Eine Rezension von Eva Kaufmann

Phantasiespiele

Annett Gröschner: Moskauer Eis
Roman.
Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig 2000, 288 S.

Im Spätherbst 1991 findet eine junge Frau mit Namen Annja Kobe ihren Vater, einen Kälteingenieur, der sich in der DDR viele Jahrzehnte um die Entwicklung von Kühltechnik gemüht hatte, in seiner Wohnung in einer großen Tiefkühltruhe perfekt tiefgefroren vor. Von ihm frühzeitig in die Geheimnisse der Gefriertechnik einbezogen, wundert sich die Tochter über den gefrosteten Fund nur mäßig und läßt ihn in die Wohnung der Großmutter bringen. Dort betreut sie die verwirrte sterbenskranke Frau, um sie vor dem Pflegeheim zu bewahren. Im Erzählrahmen also reichlich schwarzer Humor.

Gröschners Phantasiespiele haben allesamt mit ehemaligen und aktuellen Realitäten zu tun, die gleichermaßen Lachen und Schaudern hervorrufen. Mit Zorn und Spott erinnert sich die Ich-Erzählerin Annja - wie die Autorin 1964 geboren - an Kindheit und Jugend in Magdeburg. Die ironische und groteske Erzählweise verdeckt nicht, daß es sich z. B. bei den erinnerten unsäglichen „Erziehungsmaßnahmen“ (permanente Ausweiskontrollen, Frisuren- und Kleiderverbote), mit denen Jugendliche dazumal oft genug traktiert wurden, um Fakten handelt.

Der Prolog, in der Wir-Form formuliert, macht deutlich, daß es nicht nur um ein Einzelschicksal geht. In den letzten Jahren ist mehr als ein Buch entstanden, in dem vom Standpunkt einer ganzen Generation - etwa dieser Jahrgänge - erzählt wird.

Gröschners Buch zeichnet sich dadurch aus, daß die vorgeführten Lebensverhältnisse durch die komischen Mittel nicht vergröbert, sondern differenziert und vor allem historisiert dargeboten werden.

Der sachliche Erzählton provoziert den Eindruck, als stünde die Ich-Erzählerin vielen Lebenserscheinungen, nicht zuletzt dem gefrosteten Vater und der sterbenden Oma, herz- und gemütlos gegenüber. Nicht wenige Erlebnisse, vor allem mit ihrem dem Alkohol verfallenen Liebsten, wären durchaus geeignet, Gleichgültigkeit und Unempfindlichkeit hervorzurufen. Wie sonst durchhalten? Aber das ist bestenfalls die halbe Wahrheit. Der Selbsterhaltung dienen mit Sicherheit auch die Anteilnahme, das Verständnis und das Bemühen um Gerechtigkeit, die in der Genauigkeit und Anschaulichkeit zum Ausdruck kommen, mit der die Porträts von Vater und Mutter, von Großmutter und Großvater gezeichnet sind.

Wie viele Handlungsdetails ist auch das Moskauer Eis authentisch, jenes Speiseeis, dessen Herstellung und Vertrieb dem Vater und der Tochter soviel Sorgen bereiteten. Als ein gegenständliches Detail, das die Misere der DDR-Wirtschaft anschaulich belegt, wird es auch zum wesentlichen Bestandteil der vielgestaltigen und mehrdeutigen Kälte-Symbolik dieses Buches.

Die dokumentarischen und essayistischen Bücher, die Annett Gröschner in den 90er Jahren veröffentlich hatte, beweisen, daß die Autorin gewöhnt ist, genauestens zu recherchieren. Das gilt auch für dieses fiktionale Buch. Da sie sich des authentischen Lebensmaterials sicher ist, kann sie ihrer Phantasie und Fabulierfreude die Zügel schießen lassen, am Romanende sogar der kriminalistischen. Das letzte Kapitel des Romans schließt mit dem friedvollen Tod der Oma in der Silvesternacht 1991/92. Es folgt ein polizeiliches Protokoll vom 8. Mai 1995, in dem die spurlos verschwundene Annja Kobe verdächtigt wird, ihren Vater umgebracht und beseitigt zu haben. Vater und Tochter hätten sich in auffälliger Weise für die „Kryo-Konservierung“ interessiert, für ein „vorwiegend in Amerika betriebenes Gefrieren von Menschen unmittelbar nach ihrem Tod ..., bis die Wissenschaft soweit sei, sie wieder zum Leben zu erwecken.“

Wir ahnen, daß sich Annjas Vater, ein Meister seines Fachs, und seine gelehrige Schülerin mittels besagter „Zukunftstechnologie“ in eine Art „Wartestand“ versetzt haben, über den - unter anderen historischen Vorzeichen - im Prolog-Kapitel die Rede war. Zu ahnen sind Zusammenhänge mit der „Abwicklung“ des renommierten väterlichen Kälte-Forschungsinstituts und mit der Vertreibung alteingesessener Mieter im Berliner Prenzlauer Berg, dem Wohnort von Annja Kobe, durch Luxussanierung. Der akribisch abgefaßte, insgesamt ahnungslose Polizeibericht verweist darauf, daß die vom Leben kräftig gebeutelte Tochter nicht taten- und spurlos verschwunden ist, denn es wird in der leeren Wohnung ein 400Seiten starkes Manuskript in angeblich unlesbarer Handschrift aufgefunden. Welch ein Spaß, das Buch bei sich selbst ankommen zu lassen!

Mit Moskauer Eis legt Annett Gröschner ihren ersten Roman vor, einen Roman, der ungemischtes Lesevergnügen bereitet, gerade weil sie fernere und nähere Zeiterscheinungen in einer so erfrischenden Mischung von bitterem Ernst und komischer Verfremdung zu sehen einlädt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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