Eine Rezension von Irene Knoll

Wort für Wort - eine exzellente „Übersetzung“* von
Walsers Rede

Jürgen Harder: Walsers Rede oder Eine unerlässliche Erinnerung
GNN Verlag, Schkeuditz 2001, 82 S.

Anderthalb Jahre ist es jetzt her, daß der Schriftsteller Martin Walser mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt wurde und in der Frankfurter Paulskirche, wo vor einhundertfünfzig Jahren der bürgerlich-demokratischen Revolution der Garaus gemacht wurde, jene Rede hielt, die für Monate zum mediengelenkten Spektakel öffentlicher Meinungsmache und Polarisierung wurde. Der obligaten Dankesrede des Preisempfängers lauschen an diesem nationalen Ort gemeinhin die höchsten Repräsentanten aus Politik, Wirtschaft und den Institutionen des gesellschaftlichen Lebens, und diese lauschten 1998 auch Martin Walser, „öffentlichste Öffentlichkeit, Medienpräsenz“, wie er, einen Anflug von Einschüchterung ob der Erwartungen simulierend, anmerkte. Das hohe Auditorium dankte ihm mit stehenden Ovationen, angeregt und begeistert und voller Respekt für den Mann, der es 1977 gewagt hatte zu sagen: „Ich halte es für unerträglich, die deutsche Geschichte - so schlimm sie zuletzt verlief - in einem Katastrophenprodukt enden zu lassen.“ Daran erinnerte er am geschichtsträchtigen Ort, und weiter: „Wir dürften, sage ich vor Kühnheit zitternd, die BRD so wenig anerkennen wie die DDR. Wir müssen die Wunde namens Deutschland offen halten.“ Ein Satz, der ihm damals, 1977, keine Freunde machte, aber ein glücklich gewähltes Selbstzitat nach fast zehn Jahren deutscher Vereinigung, das des Redners kritische Unbestechlichkeit im Verständnis der nationalgeschichtlichen Ereignisse auszuweisen scheint und einen Patriotismus, der durch die Parteigänger der politischen Realitäten nicht zu irritieren ist. Dieses Wissen um Walsers konsequente Haltung zur Teilung Deutschlands mag der vertrauensvollen Zustimmung zu seiner Rede Vorschub geleistet haben, wenngleich es einem, wenn man die ganze Rede vor Augen hat, wie ein Gaukelspiel von Mario, dem Zauberer, vorkommt, daß die dort versammelte Intelligenz und Staatsrepräsentanz der Magie nicht gewahr wurde, die in der Rede ihr verführerisches Spiel trieb. Ignatz Bubis allerdings, damals Vorsitzender des Zentralvorstandes der Juden in Deutschland, vermeinte in Walsers Vortrag unterschwellig eine antisemitische Tonart zu vernehmen und zieh ihn, ebenfalls öffentlich, der „geistige(n) Brandstiftung“.

Auf dieses Wort von Bubis und auf Stichworte aus Walsers Rede wie „Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken“ oder „Auschwitz“ eigne sich nicht zur „Moralkeule“, auf die sich Bubis in seiner Erwiderung bezogen hatte, gründete sich die nun öffentlich geführte Debatte um Walsers Rede.

