Eine Rezension von Gerhard Keiderling

Kirche beiderseits der Mauer

Werner Radatz/Friedrich Winter: Geteilte Einheit
Die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg 1961 bis 1990.
Wichern-Verlag, Berlin 2000, 288 S.

Im Rückblick auf eine „geteilte Einheit“ ist nach vollzogener Einheit dieses instruktive Buch geschrieben worden. Seine Verfasser sind Zeitzeugen, mehr noch Akteure der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg in der betrachteten Zeitspanne zwischen Mauerbau 1961 und Mauerfall und Wiedervereinigung 1989/90. Werner Radatz war Superintendent und Präsident der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche der Union (EKU) in West-Berlin und Friedrich Winter Propst und Präsident der Kirchenkanzlei der EKU in Ost-Berlin. Beide haben ihre Erlebnisse und Erfahrungen in parallelen Beiträgen niedergelegt. Das Buch fügt die getrennten Sichten zu einer Gesamtschau, die Gemeinsames wie Unterschiedliches markiert.

Die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg war die einzige der 24 Landeskirchen, die von der deutschen Spaltung direkt betroffen war. Die Mauer teilte sie im August 1961 in zwei Regionen, beide Teile betonten die gesamte Trennungszeit über ihre Zusammengehörigkeit und versuchten, solange und soweit es möglich war, sie auch zu praktizieren. Von Vorteil war es, daß sich die Kirche schon in den fünfziger Jahren mit zwei Verwaltungen - die Konsistorien Ost und West - auf den Status quo eingestellt hatte. So wenig sich die berlin-brandenburgische Kirche zwischen den Machtblöcken zerreiben ließ, so mußte sie doch den politischen Realitäten Rechnung tragen, was sich in manch unterschiedlichen Entwicklungen, wie in der Zusammenarbeit zwischen Staat und Kirche, in der Gemeinde und im diakonischen Werk, äußerte. Daß dies aber niemals einen Graben zwischen beiden Regionen aufwarf, bestätigte die reibungslose Aufhebung der Regionalisierung 1990/91.

„Auf der Insel“ tituliert Werner Radatz seine Darstellung der West-Region. Nach Gemeinde- und Mitgliederzahl war sie zwar die kleinere, gemessen an ihrer politischen Wirksamkeit und Finanzkraft jedoch die weitaus bestimmende Institution. Radatz gibt einen gedrängten, aber überzeugenden Überblick über die fast drei Jahrzehnte: die direkten Auswirkungen des Mauerbaus 1961, die Problematik der Grenzüberschreitungen für die Mitglieder der Kirchenleitung, die Konzentration auf die Aufgaben der Kirche in West-Berlin, die Herausforderungen durch Studentenbewegung, Terrorismus und Hausbesetzungen und die innerkirchliche Auseinandersetzung mit konservativen Kräften. Auch das Thema „Stasi-Unterwanderung“ wird nicht ausgespart. Als nach dem Vierseitigen Abkommen von 1972 im Ost-West-Verhältnis eine Entspannung eintrat, führte dies auch zur Verdichtung der Beziehungen zur Region Ost. Dabei werden die Verdienste der Bischöfe Kurt Scharf (1966- 1976) und Martin Kruse (ab 1977) gewürdigt.

Friedrich Winter legt an seinen umfangreicheren Beitrag über die Region Ost einen sachlich orientierten Maßstab an, der zeitlich auch die fünfziger Jahre einschließt. In Anbetracht der Kirchenpolitik von SED/DDR steht zwangsläufig das Staat-Kirche-Verhältnis im Mittelpunkt, sowohl hinsichtlich der grundsätzlichen Existenzbedingungen, die ständig zwischen Repression und Tolerenz schwankten, als auch der Auswirkungen auf Kirchenleitung und -organisation, Pfarrer und Mitarbeiter, Gemeinde- und Jugendarbeit sowie soziale Dienste. Das Reizthema „Kirche im Sozialismus“ wird kurz angesprochen. Ebenso wird die vielerorts dokumentierte Stasi-Verquickung nur unter dem Aspekt der „staatlichen Einwirkung“ berührt: die „IM“ ließen sich auf Gespräche ein, „ohne sich dabei etwas zu denken“. Erwähnung finden Wehrdienstverweigerer und Akteure der Bewegung „Pflugschare zu Schwertern“. Zutreffend ist die Feststellung: „Während der gesamten regionalen Zeit verhielten sich die staatlichen Organe gegenüber der Kirchenleitung und Synode ängstlich und mißtrauisch ... Denn die Kirche war die einzige Großinstitution im Land, in der die SED keine Mitglieder und Parteigruppen als Steuerungsinstanz besaß. Das gelang auch nicht mit Hilfe der CDU.“ Hier liegt auch ein Schlüssel für die Rolle der Kirche im Selbstvernichtungsprozeß der DDR. Das „Staatsvolk“, das das Vertrauen in seine „führende Kraft“ verloren hatte, schöpfte Zutrauen zu Kirchenvertretern, die eine friedliche Wende versprachen. Ob man es wahr haben will oder nicht, die Kirche (die evangelische wie die katholische) hatte immer einen großen Einfluß auf den Gang der Dinge im geteilten Deutschland gehabt.

Das Buch ist ein wertvoller und zu vertiefender Betrachtung Anlaß gebender Beitrag zur berlin-brandenburgischen Kirchengeschichte nach 1945, zur Berliner Nachkriegsgeschichte wie auch zur Geschichte der DDR. Das mit Illustrationen ausgestattete Buch verfügt über eine Zeittafel, ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Sach- und Personenregister.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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