Eine Rezension von Horst Wagner

Wer zu seiner Geschichte steht ...

Hans Modrow: Von Schwerin bis Strasbourg
edition ost im Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2001, 320 S.

Am 17. Mai 1951 wurde Hans Modrow, damals 23 Jahre alt, vor zwei Jahren aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt und eben erst vom FDJ-Chef Honecker zum neuen Landesvorsitzenden des Jugendverbandes in Mecklenburg bestimmt, in dieser Funktion auch Mitglied des Landtages in Schwerin. Der amtierende Landtagspräsident, so erinnert sich der letzte SED-Ministerpräsident der DDR und heutige Ehrenvorsitzende der PDS, habe ihm damals „viel Erfolg zum Wohl des gesamten deutschen Vaterlandes“ gewünscht. Dieser 50. Jahrestag des Beginns seiner Abgeordnetentätigkeit - so der Autor - sei ihm ein formaler Anlaß gewesen, Rückschau auf seine Tätigkeit in Parlamenten unterschiedlicher Ebenen und in zwei verschiedenen politischen Systemen zu halten. Nach seiner Zugehörigkeit zum Mecklenburger Landtag war Modrow Mitglied der Ostberliner Stadtverordnetenversammlung (1953- 1971) und des Dresdener Bezirkstages (1972- 1989). Von 1958 bis 1990 saß er in der DDR-Volkskammer und von 1990 bis 1994 im Deutschen Bundestag. Seit 1999 ist Modrow Abgeordneter des vorwiegend in Strasbourg tagenden Europa-Parlaments. „Vermutlich gibt es in unserem Land keinen Abgeordneten“, resümiert er, „der so lange und in derart vielen Vertretungen gearbeitet und Erfahrungen gesammelt hat wie ich.“

Zugegeben: Ich war ein wenig skeptisch, ob Modrow nach seinen 1999 erschienenen ausführlichen Memoiren Ich wollte ein neues Deutschland und der im gleichen Jahr herausgekommenen ebenso analytischen wie persönlichen Studie Die Perestroika, nach seinen Beiträgen zu den Sammelbänden Gegen den Zeitgeist (1999) und Nachdenken über Sozialismus (2000) noch Wesentliches, Weitergehendes zu sagen hätte. Ich war angenehm überrascht und habe Von Schwerin bis Strasbourg mit wachsendem Interesse gelesen. Freilich: Am Anfang wird ein bißchen viel aus gehaltenen Reden zitiert. Aber das Ganze ist mehr als ein Herausstellen eigenen Wirkens, alles andere als simple Ablaufschilderung. Auch keine unkritische Nostalgie. Erinnerung verbindet sich hier mit kritischer Analyse, Gesamtschau mit interessanten Episoden, Geschichtsbetrachtung mit Zukunftsüberlegungen. Zwei Fragen stehen bei Modrows Überlegungen im Mittelpunkt: Warum ist die DDR trotz mancher guter Zielstellungen und dem ehrlichen Bemühen so vieler gescheitert? Und: Wie könnte, wie müßte wirkliche Demokratie - im Sinne von Volksherrschaft - funktionieren?

Das „realsozialistische“ System wird dabei ebenso kritisch betrachtet wie das kapitalistische, bürgerlich-parlamentarische. In den ersten Kapiteln wird deutlich, wie die gesamtdeutsche Sicht, die auch in Modrows Begrüßung im Mecklenburger Landtag wie in seinen dort gehaltenen Reden zum Ausdruck kam, später aufgegeben wurde (was freilich nicht in erster Linie Schuld der DDR war) und wie, vor allem seit dem Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker, die Volkskammerarbeit immer mehr zu Schablone und Farce erstarrte und in die Bedeutungslosigkeit gedrängt wurde. Kaum zu glauben aber wahr, was Modrow in diesem Zusammenhang schreibt: „Ich gehörte der SED-Fraktion an und habe es vermocht, mehr als zwei Jahrzehnte lang dort nicht einmal vom Pult zu sprechen.“ Erst als er in der Wendezeit mit der Regierungsbildung beauftragt wurde, habe er im Palast der Republik das Wort an die Abgeordneten gerichtet. „Vorher hatte ich, salopp gesagt, die Klappe zu halten.“

In den vier Jahren als Bundestagsabgeordneter hat Modrow zwar öfter gesprochen, war aber schockiert über die Atmosphäre persönlicher Angriffe. Seinen PDS-Fraktionskollegen, den Jenaer Universitätsprofessor Riege, haben solche, mit Stasi-Vorwürfen gespickte Angriffe, bekanntlich in den Selbstmord getrieben. Erschütternd das in diesem Zusammenhang von Modrow zitierte Protokoll von Rieges Bundestagsrede vom 13. März 1991 mit den sich steigernden, ebenso dummen wie beleidigenden, ebenso unverschämten wie unbegründeten Zwischenrufen. Modrow vermerkt andererseits auch die vernünftige, kollegiale Art solcher Politiker und Abgeordneten wie Hans-Jochen Vogel, Wolfgang Schäuble und Oskar Lafontaine. Er schreibt über seine Hochachtung für Willy Brandt und seine Bekanntschaft mit dessen Sohn Peter.

Zu den interessantesten Kapiteln gehört natürlich das über die Wendezeit, als Modrow Regierungsverantwortung trug. Zwar vermag ich nicht zu beurteilen, wie berechtigt seine Vorwürfe gegen Egon Krenz, gegen dessen Erinnerungen Oktober 1989 sind oder ob da nicht eher persönliche Ambitionen eine Rolle spielen. Aber neu scheint mir schon, was Modrow hier zum Zustandekommen der Runden Tische, zu Schalck und seinem Koko-Imperium, vor allem aber zum Sturm auf die Stasi-Zentrale am 15. Januar 1990 schreibt. Interessant dürfte für viele Leser auch sein, durch Modrow Details über die Arbeit eines Europa-Abgeordneten, auch über seine Diäten und Mitarbeiter zu erfahren.

Gleichsam nebenbei berichtet Modrow auch über seine zahlreichen Auslandsreisen, über die hohe Achtung, die ihm auch heute noch zum Beispiel in Japan entgegengebracht wird; über die von ihm gepflegten Kontakte der PDS zu ähnlichen Parteien vor allem in Ost-, aber auch in Westeuropa. Zuweilen klingt freilich auch Enttäuschung auf. Darüber, daß es auch in der PDS zur Entsolidarisierung kommt. Und Sorge, die PDS könnte werden wie andere Parteien auch. „Wer sich dem Zeitgeist beugt, läuft Gefahr, daß er umgeblasen wird, wenn der Wind plötzlich dreht. Wer einen Standpunkt hat, wer selbstbewußt mit beiden Beinen im Leben und zu seiner Geschichte steht, wird so schnell nicht umgehauen“, lautet sein abschließendes Credo.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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