Eine Rezension von Ursula Reinhold
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Engagierte Zeitzeugenschaft

Walter Grab: Meine vier Leben
Gedächtniskünstler - Emigrant - Jakobinerforscher - Demokrat.
PapyRossa Verlag, Köln 1999, 432 S.

Der Historiker Walter Grab ist mit seinen Arbeiten zu den demokratischen Bewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts über ein enges Fachpublikum hinaus bekannt. Er verbindet mit seinen Forschungen die Absicht, den Menschen ihren Namen wiederzugeben, die sich der politischen Reaktion entgegengestellt haben. Seine Lebensbeschreibung ist das Dokument engagierter Zeitgenossenschaft eines entschiedenen Demokraten. Die Darstellung vermittelt aufschlußreiche Einblicke in die Zeitgeschichte dieses Jahrhunderts. 1919 in Wien als Sohn einer assimilierten jüdischen Familie geboren, emigriert er 1938 nach der Besetzung Österreichs durch die deutsche Wehrmacht nach Palästina, ohne eine innere Bindung an den Zionismus zu haben. Für ihn ist Palästina Zufluchtsland, sein Interesse bleibt auf die deutsche Kultur und Geschichte gerichtet. Er wird zum Mitbegründer in einem „Kreis fortschrittlicher Kultur“, in dem er u. a. Arnold Zweig kennenlernt, und engagiert sich in linkszionistischen Gruppen und bis 1956 auch in der KP Israels. 1948 ist er am Überlebenskampf des neugegründeten Staates als Soldat beteiligt, erlebt als Zeitzeuge alle anderen kriegerischen Auseinandersetzungen und setzt sich nach dem Sechstagekrieg 1967 bis 1973 in der „Bewegung für Frieden und Sicherheit“ für einen friedlichen Ausgleich mit den arabischen Nachbarn ein. Seine Überzeugung, daß Israel nur im friedlichen Interessenausgleich mit den arabischen Nachbarn leben kann und den Palästinensern das Recht auf einen eigenen Staat zugestehen muß, läßt ihn zunehmend kritisch auf die expansionistischen Bestrebungen der israelischen Regierung schauen.

Bis in die Mitte der fünfziger Jahre ernährt er sich und seine Familie als Handwerker und Kaufmann und beginnt erst mit vierzig Jahren das Studium der Geschichte, der immer sein Interesse gegolten hatte. Trotz seines relativ spät begonnenen Forscherlebens wird er ein weithin bekannter und geachteter Wissenschaftler, dessen Hauptinteresse sich auf die Geschichte der demokratischen Bestrebungen im Deutschland des 18. Und 19. Jahrhunderts richtet, die sich im Gefolge der Französischen Revolution entwickelten und von ihr angeregt wurden. Mit seinen Arbeiten über die norddeutschen Jakobiner ist Grab neben Walter Scheel einer der Nestoren der Forschung über die deutschen Jakobiner geworden. Seine Arbeiten zeichnen sich durch die Erschließung neuen Materials aus, das er in Publikationen über die Französische Revolution, über die deutschen Jakobiner und deren Verhältnis zur Französischen Revolution, über die demokratischen Bewegungen des Vormärz, in Büchern über Georg Büchner und die Revolution von 1848, über Heinrich Heine als politischen Dichter ausbreitet. Vor allem auch seine Anthologien politischer Gedichte haben ihn einem breiteren Publikum bekannt gemacht. Ein weiterer Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit gilt dem Emanzipationsprozeß der Juden zwischen 1789 und 1930 in Deutschland und den Problemen deutsch-jüdischer Zusammenarbeit. Eine Auswahlbibliographie ist dem Buch angefügt, sie verzeichnet die wichtigsten Publikationen des Autors. Als Begründer eines Instituts für Deutsche Geschichte an der Universität Tel Aviv hat er sich zugleich auch praktisch für solche Zusammenarbeit eingesetzt, denn das Institut entstand in Kooperation mit Institutionen in der Bundesrepublik. Mit seinen Forschungsinteressen findet er im sich wandelnden Universitätsbetrieb der 60er und 70er Jahre in der Bundesrepublik, in Westeuropa und den USA wachsendes Interesse und zahlreiche Möglichkeiten der wissenschaftlichen Wirkung und Kooperation. Auf Grund politischer Enge kommt eine gedeihliche Zusammenarbeit mit geistig verwandten Forschern in der DDR nicht zustande.

Die Schilderungen der ersten beiden Lebensabschnitte („Kindheit und Jugend in Wien“; „Handwerker und Kaufmann in Tel Aviv“) geben interessante Einblicke in die soziale und religiöse Herkunft der aus dem Osten zugezogenen jüdischen Familie, lassen den Assimilationsprozeß im Wien seit der Jahrhundertwende aufscheinen und geben Auskunft über ihre späteren Schicksale. Auch auf die sozialen und zeitgeschichtlichen Gegebenheiten der dreißiger Jahre bis zur Besetzung durch die deutsche Wehrmacht fallen interessante Schlaglichter. Lebendig sind auch die Schilderungen über die Schwierigkeiten der Existenzgründung in Palästina, mit denen der Autor Einblicke in die widersprüchliche Situation derer vermittelt, die mit höchst unterschiedlichen Voraussetzungen und Prägungen in Israel eine Heimat suchten. Er macht die sozialen, kulturellen und ethnischen Diskrepanzen deutlich, die den Staat Israel bis heute in Spannung halten. Dagegen bleiben die Beschreibungen über den dritten und den vierten Lebensabschnitt („Akademiker in Israel und Deutschland“; „Fahrender Scholast aus dem Morgenlande“) im Summieren von Aktivitäten und Begegnungen, die eine erfolgreiche Forscherkarriere bestätigen, stecken. Über der Fülle der wissenschaftlichen Aktivitäten und Kontakte gehen thematische Zusammenhänge verloren. Zu dem beiläufig angemerkten Wandel, der sich im Geschichtsbild der Öffentlichkeit und in der Forschungslandschaft der letzten zwanzig Jahre vollzogen hat, hätte man sich ausführlicherer Erörterungen von Ursachen und Wirkungen gewünscht. Auch für die gelegentlich angemerkte Begegnung mit Forschern, die mehr oder weniger antisemitische Positionen erkennen lassen, könnte man sich als Leser ausführlichere Betrachtungen vorstellen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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