Eine Rezension von Gisela Reller

Ein Bär, der nicht brummt?

Nikolaj Gumiljow: Pavillon aus Porzellan
Gedichte, russisch/deutsch.
Aus dem Russischen und mit einem Nachwort von
Alexander Nitzberg.
Grupello Verlag, Düsseldorf 2000, 79 S.

Nikolaj Gumiljow (1886- 1921) zählt zu den bedeutendsten Lyrikern des russischen „silbernen Zeitalters“. Er verfaßte rund vierhundert Gedichte, von denen zwei Drittel zu seinen Lebzeiten erschienen. Der relativ kleine Umfang seines lyrischen Schaffens ist durch den frühen Tod des Dichters bedingt; er wurde mit 35 Jahren als angeblicher Konterrevolutionär erschossen.

Pavillon aus Porzellan erscheint russisch/deutsch als Band 8 in der Chamäleon-Reihe, die seit 1997 von Alexander Nitzberg herausgegeben und übertragen wird. Aber warum dieser Titel? 1918 kam ein Bändchen mit Gedichten über China von Gumiljow (Betonung Gumiljów) unter diesem Titel heraus. Zwar finden sich in dem vorliegenden Band drei China-Gedichte, aber weit und breit findet sich kein Pavillon aus Porzellan.

„Der Band bietet“, so der Verlag, „einen repräsentativen Querschnitt durch das lyrische Werk des Dichters. Können zweiundzwanzig ausgewählte Gedichte einen repräsentativen Querschnitt bieten? Zu Beginn seiner Dichterlaufbahn stand Gumiljow unter dem Einfluß der Symbolisten. Seine frühesten veröffentlichten Gedichte (ab 1902) sind von märchenhafter Phantastik und Motiven aus der russischen und nordischen Folklore beherrscht. Gedichte dieser Art finden sich in Pavillon aus Porzellan nicht - Gumiljow distanzierte sich später allerdings von diesen Gedichten und nannte sie eine „Jugendsünde“. Als Gumiljow 1908 nach seinem Studienjahr in Paris nach St. Petersburg zurückkehrte, hatte er sich in literarischen Kreisen durch regelmäßige Gedichtveröffentlichungen bereits einen Namen gemacht. Mit „Perlen“ (1910) gelang ihm der Durchbruch zu weiterer Bekanntheit. Aber weder „Perlen“ noch „Die Reise nach China“, „Agamemnons Krieger“ oder etwa „Beatrice“ - Themen des Abenteuers, der Suche und des Kampfes - finden sich in dem vorliegenden Band. Nitzberg hat sich, obwohl dies in seinem Nachwort nicht ausdrücklich steht, wohl doch ganz dem akmeistischen Dichter verschrieben; denn die Krise der symbolischen Bewegung um das Jahr 1910 (bedauerlich, daß den Gedichten dieses Bandes keine Jahreszahlen zugeordnet sind) bedeutete auch für Gumiljow das Ende einer Epoche. 1911 gründete er die „Zeche der Dichter“, die sich als Zunft verstand. Hier wurden die Gedichte der Mitglieder besprochen, und es fanden Übungen statt, um bestimmte epische Techniken zu erlernen. Eine solche Praxis widersprach in jeder Hinsicht den literarischen Gepflogenheiten der damaligen Zeit, bildete den denkbar größten Gegensatz zu den schwärmerisch-spiritistischen Salons der Symbolisten. Aus der „Zeche der Dichter“ entstand die literarische Gruppierung des Akmeismus. Dieser literarischen Schule gehörten „offiziell“ nur fünf Personen an: Ossip Mandelstam (warum bei Nitzberg mit zwei m?), Anna Achmatowa, Michail Senkewitsch, Wladimir Narbut und Gumiljow selbst. Unter den drei großen Literaturströmungen der russischen Moderne - dem Symbolismus, dem Akmeismus, dem Futurismus - ist der Akmeismus (abgeleitet von griech. akme: Reife, Blütezeit; Höhepunkt einer Entwicklung) die einzige Literaturströmung, die in der gesamteuropäischen Lyrik keine Entsprechung hat. Der Akmeismus lehnt die von den russischen Symbolisten geschaffene Vorstellung vom Dichter als Priester und Propheten ab. Nach akmeistischer Vorstellung hat der Dichter ein Handwerker zu sein, der seine poetische Technik beherrscht. Das neue Ideal, so betont Gumiljow in seinem literarischen Manifest „Das Erbe des Symbolismus und der Akmeismus“ (1913), heiße Stofflichkeit, Abkehr von Mystik und Okkultismus und statt dessen Hinwendung zum Dinglichen, zur sinnlich wahrnehmbaren Realität der wirklichen Welt. Akmeist zu sein, hieß es im Manifest, sei schwerer als Symbolist zu sein. Beim „weiblich verschwommenen“ Symbolismus, wo alles zum Symbol erklärt wird, habe das Wort keinerlei Eigenwert mehr, hieß es weiter. Die Arbeit am Wort unterteilt Gumiljow in vier Segmente: Phonetik, Stilistik, Komposition und Eidologie (die Lehre vom Bild). Sie haben den Begriff Eidologie noch nie gehört? Macht nichts. Alexander Blok (warum bei Nitzberg mit ck?) hat auch ratlos vor diesem Wort und überhaupt vor dem ganzen Akmeismus gestanden, von dem er sich fragte, ob dieser nicht ein Bär sei, der nicht brummt. Nitzberg geht im Anhang des Buches auf den Autor und die Prinzipien des „männlich festen“ Akmeismus so ausführlich ein, daß diese „qualitativ hochwertige literarische Strömung der russischen Lyrik“ (Nitzberg) durchaus als ein Bär zu verstehen ist, der brummt.

