Eine Rezension von Horst Wagner

Eine große editorische Leistung

Georgi Dimitroff: Tagebücher 1933- 1943
Herausgegeben von Bernhard H. Bayerlein.
Aus dem Russischen und Bulgarischen von Wladislaw Hedeler und
Birgit Schliewenz.

Bernhard H. Bayerlein/Wladislaw Hedeler (Hrsg.):
Kommentare und Materialien zu den Tagebüchern
Aufbau-Verlag, Berlin 2000, 2 Bände im Schuber, 712 S. u. 772 S.

Auf dem Markt der politischen Sachbücher waren sie wohl d i e Sensation des Jahres 2000: die Tagebücher des Helden vom Reichstagsbrandprozeß und Generalsekretärs der Kommunistischen Internationale. Seit ihrem Erscheinen wird auf sie immer wieder verwiesen, wird aus ihnen zitiert, wenn es um Fragen des Stalinismus, der Zustände in der Sowjetunion, der Politik der Komintern oder die Rolle deutscher Kommunisten als Mitschuldige wie als Opfer geht. Aber auch über diesen Themenkreis hinaus liefern die Tagebücher und die ihnen als 2. Band beigefügten Kommentare und Materialien einen - wie es zu Recht im Klappentext heißt - „einzigartigen Stoff für Debatten und Epochenbilanzen“. Führen sie uns doch nicht nur in den Moskauer Kreml und in die Komintern-Zentrale, nicht nur in Stalins Datscha und die Sommersitze seiner Nomenklatura. Sie nehmen uns mit in die Moabiter Gefängniszelle wie in den Verhandlungssaal des Leipziger Reichsgerichts, zu den revolutionären Kämpfern in China wie zu den Interbrigadisten in Spanien, zu Titos Partisanen auf dem Balkan wie auf die Schlachtfelder des sowjetisch-finnischen Krieges und vor allem natürlich die des „Großen Vaterländischen“. Neben solchen Sowjetführern wie Stalin, Molotow, Berija und Manuilski, neben Komintern-Funktionären wie Maurice Thorez, Palmiro Togliatti und Wang Min, emigrierten deutschen Politikern wie Pieck, Ulbricht, Ackermann und Schriftstellern wie Becher, Bredel, Weinert, Wolf u. a. spielen insgesamt mehr als 2 000 Personen aus aller Welt in den Tagebüchern ihre größere oder kleinere Rolle. Allein die Kurzbiographien, die von Aandvord (Botschafter Norwegens in der UdSSR 1942) bis zur Moskauer Prominenten-Ärztin Zybulskaja reichen, füllen fast 300Seiten des Kommentarbandes.

Dimitroffs Tagebucheintragungen beginnen mit seiner Festnahme im Berliner Restaurant „Bayernhof“ am 9. März 1933, seiner ersten Vernehmung durch die „Kriminalpolizei im Reichstag“ und reichen bis zu Beratungen über die Auflösung der Komintern und zu einem Gespräch mit Stalin über die Gründung eines antifaschistischen Komitees „Freies Deutschland“ am 12. Juni 1943. Bayerlein macht in seinem einführenden Kommentar zu Recht auf den Wandel in Dimitroffs „Schreibstrategie“ aufmerksam. Zwar glaube ich nicht - im Unterschied zu Bayerlein - , daß sich aus Dimitroffs Aufzeichnungen aus der Haft- und Prozeßzeit in Berlin bzw. Leipzig „neuer Stoff für die Reichstagsbranddebatte ergibt“, sie bieten aber vielfältige Einblicke in die Persönlichkeit Dimitroffs, reflektieren seine Meinung zum politischen Geschehen, seine individuellen Ansichten und Beziehungen. Dimitroffs Stil und Methode, Tagebuch zu führen, ändern sich schlagartig mit seiner Ankunft in Moskau und seiner nach dem Reichstagsbrandprozeß ersten Begegnung mit Stalin am 7. April 1934. Nun tritt jede eigene Meinung zurück, wird auf Kommentierung verzichtet, beschränken sich die Eintragungen auf Datumsangaben und Kurzprotokolle zu geführten Gesprächen, erhaltenen oder gegebenen Weisungen, manchmal auch von Briefen. Diese „Zurückhaltung“ mag üblicher kommunistischer Parteidisziplin geschuldet sein, vor allem wohl aber dem eigenen Sicherheitsbedürfnis in einer Zeit allgemeinen Mißtrauens, der Verfolgung und Drangsalierung - auch der treuesten Genossen - durch Stalins Geheimpolizei, den wütenden Terror zur Zeit der Moskauer Prozesse.

