Eine Rezension von Walter Schmidt

Illustrierte Vielschichtigkeit revolutionärer Prozesse

Ulrich Speck: 1848
Chronik einer deutschen Revolution.
Insel Verlag, Frankfurt/M. 1998, 159 S., zahlr. Abb.

Heinz Rieder: Die Völker läuten Sturm
Die europäische Revolution 1848/49.
Bearbeitet von Wolfgang Froese.
Casimir Katz Verlag, Gernsbach 1997, 166. S.

Die durch Illustrationen aufgelockerte Chronik einer deutschen Revolution will der „schnellen Information“ dienen und erfüllt diesen Zweck zweifellos im Rahmen der vom Autor im Vorwort angegebenen Linienführung, die sich nach Dokumentation der Märzbewegungen auf drei Hauptstränge konzentriert: auf die Vorgänge im etwas problematisch zur „Hauptstadt der Revolution“ erklärten Frankfurt sowie auf die revolutionären Auseinandersetzungen in Wien und in Berlin. Besonders verdienstvoll ist, daß es nicht bei einer nackten Auflistung von Ereignissen bleibt, sondern zumeist auch die Inhalte, bisweilen sogar recht ausführlich, vermittelt werden und auch auf einordnende Wertungen nicht verzichtet wird. Der Anspruch einer „kleinen Geschichte der deutschen Revolution“ ist dennoch sicher etwas zu hoch gegriffen.

Recht umfassend sind bei Konzentration auf den südwest- und westdeutschen Raum die Märzrevolution, die badische Aprilrevolution und die Reichsverfassungskampagne, in letzterer die militärischen Auseinandersetzungen allzu knapp vorgestellt. Auch wird dem formulierten Anliegen gemäß - wonach die Revolution den Beginn des Bemühens markiert, „Nationalstaat und Verfassung, Einheit und Freiheit auch für die Deutschen dauerhaft zu etablieren, ein Ziel, das erst mit der Vereinigung im Jahre 1990 erreicht zu sein scheint“ - der Leser sehr ausführlich über das Wirken von Vorparlament und Nationalversammlung informiert, während die Konflikte in der Berliner konstituierenden Versammlung und im Wiener Reichstag demgegenüber zurücktreten. Aufgenommen sind die wichtigsten Aufstandsversuche während der Septemberkrise, während die Aktionen der Steuerverweigerungskampagne ausgespart bleiben. Auskunft erhält man über wesentliche außerparlamentarische Organisationsbestrebungen, namentlich die der kleinbürgerlichen Demokratie. Von den linken sozialen Bewegungen erscheinen neben dem Handwerker- und Gesellenkongreß nur die Arbeiterverbrüderung, ohne daß auf deren Aktivitäten und die der rheinischen und hessischen politischen Arbeitervereine zur proletarischen Parteibildung seit Ende 1848 hingewiesen wird.

Von der Vielschichtigkeit der revolutionären Prozesse, die im gegenwärtigen Diskurs sogar zur sicher problematischen Infragestellung des bürgerlichen Charakters der Revolution und zu der These führten, daß eher von mehreren parallel laufenden Revolutionen zu sprechen sei, spürt man indes leider wenig. Allzu selten ist von den elementar sozialen Protestaktionen die Rede; die Bauernrevolution von März und April 1848 in Südwestdeutschland wird nur im Rückgriff bei Erwähnung der Regierungskonzessionen summarisch genannt; die ländlichen Erhebungen im Osten Deutschlands, die namentlich in Schlesien Massencharakter trugen, werden gar nicht erwähnt; lediglich der Sturm aufs Waldenburger Schloß in Sachsen taucht auf. Einige Ungereimtheiten fallen auf: Die Zahl der Berliner Märzgefallenen schwankt zwischen 303 und 183; die Frankfurter Fraktionsbildungen begannen natürlich nicht schon im April, sondern erst im Mai 1848.

Während die Chronik sich strikt auf die deutschen 48er Ereignisse beschränkt und, sieht man ab von der Erwähnung der Pariser Februarrevolution, den internationalen, europäischen Charakter der Revolutionsbewegung dieses Jahres überhaupt nicht reflektiert, steht gerade dieses Phänomen im Zentrum der von Wolfgang Froese bearbeiteten Publikation des langjährigen Direktors der Wiener Städtischen Büchereien Heinz Rieder. Auch haben wir es hier mit einer zusammenhängenden, geschlossenen Darstellung der Revolutionsgeschichte zu tun, die sich ohne Frage an einen breiteren historisch interessierten Leserkreis wendet.