Walser hatte gewissermaßen aus dem Herzen der „neuen Mitte“ gesprochen, mit der die sogenannte Berliner Republik ihre Authentizität konstituierte und ein neues Erscheinungsbild Deutschlands in Europa intendierte, das die deutsche Vergangenheit, Nazikriegsverbrechen und Antisemitismus als irrelevant für den neuen Staat in den Hintergrund zu drängen trachtete. Ignatz Bubis sah in Walsers Rede ein Signal für die Ausbreitung antisemitischer Ideen auf größere Schichten der Gesellschaft: „Deshalb war mir diese Intervention so wichtig. Vielleicht kann man ja den einen oder anderen noch ein bisschen aufklärend beeinflussen.“ Dieser Absicht schließt sich Jürgen Harder in einem Vorwort zu seinem Essay Walsers Rede oder Eine unerlässliche Erinnerung an. Er unterzieht Walsers Rede einer kritischen Betrachtung, und zwar wortwörtlich. Er unterwirft sich einer Mühe, die sich keiner der Sympathisanten oder Gegner Walsers, mehr um Profilierung im Walser-Streit und weniger um Wahrheiten bemüht, gemacht hatte: Er legt die Strukturen dieser Rede frei und entblößt ihre geistig-seelischen, die ideellen und die ideologischen Motive. Harder seziert Sätze und Worte und folgt ihren Wirkungen im Gesamtzusammenhang des Textes. Und der erweist sich nun, so schlicht er sich in die ganz intimen Gewissensfragen und Wahrnehmungen der sensiblen künstlerischen Persönlichkeit hüllt, als Text von beträchtlicher politisch-ideologischer Vehemenz. Harders bewunderungswerte Analyse fördert zutage, was unter der rhetorischen Stukkatur fast verschwindet: die Denunziation von Intellektuellen und Künstlern, die, anders als Walser, nicht „wegsehen“ oder „wegdenken“ wollen, wenn in Deutschland wieder jüdische Friedhöfe geschändet werden und Synagogen brennen, sondern an das Gewissen der Bürger und an das der staatstragenden Kräfte appellieren, einer Wiederholung antisemitischer Verbrechen in Deutschland vorzubeugen. Von solchen „Gewissenswarten der Nation“ und „Meinungssoldaten“ fühlt sich Walser in der zarten Intimität seines Gewissens belästigt. Natürlich leugnet er Auschwitz und die „deutsche Schande“ nicht, und Harder läßt ihm auch Gerechtigkeit widerfahren. Was er indirekt leugnet, ist die Notwendigkeit und Pflicht, das Bewußtsein davon, Erinnerung daran wachzuhalten. Mit der Wendung gegen „die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken“ erreicht er ein Publikum, das im neuen Deutschland zur „Normalität“ der Gesellschaft kommen will, indem es die wunden Punkte der deutschen Vergangenheit und der Gegenwart tabuisiert, mit dem Wunsch, auch der Rest der Welt fiele in Vergessenheit darüber. Harder erkennt in Walsers Rede jenes Material und zieht die rhetorischen Postulate zusammen, die sie sowohl als Selbstinszenierung offenbaren wie als antiintellektuellen Affront: „Ich jedenfalls habe meine Kritik fast durchgängig, ja gerade an der eigentümlichen Rhetorik Walsers festgemacht. An dessen auffälliger Geringschätzung für die erhellende Argumentation. An dessen nahezu ausschließlichem Vertrauen in die eher dunkle Suggestivmacht von Sprache.“

Jürgen Harder ist Kultur- und Medienwissenschaftler, Germanist und promovierter Philosoph. Er sieht in der polemischen Zuspitzung der Erörterung seiner Gegenstände eine produktive, aber auch amüsante Methode, sie zu durchdringen. Vielleicht treibt ihn die Lust daran gelegentlich zur Haarspalterei, aber das ist ein geringer Makel im Verhältnis zur Erhellung der Thematik und, in diesem Falle, auch der Persönlichkeit Walsers. Allein so eine beiläufige Anmerkung über die Unangemessenheit einer Argumentation, „wozu Auschwitz sich nicht eignet“, schärft die Wahrnehmung. Ein kleines Psychogramm verweist aufschlußreich auf die Blessuren, die Walser mit in seine Rede genommen hat. Harder gibt durchaus zu erkennen, daß er sich in der Reihe der von Walser geschmähten Geister sieht, von Intellektuellen, die im aufmerksamen und aufklärerischen Wirken ihre Verantwortung für gesellschaftliche Entwicklungen sehen und wahrnehmen wollen. Paul Spiegel, der Ignatz Bubis im Amt folgte, nannte das aufklärerische Bemühen um geschichtliche und aktuelle gesellschaftliche Zusammenhänge die einzige Hoffnung. Ohne diese Hoffnung, so sagte er in einem Gespräch mit Günther Gaus, wäre er nicht im Amt.

Harders Examination von Walsers Rede zeigt, präziser als die Menge der Meinungsäußerungen, die seinem Auftreten in der Paulskirche folgten, wie recht Ignatz Bubis hatte, als er ihm „geistige Brandstiftung“ vorwarf. Bubis hat dieses Wort später, nach einem Gespräch mit Walser, zurückgenommen. Paul Spiegel sieht im Fortgang der Ereignisse seit Bubis' Tod, erinnert sei nur an die politische Debatte um den angemaßten Führungsanspruch für eine deutsche Nationalkultur und die NPD-Aufmärsche zum ersten Mai, zunehmend Anlaß zu Besorgnis über eine Rechtsradikalisierung und hat diese Rücknahme unlängst bedauert.


* Auf Ignatz Bubis' Wort von der „geistigen Brandstiftung“ hatte Martin Walser bei einem öffentlichen Anlaß mit dem Satz reagiert: „Ich hoffe, in Bubis' Umgebung finden sich Leute, die in der Lage sind, ihm meine Rede zu übersetzen.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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