Eine Rezension von Horst Klein

Eine Herausforderung, mit den ideologischen Facetten des
Parteikommunismus zu brechen!

Wladislaw Hedeler/Nadja Rosenblum:
1940 - Stalins glückliches Jahr
BASISDRUCK Verlag, Berlin 2001, 240 S.

Inzwischen gibt es wohl weltweit ein kaum noch zu überschauendes kritisches Literaturangebot zur historischen Rolle des Generalissimus J. W. Stalin. Indessen hat die hier zu besprechende Arbeit nicht nur den Vorzug der aktuellen wissenschaftlichen Forschung. Sie liest sich kurzweilig wie ein mit Horror gespickter Politkrimi. Die Autoren, die sich bereits als exzellente Kenner russischer Kommunismusgeschichte sowie der Geschichte der Kommunistischen Internationale und der entsprechenden Moskauer Archive ausgewiesen haben, belegen akribisch und sehr sachlich die Abartigkeit, Brutalität bzw. Verbrechernatur des „Großen Führers der kommunistischen Bewegung“ und des von ihm so geprägten politischen Systems. Zwischen Stalin und jenen Zeitgenossen, die sich in die humanistische kommunistische Vision einer klassenlosen Gesellschaft eingebunden zu sein glaubten, lagen Welten. Aber nicht nur dies: Selbst die Vasallen Stalins wurden früher oder später Opfer dieses sich selbst zerfressenden politischen, ideologischen und wirtschaftlichen Systems mit trügerischen Etiketten, wie u. a. „Sowjetunion“, „Diktatur des Proletariats“, „sozialistische Demokratie“, „Volksstaat“ und „Realsozialismus“. Die Sophistik bekam ihren Nährstoff aus dem noch immer schwer zu charakterisierenden, heute überwiegend als Stalinismus bezeichneten politischen System. Die vorliegende Arbeit nähert sich dem Wesen dieser Gesellschaft durch ein gründliches Sezieren des Diktators. Es geht den Autoren „um den sinnlichen Nukleus von Macht. Sie greifen das von E. Canetti in Macht und Überleben skizzierte groteske Bild auf, wonach die eigentliche Absicht des wahren Machthabers, so unglaublich es auch erscheinen mag, darin bestehe: „... er will der einzige sein. Er will alle überleben, damit keiner ihn überlebt. Um jeden Preis will er dem Tod entgehen, und so soll niemand, überhaupt niemand da sein, der ihm den Tod bringen könnte. Solange Menschen da sind, wer immer sie seien, wird er sich nicht sicher fühlen.“ Dies sei die komprimierte psychische Disposition Stalins. Allerdings, so bedauern die Autoren, seien historische „Zeugnisse über Stalin, gerade auch zu jenem Jahr, etwa autobiographische Auskünfte, Briefwechsel, Memoiren von engeren Mitarbeitern u. ä., die sehr über seine Erfahrungen des Glücks in dieser Zeit Nachricht geben könnten“, nach dem heutigen Wissensstand kaum erhalten geblieben. Es gebe derzeit auch noch keine dokumentarische Basis für eine Stalin-Biographie. Und dennoch werden sie fündig, spüren sie Zeitzeugenberichte und Archivdokumente auf, reproduzieren sie aus Berichten so oder so Beteiligter ein die humanistische Seele erschütterndes Bild jener Zeit. Beispielsweise wird aus Bucharins Erinnerungen eine Episode aus dem Jahre 1923 erzählt, als Stalin einmal seinen Kampfgefährten Dzierzynski und Kamenew Einblick in seine Seele gewährte. Damals habe er gesagt: „Sich seine Opfer wählen, den Plan bis ins kleinste vorzubereiten, unerbittlich seinen Rachedurst zu stillen und dann zu Bett zu gehen - etwas Süßeres gibt es auf der ganzen Welt nicht.“ Die Autoren wollen, wie sie bescheiden selbst formulieren, „in einer historischen Miniatur zum Sowjetjahr 1940 einige neue, alltagskundliche Akzente zum besseren Verstehen einer bestimmten, nämlich radikalen bzw. fundamentalistischen politischen Mentalität - die längst nicht vergangen ist - herausstellen, nicht einer womöglich pathologischen Individualität nachspüren“. Sie stellen sich die Frage, „ob und wann Stalin im politischen Handeln, das bei ihm alltäglich Entscheidungen immer auch über Leben oder Tod bedeutete, doch Glückserfahrungen haben könnte. Und was dessen ,Glück für die anderen bedeutete!“ Um die Antwort zu bekommen, wird der Glücksbegriff philosophisch hinterfragt und gefolgert, daß es sich bei diesem zunächst immer um einen vollkommenen Zustand gehandelt habe, sowohl in Hinblick auf Ereignisse als auch Erlebnisse. Aber nicht nur dies, denn man habe „Glück“ von altersher an der Größe der verfügbaren Güter gemessen, welche diese auch immer gewesen sein könnten. Im Jahre 1940 habe kein „anderer zeitgenössischer Machthaber ... derart absolute Macht“ besessen wie Stalin. „Keiner gebot so unbeschränkt - und ohne Skrupel - über Güter und Seelen wie er.“ Darin habe sich „sein Herrschaftsanspruch prinzipiell von beispielsweise der Machtergreifung Hitlers und seiner Idee eines nationalsozialistischen Deutschen Reichs“ unterschieden. Die Autoren begründen dies logisch und leicht nachvollziehbar so: „Hitlers Zerstörung der Weimarer parlamentarischen Demokratie und seine Formierung einer fremdenfeindlichen, antikommunistischen und rassistischen (vor allem eben antisemitischen) Volksgemeinschaft war ja gerade nicht verbunden mit der Zerstörung der Basisstrukturen der Eigentums-, Finanz- und Wirtschaftsformen der industriellen und agrarischen Produktion in Deutschland, und natürlich blieben auch die Jurisprudenz, die Diplomatie, das Militär sowie der Wissenschafts- und Universitätsbetrieb, Glauben, Erziehung etc., als dann euphemisch deutsch genanntes Kulturgut in ihren überkommenen Grundstrukturen erhalten. Auch gab es eine anerkannte Kultur des Privaten. Hitlers Wyschinski etwa, der furchtbare Jurist Roland Freisler, hätte niemals, zudem noch in Friedenszeiten, die grundloyale Partei-, Militär- und Diplomatenelite des ,Dritten Reiches ,mittels erfolterten Geständnissen‘ angeklagt und wie tollwütige Hunde erschießen lassen können.“ Im Unterschied zu Hitler habe Stalin nicht nur den Umfang der diese Gesellschaft geistig konstituierenden symbolischen Güter bestimmt, sondern er sei selbst das symbolische summum bonum (höchste Gut) der Neuen Welt gewesen. Der bolschewistische Anspruch, Subjekt eines radikalen Umsturzes aller gesellschaftlichen Verhältnisse sein zu wollen, habe die Idee und Praxis der Avantgarde-Partei als einer Partei „neuen Typus“ zur Voraussetzung gehabt. Die Autoren analysieren die so legitimierte Verfügbarkeitsmacht Stalins, die zu keinem Zeitpunkt größer gewesen sei als 1940, indem sie die mörderische Rolle des absoluten Diktators in den 12 Monaten des Jahres aufhellen und dabei faktenreich die Verknüpfung mit den vorangegangenen Ereignissen und den selbstzerstörerischen Konsequenzen schildern. Aus den übergreifenden Fakten und Ereignissen, die in ihrer Brutalität und Menschenverachtung - im Namen der „Revolution“ - durch andere Formen des Antikommunismus wohl kaum zu übertreffen waren, treten die nachfolgend skizzierten besonders hervor:

