Eine Rezension von Horst Wagner

Die deutsche Einheit - ein unvollendetes Projekt

Rolf Reißig: Die gespaltene Vereinigungsgesellschaft
Bilanz und Perspektiven der Transformation Ostdeutschlands und
der deutschen Vereinigung.
Karl Dietz Verlag Berlin, Berlin 2000, 160 S.

„Wenn man Vereinigung im wirklichen Sinne des Wortes als Zusammenführung, gar als Zusammenwachsen versteht, dann haben die Deutschen sich nicht vereinigt, sondern der kleinere, ärmere Teil ist dem größeren, reicheren und mächtigeren Teil beigetreten, und letzterer hat ersteren ,eingemeindet‘, ,einverleibt‘.“ So lautet nach gründlicher Analyse des über zehnjährigen Transformations- und Vereinigungsprozesses eine der Hauptschlußfolgerungen des 1987 als Mitautor des SED/SPD-Papiers bekannt gewordenen, seit 1990 an der Spitze des Berlin-Brandenburgischen Instituts für Sozialwissenschaftliche Studien stehenden Politologen und Soziologen Professor Rolf Reißig. Und die zweite, das bisherige Ergebnis dieses Prozesses betreffend, liest sich so: „Ein Staat, aber noch zwei Teilgesellschaften, zwei Wir-Gruppen, zwei kollektive Identitäten. Das heißt, der Systemintegration ist noch nicht die Sozialintegration, der staatlichen Einheit nicht die gesellschaftliche Einheit gefolgt.“ Von letzterer, der „inneren Einheit“, seien wir noch weit entfernt, sie sei „ein unvollendetes Projekt mit einer zum Teil offenen Perspektive“. Dabei ist Reißig durchaus kein Freund vorschneller Antworten, stereotyper (Vor-)Urteile. In seiner Studie grenzt er sich von DDR-Nostalgie ebenso ab wie von der Delegitimierung dieses Sozialismusversuches, von einer Beschönigung kapitalistischer Marktwirtschaft ebenso wie von ihrer undifferenzierten Verdammung. Das hebt sein Buch von manch anderer zum Vereinigungsjubiläum erschienenen Schrift vorteilhaft ab. Auch hat es Reißig verstanden, auf relativ knappem Raum viele Fakten zu komprimieren, sich mit verschiedenen Argumenten auseinanderzusetzen, interessante Fragen aufzuwerfen, sie plausibel zu beantworten und dabei zu neuen Fragestellungen zu kommen. Er versteht sein Buch vor allem als „Angebot zur Diskussion“.

Im ersten Kapitel geht Reißig noch einmal kurz auf die Ursachen des Zusammenbruchs der DDR ein; beleuchtet, warum es vom „Wir sind das Volk“ zum „Wir sind ein Volk“ kam. Er weist nach, daß der Systemwandel von der Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung durchaus gewollt war, daß der Einheitseuphorie aber Schock und Ernüchterung folgten und daß sich daraus eine „individuelle Anpassung und gesellschaftliche Distanz, verbunden mit neuer Nachdenklichkeit“, entwickelt hat. Er untersucht, ob ein anderes Vereinigungsmodell denkbar gewesen wäre, beschäftigt sich mit der „Schocktherapie“ des Umbruchs zur Marktwirtschaft und zeigt die Folgen des Elitenaustausches, der nicht nur die politische Führungsschicht betraf, sondern auch den größten Teil „der sogenannten DDR-Dienstklasse in Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft, Medien, Justiz, Militär und Verbänden“. So betrage heute bei einem Anteil der ostdeutschen Bevölkerung von 20 Prozent an der Gesamtbevölkerung Deutschlands bei Führungspositionen: in Justiz und Militär 0, in der Wirtschaft 0,4, der Verwaltung 2,5, der Wissenschaft 7,3, den Medien 11,8 und in der Gewerkschaft 12,4 Prozent.

Daran anknüpfend untersucht Reißig im zweiten Kapitel, warum einerseits die überwiegende Mehrheit der Ostdeutschen die Vereinigung nach wie vor eindeutig bejaht, sich aber weniger als ein Drittel (31 Prozent) im Gesellschaftssystem der Bundesrepublik wohler fühlen als in der DDR; warum 58 Prozent mit ihren persönlichen Lebensverhältnissen zufrieden sind, sich aber über 72 Prozent immer noch als „Bürger zweiter Klasse“ empfinden. In diesem Zusammenhang geht Reißig auch auf die Ursachen für einen verstärkten Rechtsradikalismus in Ostdeutschland ein. Die dramatischen gesellschaftlichen Umbrüche hätten hier zu „Formen der Entwurzelung und Verunsicherung, die Konkurrenz und der Veränderungsstreß zu Bedrohungsängsten und neuen Feindbildern“ geführt. Sich mit den gewandelten Werteorientierungen und der Entwicklung einer eigenen ostdeutschen Identität auseinandersetzend, geht Reißig den Spuren der „Ostalgie“ nach, warnt davor, daß ostdeutsche Identitätsbildung auch „Blockaden“ enthalten könnte, „mit denen sich die Ostdeutschen selbst unter- und miteinander beschäftigen sollten“. Andererseits betont er: „Ostdeutsche können sich in der gemeinsamen Republik ... nicht zuerst durch Anpassung, sondern vor allem durch Entfaltung der eigenen sozialen und kulturellen Potentiale emanzipieren.“

Wie das geschehen könnte, darauf geht Reißig im dritten Kapitel näher ein, wobei er unterstreicht, „daß der Wandlungsdruck inzwischen die Bundesrepublik als Ganzes eingeholt“ hat. Deshalb müsse man „vom Aufbau Ost als Nachbau West zum Umbau in Ost und West; von der klassischen Transformations- und Vereinigungspolitik zur Reform- und Innovationspolitik“ kommen. Im vierten Kapitel versucht Reißig, Lehren und Schlußfolgerungen zu ziehen, wobei er sich hütet, irgendwelche Modelle zu propagieren, sondern nur betont, daß „der Suchprozeß nach neuen Antworten und Lösungen - auf der Grundlage der zivilisatorischen Errungenschaften und der neugewonnenen Erfahrungen aus der abgelaufenen Epoche - nicht beendet“ ist. Nicht so sehr für einen breiten Leserkreis, sondern mehr für die Berufskollegen gedacht ist offenbar das abschließende fünfte Kapitel über den „Erkenntnis- und Ertragswert“ der Transformations- und Vereinigungsforschung. Insgesamt jedenfalls haben wir es mit einem Buch zu tun, das trotz bescheidenem Umfang und schlichter Aufmachung von erheblichem inhaltlichen Gewicht ist.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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