Zwar läßt sich Dimitroff in Trinksprüchen gern als „Oberkommandierender der Komintern“ feiern. Seine Aufzeichnungen zeigen ihn aber eher als fleißigen und beflissenen Ausführer der Weisungen des allmächtigen Josif Wissarionowitsch. Dessen Handeln, dessen „Hinweise“ wie „launigen“, zynisch-brutalen Trinksprüche sind ihm oberste Wahrheit und Weisung, bleiben unkommentiert und selbstverständlich unwidersprochen. Auch jener inzwischen viel zitierte Trinkspruch auf dem Höhepunkt der Moskauer Prozesse: „... wir werden jeden dieser Feinde vernichten, sei es auch ein alter Bolschewik, wir werden seine Sippe, seine Familie komplett vernichten ... Auf die Vernichtung aller Feinde, ihrer selbst, ihrer Sippe - bis zu Ende“, protokolliert Dimitroff Stalins Toast bei einem Mittagessen mit 26 namentlich aufgeführten Personen nach der Militärparade zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution. Und er fügt wie selbstverständlich hinzu: „Zustimmende Ausrufe: Auf den großen Stalin“. Dabei zeichnen Dimitroffs „Protokolle“, wie ich finde, Stalin in seiner ganzen Widersprüchlichkeit. Einerseits der zynisch-brutale Diktator, andererseits der sachlich analysierende Realpolitiker, der auch kritische Einschätzungen trifft - zum Beispiel zum internationalen Kräfteverhältnis, zum Rückstand sowjetischer Militär- und Flugtechnik gegenüber der deutschen in den Vor- und ersten Kriegsjahren - und der sich (scheinbar?) gegen den Kult um seine Person wehrt.

Dimitroffs „Rückversicherung“ zeigt sich wohl auch darin, daß er die Anschuldigung von Geheimdienstchef Jeshow, die größten Spione seien in der Komintern zu finden, kommentarlos hinnimmt und um eine „Überprüfung“ seiner Mitarbeiter bittet. Aus gleichen Gründen zu erklären ist sicher, daß man in den Tagebüchern nichts über die Rolle Wilhelm Piecks, des KPD-Vertreters im Exekutivkomitee der Komintern, bei der Verteidigung oder Beschuldigung deutscher Genossen findet. Es gibt nur wiederholt die lakonische Notiz: „Pieck - zu deutschen Angelegenheiten“. Auch über die vieldiskutierte Rolle Herbert Wehners in Moskau findet sich nichts. Dagegen erfährt man, daß Dimitroff maßgeblich am Beschluß über Wehners KPD-Ausschluß im Juni 1942 wegen seiner Aussagen gegenüber der Gestapo in Schweden beteiligt war.

Ausführlich und zum Teil spannend zu lesen sind Dimitroffs Aufzeichnungen seit dem Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion im Sommer 1941. Sie geben einen detaillierten Einblick über das Geschehen an den Fronten und bei den Partisanen. Sie zeigen die Arbeit der Komintern zur Unterstützung der Widerstandsbewegung auf dem Balkan, in Frankreich, Polen und anderen europäischen Ländern, Dimitroffs Bemühungen um die Bildung einer breiten, weit über die kommunistischen Kräfte hinausreichenden Volksfront. Geschildert wird auch die Propagandatätigkeit zur moralischen Kompensierung der anfänglichen schweren Niederlagen der Roten Armee bzw. später zur gebührenden Würdigung ihrer Siege. Eine große Rolle spielt die Arbeit der deutschen Genossen in den Kriegsgefangenenlagern und bei den verschiedenen antifaschistischen Rundfunksendern wie auch bei den „Geisterstimmen“, die sich zum Teil in Hitlers Ansprachen „eingemischt“ haben. Dabei findet sich durchaus auch Kritisches, bis hin zur Beschwerde Weinerts und Bredels bei Dimitroff, „die russischen Genossen in der Politverwaltung berücksichtigten die deutsche Mentalität nicht“. Noch einmal sehr persönlich werden die Eintragungen zum Tod von Mitja, dem Sohn Dimitroffs, und seiner Frau Rosa im April 1943. „Mit dem Sarg von Mitja sind dreiviertel unseres persönlichen Lebens verbrannt.“ Ausführlich werden schließlich die Vorbereitungen zur Auflösung der Komintern geschildert, wobei Dimitroff Stalins Äußerung wiedergibt, „daß es unmöglich sei, die Arbeiterbewegung aller Länder von einem internationalen Zentrum aus zu leiten“.

Eine hervorragende Hilfe, sich in den Tagebüchern und dem historischen Geschehen zurechtzufinden, bietet der von Bayerlein, Hedeler und ihren Mitarbeitern besorgte Kommentarband. Neben den schon erwähnten Kurzbiographien sowie Kommentaren der beiden Herausgeber enthält er eine Chronik der Ereignisse vom 1. Januar 1933 bis zum Juni 1943, ausführliche Anmerkungen zu vielen Tagebuchstellen, eine umfangreiche, in Themenkreise gegliederte Kurzbibliographie, detailreiche Angaben über Leben und Familie des Tagebuchautors, seitenbezogene Personen- und Ortsregister sowie ein Verzeichnis aller in den Tagebüchern erwähnten Pseudonyme. Nicht zu vergessen der 35 Fotos umfassende Bildteil. Leider haben sich auch einige Fehler eingeschlichen. So springen die Jahreszahlen der Chronik am Schluß von 1943 auf 1942 zurück. Auch ist das Kommunistische Manifest nicht, wie in der Kurzbiographie Marx' vermerkt, 1849 erschienen, sondern bereits im Jahr davor. Trotzdem stellen die Tagebücher, alles in allem, eine hervorragende editorische Leistung dar, einschließlich der gediegenen äußeren Ausstattung.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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