Den am 23. August 1939 von der Sowjetunion und Hitlerdeutschland unterzeichnete Nichtangriffspakt - mit den bis 1988 geheimgehaltenen Zusatzprotokollen - habe Stalin als „eine neue Ära in den deutsch-russischen Beziehungen“ und als „eine durch Blut besiegelte Freundschaft“ bezeichnet. Von nun an galten nicht Nazi-Deutschland, sondern das „plutokratische“ England und das „kosmopolitische“ Frankreich als Kriegsbrandstifter. Zu den Konsequenzen der Komintern habe gehört, daß Walter Ulbricht die Feststellung Stalins von der tiefen Freundschaft mit Hitlerdeutschland aufgegriffen und auch erneut eine aggressive Polemik gegen die Sozialdemokratie als „Sozialfaschisten“ gefordert habe. Es wird auf die geopolitische Dynamik des Paktes verwiesen, die die größte geographische Ausdehnung der Sowjetunion in ihrer Geschichte zur Folge gehabt habe. In diesem Zusammenhang widmen sich die Autoren dem Kapitel „Katyn“. Obgleich die Sowjetunion mit Polen seit 1932 einen Nichtangriffspakt hatte, war sie ohne Kriegserklärung in Polen einmarschiert. Unter den polnischen Gefangenen habe das NKWD systematisch die Offiziers- und Beamtenelite - 21 857 Personen - aussortiert und diese ohne Anhörung oder Anklage zum Tod durch Erschießen verurteilt. Der Befehl zu diesem Verbrechen sei von Stalin, Woroschilow, Molotow, Mikojan, Kalinin und Kaganowitz unterzeichnet worden. Im April und Mai 1940 habe man den Befehl im Wald von Katyn ausgeführt.

