soll. Immer in der Besonnenheit, die möglicherweise den Dichter, ganz gewiß die Gedichte, stabilisiert, um ihnen das nötige Gewicht zu geben. Das bedarf nicht einer Serie der Bücher. Das bedarf des sorgsamen Sichtens. Richard Pietraß ist ein zuversichtlicher Sichter. Auch, wenn er dichtet! Im hundertsten Gedicht des Bandes Das Gewicht heißt es: „Ich, indessen las mehr, um zu sichten / was schon geschrieben steht.“ Und im ersten der Gedichte der Ausgabe ist zu lesen: „Einmal Luft holen / in zehn Jahren, das ist genug.“ Sich zurückzuhalten in der Achtung der anderen, in der Zurückhaltung eigenes zusammenzufassen, das ist die Art des Konzentrierens des Dichters Richard Pietraß. Seine Gedichte sind kein Gips. Sie sind Bronze. Das ist ihr Gewicht.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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