Eine Rezension von Waldtraut Lewin
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Lebenslabyrinth

Margaret Atwood: Der blinde Mörder
Roman. Deutsch von Brigitte Walitzek.
Berlin Verlag, Berlin 2000, 691 S.

Im November vorigen Jahres erhielt die Kanadierin Margaret Atwood den Booker-Preis, die wichtigste Auszeichnung der englischsprachigen Literaturwelt für diesen Mammutroman.

Was kommt da auf uns zu - von der Autorin, die uns mit Büchern von glasklarer Härte und bestürzenden Geschichten wie Report der Magd oder Räuberbraut atemlos gemacht hat? Nun, das vorweg: Den Atem nimmt uns Der blinde Mörder mit seiner vielfach verschlungenen, Erzähl- und Zeitebenen wechselnden Story nicht. Das Geflecht von Vor- und Rückblenden, Einschüben und prismatisch gebrochenen Perspektiven wiederzugeben kann in der hier gebotenen Kürze nicht gelingen und würde zu heilloser Verwirrung führen.

Die Geschichte der zwei Schwestern, die den gleichen Mann lieben und beide einem anderen ausgeliefert sind, die eine als unfreiwillige Geliebte, die andere als Ehefrau, beginnt in den dreißiger Jahren. Das Buch jedoch fängt nach dem Zweiten Weltkrieg an, mit einem Satz, so stark und lapidar, daß er der Beginn einer Novelle Heinrich von Kleists sein könnte: „Zehn Tage nach Kriegsende lenkte meine Schwester Laura ein Auto von einer Brücke.“ (Bedauerlicherweise wird im Klappentext dieser Satz in einer anderen Übersetzung zitiert - einer besseren, wie ich meine: „Zehn Tage, nachdem der Krieg zu Ende war, fuhr meine Schwester Laura einen Wagen von der Brücke.“ Das in Parenthese. Es soll die Übersetzungsleistung von Brigitte Walitzek nicht schmälern, sie kann gewiß nicht an einem Satz gemessen werden - aber so etwas ist unmöglich.)

Erzählt werden all diese Irrungen und Wirrungen - immer wieder unterbrochen vom Roman im Roman - von der älteren der Schwestern, Iris, die inzwischen zweiundachtzig Jahre alt ist und in einem immer fulminanter, immer temporeicher werdenden Rückblick die Lebens-Vorgänge der beiden Frauen darstellt, kommentiert, analysiert, entschlüsselt. Das Buch im Buch, der phantastisch-erotische Roman Der blinde Mörder, das den postumen Ruhm der toten Laura begründete, stammt eigentlich von ihr - so wie das wenigste in diesem Buch in Wahrheit so ist, wie es auf den ersten Blick aussieht; ein Spiegelkabinett von Verweisungen und Verdrehungen, ein Labyrinth.

Was ist dieses Buch? Ich weiß es nicht. Ein bürgerlicher Familienroman, ein Enthüllungsroman, der die Doppelmoral der gehobenen Mittelschicht entlarvt, ein Sittenbild, eine verzwickte Love-Story, ein Doppelpsychogramm der seelenverwandten Schwestern, ein Krimi, ein literarisches Puzzle? Alles das auf einmal. Aber es geht letzten Endes nicht um Genres. Es geht um eine Erzähl-Haltung und um eine Sprache.

Die Diktion der Atwood - im Doppelgängerbild der Ich-Erzählerin Iris - ist von einmaliger Köstlichkeit. Sie hat unglaubliche Transparenz, ohne karg zu sein, ist reich an Metaphern, ohne maniriert zu erscheinen, ist poetisch, ohne sentimental zu werden, und besitzt vor allem einen so sarkastischen Witz, eine so lakonische Ironie und Selbstironie, daß es eine reine Freude ist.

Die Sprache macht Der blinde Mörder zu dem, was dies Buch ist - zu einer Sache, bei der man als lesender Mensch inmitten der uns umgebenden literarischen Wüstenei tief durch- und voll ausatmen kann. Immer wieder, wenn ich versucht war, mich vor den komplizierten Strukturen dieses dicken Wälzers geschlagen zu geben und ihn aus der Hand zu legen, fesselte mich einer dieser herrlich unverfrorenen, dieser so klaren Auges abgegebenen Kommentare von Iris = Atwood, fing mich ein Bild, fing mich ein Absatz wieder ein. Fand ich's einfach zu schön, um aufzuhören.

Bewundernswert der Atem, den das Ganze hat, bewundernswert Atwoods Kunst der Steigerung, ihre Fähigkeit, auf den letzten hundert Seiten noch einmal an Tempo zuzulegen, den verzwickten Handlungsablauf wie einen Kranz zum Anfang zurückzubiegen und endlich die Fäden zu entwirren. Bewundernswert das Porträt der Iris als eine alte Frau, die gelassen und illusionslos ihrem verpfuschten Leben, dem Versagen ihres Körpers im Alter, dem nahen Ende ins Auge sieht, ohne den Humor zu verlieren.

Der blinde Mörder ist beileibe kein leichtes Lesefutter - in keiner Hinsicht. Keine Einschlaflektüre. Aber ein Genuß im höheren Sinne, eine reine Freude für den, der sich noch an Literatur erfreuen mag.

Ich habe den Anfang des Romans zitiert. Möge die Autorin auch das letzte Wort haben mit den Schlußsätzen ihres Buches: „Ich gebe mich in deine Hände. Welche andere Wahl habe ich? Wenn du diese letzte Seite liest, wird das - falls überhaupt - der einzige Ort sein, wo ich bin.“

Dem ist nichts hinzuzufügen. Lesen Sie!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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