Ausführlich werden das NKWD- und Gulag-System sowie Beispiele davon betroffener Menschenschicksale geschildert, mit all der Brutalität, Tragik, dem Wahnwitz und Schmutz. Die Hauptkartothek des Gulag habe im März 1940 8 Millionen Karteikarten, darunter 4000 mit Angaben über inhaftierte Ausländer enthalten. Zu dieser Zeit habe das Gulag-Imperium 53 Lager, 525 Besserungsarbeitskolonien (davon 170 Industriebetriebe) und 50 Kolonien für Minderjährige umfaßt. Das Ausmaß von Gulag und Zwangsarbeit wird mit Zahlen belegt, jedoch überschreitet es die menschliche Vorstellungskraft. Es wird die Irrationalität, das Mörderische in diesem von Stalin und seinen Epigonen entwickelten System der Menschenvernichtung geschildert, und dieses traf letztlich selbst Mordkomplizen wie den einstigen Volkskommissar für Inneres Jeshow, der im Februar 1940 erschossen wurde. Für die Angehörigen der liquidierten Volksfeinde habe es spezielle Lager gegeben. Es sei unmöglich gewesen, der Sippenhaftung zu entgehen. „Verhaftet wurde bis ins vierte Glied.“ Selbst nahe Verwandte des Diktators sollen kaum eine Chance des Überlebens gehabt haben. Unfaßbar sei das Ausmaß der „Säuberung“ in der Roten Armee gewesen. So habe Woroschilow - als einer der Hauptakteure genannter Verbrechen - bereits 1938 über die Erschießung von 600 Befehlshabern der Roten Armee berichtet. 91 Prozent des Offizierskorps seien von „Säuberungen“ betroffen gewesen.

Ein besonderer Glücksfall Stalins sei im August 1940 die Ermordung Trotzkis in Mexiko gewesen, des Organisators des Oktoberumsturzes von 1917 und Gründer der Roten Armee. Nunmehr habe Stalin in dem von ihm vorgegebenen bzw. verfälschten Geschichtsbild den tatsächlich von Trotzki besetzten Platz selbst einnehmen können.

Im Zusammenhang mit der Aufhellung von Terror bzw. „Säuberung“ skizzieren die Autoren auch den Leidensweg der politischen Emigranten in der Sowjetunion, die ebenso wie ihre sowjetischen Brüder der Verhaftung, Verurteilung und im weiteren auch der Auslieferung an die Gestapo ausgesetzt waren. Zu den namhaften Opfern jener Zeit habe auch der ungarische Philosoph Georg Lukacs gehört. Er sei 1941 wegen angeblicher Spionage verhaftet worden, konnte jedoch der „Normalität“ des Terrors entgehen. Während Tausende Politemigranten an die Gestapo übergeben wurden, habe man auch von Zeit zu Zeit prominente Funktionäre der internationalen Arbeiterbewegung den „Kasematten der Bourgeoisie“ entreißen können, so beispielsweise Matyas Rakosi und Zoltan Vas nach 15jähriger Haft in Horthys Gefängnissen. Dagegen habe Stalin auf die Befreiung Ernst Thälmanns verzichtet. Ebenso merkwürdig das Schicksal des Werner Hirsch, enger Mitarbeiter von Thälmann, mit ihm zusammen verhaftet und ein Jahr später aus der KZ-Haft entlassen, 1936 Emigrant in Moskau, 1937 verhaftet und zu zehn Jahren Haft verurteilt, starb in Erwartung seiner Auslieferung an die Gestapo im Butyrka-Gefängnis „an Herzversagen“.

Im Kapitel „Ausblick 1941“ schildern die Autoren das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter in Deutschland. Gemäß Stalin-Befehl Nr. 270 vom 16. August 1941 galten Kriegsgefangene als „Vaterlandsverräter“. Allein bis Ende 1941 seien 3,8 Millionen Rotarmisten in deutsche Gefangenschaft geraten. Im weiteren habe es 4,8 Millionen zivile sowjetische Zwangsarbeiter gegeben, die später nach ihrer „Befreiung“ 1945 den Leidensweg in das Gulag-System anzutreten hatten. Die Autoren erinnern an Immanuel Kants Erkenntnis, wonach „der Besitz der Gewalt das freie Urteil der Vernunft unvermeidlich verdirbt“ und bringen dies mit einem Stalin-Zitat aus Dimitroffs Tagebuch auf den Punkt. Aus Anlaß des 20. Jahrestages der Oktoberrevolution habe Stalin in einem Trinkspruch so formuliert: „Wir werden sie alle vernichten, mögen sie alte Bolschewiken sein oder nicht, wir werden sie mit Kind und Kegel vernichten. Jeder, der durch seine Taten oder Gedanken - ja, auch durch seine Gedanken - die Einheit des sozialistischen Staates gefährdet, wird vernichtet. Auf die Vernichtung aller Feinde, ihrer selbst und ihrer Sippschaft, bis zum völligen Ende!“

Das hier besprochene Buch ist mehr als eine weitere lesenswerte Publikation zur Offenlegung des verbrecherischen und somit sozialismusfeindlichen „Stalinismus“; es kann dem noch in positiver Nostalgie lebenden Gefährten der „realsozialistischen“ Gesellschaft ermutigen, mit dem stalinistischen Parteikommunismus und mit all seinen noch immer hörbaren ideologischen Facetten zu brechen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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