Eine Rezension von Horst Wagner
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Familiensaga und Epochenporträt

Amitav Ghosh: Der Glaspalast
Aus dem Amerikanischen von Margarete Längsfeld und Sabine Maier-
Längsfeld.
Karl Blessing Verlag, München 2000, 608 S.

Um es vorweg zu sagen: Das ist ein großartiges Buch. Ein Epochenroman, der uns durch über ein Jahrhundert und einen ganzen Subkontinent führt; eine Vier-Generationen-Story und eine farbige, sinnliche Sittenschilderung; eine historisch interessante Gesellschaftsanalyse und eine Folge ebenso poetischer wie erotisch-unverblümter Liebesgeschichten. Nicht zu Unrecht hat „Der Spiegel“ Ghosh's Der Glaspalast mit Pasternaks Doktor Schiwago verglichen und ihn ein fernöstliches Vom Winde verweht genannt. Und es ist nur zu begrüßen, daß Der Glaspalast bald auch auf deutschen Bestsellerlisten auftauchte. Dabei waren die Bücher von Amitav Ghosh, des 1956 in Kalkutta geborenen, heute in New York lebenden Autors, von dem auch der Sience-fiction-Roman Das Calcutta-Syndrom stammt, bisher fast ausschließlich auf den englisch-amerikanischen zu finden.

Der Glaspalast ist in einer Sprache geschrieben, die von der ersten Seite an packt: „In Ma Chos Suppenküche war nur einer, der zu wissen schien, was für ein Geräusch da über die Ebene heranrollte, die silberne Biegung des Irawadi entlang, bis hin zur westlichen Mauer der Festung von Mandalay. Sein Name war Rajkumar, und er war Inder, ein Junge von zwölf Jahren ...“ Was Rajkumar, der elternlose Tellerwäscher, herannahen hört, sind englische Kanonen. Die Briten besetzen im Jahre 1885 Birma, um es ihrer Kronkolonie Indien zuzuschlagen, und sie vertreiben den letzten birmanischen König aus seiner Residenz, dem Glaspalast. Mit einem Strom von Plünderern wird Rajkumar in den Palast geschleust, und er begegnet dort Dolly, dem Kindermädchen, das die beiden kleinen Prinzessinnen betreut. So beginnt der Roman und seine erste Liebesgeschichte.

Jahre später begegnet Rajkumar, inzwischen vom Chinesen Saya John ins gewinnbringende Teakholz-Geschäft eingeführt, Dolly in Ratnagiri an der indischen Westküste wieder, wohin sie der Königsfamilie ins gefangenschaftgleichende Exil gefolgt ist. Sie heiraten schließlich. Uma, die Witwe des Verwalters am Königshof, wird Dollys vertraute Freundin und später, nach Lehrjahren in den USA, eine Vorkämpferin der indischen Unabhängigkeitsbewegung. Mit Dollys und Rajkumars Söhnen geht die Familiensaga in die zweite Generation. Zwischen dem einen, dem Hobbyfotografen Dinu, dem Offiziersanwärter Arjun (der ein Neffe Umas ist) und der schönen Alison kommt es zu einer Art Dreiecksgeschichte voller Liebe, Leidenschaft und Verzicht. Arjun kämpft im Zweiten Weltkrieg in der englisch-indischen Armee gegen die Japaner, läuft, weil er glaubt, so Indiens Freiheit besser dienen zu können, zu diesen über und geht schließlich zugrunde. Alison fällt japanischen Marodeuren in die Hände. Dinu überlebt, kehrt als Flüchtling nach Birma zurück, heiratet die Literaturwissenschaftlerin Aye und richtet in Rangun ein Fotoatelier ein, das er, sich an Erzählungen seines Vaters erinnernd, Glaspalast nennt, obwohl es nur ein sehr bescheidenes Haus ist. Dort besucht ihn im Jahre 1996 seine Nichte Jaya, Enkeltochter des „Stammvaters“ Rajkumar, die Lehrerin in Kalkutta geworden ist. Zusammen gehen sie zu einer Versammlung in der Wohnung von Aung San Suu Kyi, der burmesischen Bürgerrechtlerin und Friedensnobelpreisträgerin, die von der Militärclique ihres Landes unter Hausarrest gestellt ist. „Sie trug weiße Blumen im Haar und war unglaublich schön ... Jaya begriff, warum so viele Menschen ihre ganze Hoffnung auf Aung San Suu Kyi gesetzt hatten ... Sie hat den Generälen die Maske von den Gesichtern gerissen ... Die Wahrheit ist, daß sie verloren haben ...“

Da am Schluß auch noch ein Urgroßneffe Umas eine Rolle spielt, ist es in der Tat eine Vier-Generationen-Geschichte. Sie ist eingebettet in die Geschichte Indiens und Birmas, des heutigen Myanmar. Sie führt uns auf Schauplätze in Singapur, Malaysia und zeitweilig auch in die USA. Sie schildert das Kastenwesen sowie das Leben der Plantagen- und Waldarbeiter, die differenzierten Methoden britischer Kolonialherrschaft und deren Auswirkungen in der britisch-indischen Armee. Wir bekommen Einblick in die unterschiedlichen Strömungen der indischen Unabhängigkeitsbewegung und die heutigen Probleme auf dem Subkontinent. Wir lernen die Fauna und Flora dieser Länder kennen, werden mit der Psychologie der Arbeitselefanten vertraut gemacht, haben gleichsam die prächtigen Farben der Seidensaris indischer Frauen vor Augen und schmecken die ausführlich geschilderten Spezialitäten südasiatischer Küche auf der Zunge.

Dieser sinnlich-ästhetische Genuß ist neben dem Autor wohl auch den Übersetzerinnen zu danken. Trotzdem sollte man das Buch vor einer Neuauflage noch einmal auf Ungereimtheiten durchsehen, die sich wahrscheinlich bei der Übertragung aus dem Englischen bzw. Amerikanischen eingeschlichen haben. Beispielsweise wenn auf Seite 353 von „36-Zoll-Gewehren“ die Rede ist, die „an der ganzen Küste postiert“ sind. Bei einem Kaliber von 91,44 Zentimetern könnte es sich höchstens um superdicke Kanonen handeln. Schwer vorstellbar auch, daß in der britisch-indischen Armee der Oberst „ein Rang zwischen einem Unteroffizier und einem Offizier“ (S. 321) war. Dabei dürfte wohl eher ein Fähnrich gemeint sein.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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