Eine Rezension von Hans-Rainer John

Ein Multitalent mit gestalterischen Problemen

Annette Berr: Orgasmusmaschine
Erotische Erzählungen.
Konkursbuchverlag Claudia Gehrke, Tübingen 2000, 192 S.

Annette Berr (37), bekennende Lesbe, ist ein Multitalent: Sie zeichnet, malt, bildhauert und fotografiert; sie schreibt Chansons, singt, produziert CDs, macht musikalisch-literarisches Kabarett; sie verfaßt Erzählungen (Sammelbände Nachts sind alle Katzen breit/1986 und Flamingos und andere Vögel/1987) und einen Roman (Orpheus und Sibirien/1988). Der Rezensent vermag nicht zu beurteilen, ob sie in allen Sätteln gleich gut reitet, aber daß sie gut erzählen kann, nämlich spannend, niveauvoll und sinnlich, dafür steht er ein. Vor allem schätzt er, daß sie Vorgänge aus dem Bereich der Erotik und des Sexus aus der Schmuddelecke zu reißen und in den Bereich des Literarischen zu heben versteht - weil sie offen, klar und unverschämt mit allem umgeht, was im Leben geschieht.

Allerdings gelingt ihr nicht alles, was sie aufgreift, gleich gut. Im vorliegenden Band kündet jede einzelne Geschichte von ihrem besonderen Talent und fesselt über weite Strecken, meist aber bleibt man am Ende doch unbefriedigt, weil die Autorin unbestreitbare Grundregeln der Gattung ignoriert. Eine davon lautet: Wenn eine Geschichte spärlich ausfällt, nur in Umrissen existiert, muß wenigstens die Pointe sitzen. Eine andere Regel postuliert, daß sich eine opulente Story nicht auf halber Strecke verlieren darf und daß es nicht befriedigend ist, wenn auch nur einer der Erzählstränge nicht zu Ende geführt wird.

„Zwölf Meter unter Normal Null“ ist der Titel einer 74seitigen Erzählung, in der es um die Lyrikerin Karla, Mitte Dreißig, geht, die als Barfrau ihren Unterhalt verdient. Zwei Jahre passiert in ihrem Leben buchstäblich nichts, und dann alles auf einmal: Ein Verlag will ihre Gedichte drucken, die gehemmt-zurückhaltende, sie aber bewundernde und anbetende mausgraue Julie tritt in ihr Leben, und nach einer Kontaktanzeige in der Zeitung entwickelt sich auch noch ein hocherotischer, phantasiegeschwängerter Briefwechsel mit der reifen, stinkreichen, eleganten Barbara. Im glanzvollen Badebassin, eben zwölf Meter unter der Erde, findet schließlich das lustvoll-enthüllende Treffen Karlas mit Barbara statt, und Julie entpuppt sich dabei als Barbaras einst zur Adoption freigegebene Tochter.

Das ist toll geschrieben, das Beste in dem Sammelband sicherlich, aber nicht frei von schwer verdaulichen Konstruktionen (die Sex-Party von zwanzig alternden Damen der High-Society, die Barbara im exquisiten Interieur arrangiert, ist recht unglaubhaft und im Grunde ganz überflüssig) und versehen mit nur matter Pointe (warum hat sich Barbara einst der Tochter entledigt, wie kam sie später zu solch grenzenlosem Reichtum, wie lebt es sich als Lesbe in der Ehe mit einem Mann, der das Geld ankarren muß). Oder sind solche Fragen viel zu ernsthaft für die kleine Form, deren sich die Autorin bedient, und es geht nur um den bizarren Einfall und die erotische Phantasie? Aber Karlas Existenz als Barfrau wird so exzellent, so realistisch-genau erfaßt und beschrieben, daß daraus Maßstäbe erwachsen, nach denen man auch den Rest der Story beurteilt.

Auf ähnliche Probleme stößt man auch bei mindestens vier der sechs weiteren Erzählungen, die der Band enthält. In „Die Mephisto“ zum Beispiel wird die Erzählerin von einer starken und brutalen Frau im Lederkleid gekidnapt, in einen SM-Raum verschleppt, entkleidet, ans Kreuz gebunden und drangsaliert. Einerseits hat sie schreckliche Angst um ihr Leben, andererseits fürchtet sie, sich in sinnlicher Hingabe zu verlieren und ihre Geliebte zu verraten. Am Ende stellt sich heraus, daß die Aktion von der Geliebten in Auftrag gegeben wurde. Die ist dann plötzlich zu Stelle („Ihr ganzer Körper umarmte mich“) und sagt: „Wenn du dich ausgeruht hast, fahre ich dich zu mir nach Hause.“ Und die Erzählerin? Sie „hat keine Fragen“ (nach dem Motiv zum Beispiel), „sie wollte nur küssen“. 39 Seiten dichte Spannung um der Spannung willen? Fühlte man sich da nicht ein wenig an der Nase herumgeführt?

Den geschlossensten Eindruck hinterläßt die kürzeste Geschichte - „Zweiundsechzig Kilo fremder Mensch“ umfaßt nur drei Seiten. Eine Frau fühlt sich einsam, reißt einen Mann in gleichem Gefühlszustand auf. Man hat kein Interesse aneinander, schläft aber miteinander, ist sich gleichgültig, geht auseinander. Die Frau befriedigt sich selbst und denkt: „Das nächste Mal.“ Noch in einer zweiten Geschichte spielt ein Mann eine Rolle (alles andere wickelt sich nur unter Frauen ab): „Teile und herrsche“ (9 Seiten) erzählt vom Versuch des Zusammenlebens. Aber selbst die Leidenschaft eines Homos für eine Lesbe kann nicht von Dauer sein, es kommt zum tragischen und schmerzhaften Scheitern.

Den schwächsten Eindruck hinterläßt die Geschichte, die dem Buch den Titel gab (12 Seiten). Eine Frau konstruiert da eine Orgasmusmaschine, in die man hineinkriechen soll, um loszulassen, zu vergessen, den Kopf zu verlieren, „der Kopf soll zu Geschlecht werden“. Natürlich funktioniert die Maschine nicht, die Frau verläßt sie ohne Orgasmus und erkennt: Man darf das Denken nicht ausschalten, um sinnlich zu werden, man muß im Gegenteil Kopf und Körper zusammenführen. Nun, eine solche Kopfgeburt kann auch trotz der Erzählerqualitäten der Autorin kein Leben gewinnen, das muß eine Fehlkonstruktion bleiben.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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