Doch nun zu den interessanten, emotionalen Gedichten des vorliegenden Bandes. Einige Verse sind anderen Dichtern gewidmet: Anna Achmatowa, Gumiljows Frau in erster Ehe, Sergej Makowski und Michail Losinsky, die zwar nicht „offiziell“ zur akmeistischen Schule gehörten, aber zur großen Gruppe jener Lyriker, die unter dem direkten Einfluß Gumiljows standen. An den ausgewählten Gedichten dieses Bandes ist eine Besonderheit von Gumiljows Akmeismus sehr überzeugend abzulesen, der das Himmlische nicht leugnet und als ebenbürtigen Pol zum Irdischen sieht. Überhaupt beschäftigen sich viele Gedichte Gumiljows mit der Religion: mit dem Islam, dem Buddhismus, dem Christentum; in zahlreichen Versen wird „der Herr“ direkt angesprochen. Viele Gedichte Gumiljows haben biographische Aspekte: die Liebe, der Krieg, in den er gegen 1916 freiwillig ging. In seinen Kriegsgedichten fand Gumiljow eine ganz eigene dichterische Sprache. In „Krieg“ wird zum eigentlichen Sieger erst derjenige, der im Gegner den Bruder erkennt. (Deine Gnade und den Sieg erreichen / aber nur die einen, die am Schluß / zum Gefallenen sprechen: „Meinesgleichen, hier empfange meinen Bruderkuß.“) Gumiljow schrieb auch sechzehn Gedichte über Afrika, wohin er mehrere Male reiste, vier sind im vorliegenden Band enthalten. Der Dichter vertieft sich in den afrikanischen Kulturkreis, „um sich dem Verlust des Gefühls für mystische Zusammenhänge im modernen Europa zu widersetzen, nicht etwa, um den Kontinent einem europäisch-kolonialistischen Weltbild unterzuordnen“ (Kindlers neues Literatur-Lexikon). Aus der reichhaltigen Sammlung Gumiljows sind zwei Bilder von abessinischen Künstlern im vorliegenden Buch veröffentlicht. Pavillon aus Porzellan enthält auch die beiden berühmtesten Gedichte Gumiljows: das kleine Poem „Fünfhebige Jamben“ und das Gedicht „Die verlorene Straßenbahn“, in dem sich eine Petrograder Straßenbahn auf surrealistische Weise nach Afrika und Indien verirrt (verliert?). Die Geschichte einer verlorenen Liebe bildet den Rahmen für diese Fahrt, die - von Visionen des bolschewistischen Terrors begleitet - vor der Isaakskathedrale in Petrograd endet.

Während bis 1923 noch einzelne Bände Gumiljows in Rußland erschienen, wird er ab 1938 komplett aus der Literaturgeschichte gestrichen. Bis 1986 wird kein Text des Dichters mehr veröffentlicht. Nach Perestroika und Glasnost jedoch avanciert Gumiljow zu einem der meistgelesenen Dichter Rußlands. Im Augenblick erscheint die erste russische Gesamtausgabe seiner Werke in Moskau.

Der außerordentlich verdienstvolle Herausgeber und Übersetzer Alexander Nitzberg wurde 1969 in Moskau geboren und lebt seit 1980 in der Bundesrepublik Deutschland. Seit 1996 übt er beim Grupello Verlag eine Lektorentätigkeit aus - kürzlich erschien unter seinem Lektorat die bisher umfänglichste Majakowski-Biographie „Ich - so groß und so überflüssig“ von Nyota Thun. Warum in einigen von ihm ins Deutsche übertragenen Gedichten jeweils ein Wort oder mehrere Worte - nicht im Einklang mit dem Original - kursiv gesetzt sind, erschließt sich mir nicht.

Gilt bei Nitzberg „Auf dem fernen Planet, der Venus“ als letztes Gedicht Gumiljows vor seiner Hinrichtung, so ist bei Kay Borowski in Petersburg - die Trennung währt nicht ewig (BLZ 11/12/1999) als letztes Gedicht „Abends, wenn die Strahlen sinken“ ausgewiesen. Was stimmt?


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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