Ausgehend von einer Analyse der europäischen Mächtekonstellation des Wiener Kongresses wird zunächst eine politische Situationsschilderung des europäischen Vormärz einschließlich der gegen die Reaktion gerichteten oppositionellen Bestrebungen und revolutionären Erhebungen vermittelt, aus der sich faktisch auch die europäische Dimension des 1848er Revolutionsgeschehens ableiten läßt. Dem folgt nach sonst nicht üblicher ausführlicher Abhandlung über den Schweizer Sonderbundskrieg und die als „Münchener Revolution“ qualifizierten Ereignisse um die Lola-Montez-Affäre in etwas eigenwilliger Komposition, die die chronologische Verzahnung der Vorgänge nicht immer leicht durchschaubar macht, das 1848er Revolutionsgeschehen in Frankreich, Österreich, Preußen, in den deutschen Klein- und Mittelstaaten wie im Frankfurter Nationalparlament und in Italien von den ersten revolutionären Aufbrüchen im Februar/März 1848 bis zum endgültigen Verlöschen der revolutionären Flamme im Sommer 1849. Ausgespart bleiben die revolutionären Prozesse in den rumänischen Ländern; auch wird kein Blick geworfen auf die revolutionären Ansätze in Belgien, Holland und den skandinavischen Staaten, die sich zwar nicht zu einer Revolution ausweiteten, aber doch, wie jüngst nachgewiesen wurde, auf dem Hintergrund der europäischen Revolution signifikante Reformen erzwangen. Die europäische Verflechtung der Revolutionsentwicklung wird offenkundig, wenngleich die Frage nicht näher erörtert wird, ob es sich um eine „europäische Revolution“ oder um mehrere gleichzeitige Revolutionen in Europa gehandelt hat. Komparative Aspekte werden kaum zur Geltung gebracht.

Das Buch ist zuvörderst als eine vor allem politik-, aber in gewisser Weise auch kultur- und geistesgeschichliche Darstellung angelegt. Im Zentrum stehen sowohl die revolutionären Erhebungen, die Aktionen der Massen, als auch die Reaktionen der hohen Politik aus dem Lager der Reaktion, die auf Niederwerfung der Revolution aus war, wie der Liberalen in Regierungen und Parlamenten, die die Kanalisierung der Revolution zu einer bürgerlichen Reformbewegung betrieben. Als Schwerpunkte erscheinen die Pariser Februarrevolution wie die Wiener und Berliner Märzrevolutionen, die Wiener Oktoberrevolution mit dem folgenden konterrevolutionären Rückschlag und die badische Revolution von Frühsommer 1849. In diesen wie in anderen Abschnitten wird lebendige, anschauliche, nicht selten fesselnde Erzählung geboten, kommen eindrucksvolle zeitgenössische Quellen wie Schilderungen aus historischen Werken zu Wort, die die Lektüre zu einem Vergnügen machen.

Zurücktreten demgegenüber sozial- und mentalgeschichtliche Aspekte, denen die neuere Forschung bereits größeres Gewicht beigemessen hat. Auch ein Kapitel über „die Wirklichkeit“, in dem die ökonomischen und sozialen Strukturen des Vormärz, auch Pauperismus und Proletariatsentstehung skizziert werden, können diesen Mangel nicht gänzlich wettmachen. Weitgehend unreflektiert bleiben der politische Revolutionsalltag, wie die außerparlamentarischen Vereinsbestrebungen und die politischen Parteibildungsprozesse.

Als einen Vorzug wird der deutsche Leser sicher die in Arbeiten aus deutscher Feder oft zurücktretenden, hier indes weit stärker in die Betrachtung einbezogenen Vorgänge in der Habsburgermonarchie empfinden. Deutlich ist auch der geschärfte Blick des Österreichers auf die Auseinandersetzungen um die Nationalstaatsbildung zu spüren, die namentlich bei der Behandlung der Diskussionen in der Nationalversammlung in den Vordergrund rücken und in der Regel von der Warte der letztlichen Entscheidung von 1866 beurteilt werden. Schade, daß die preußische Unionspolitik 1849/50 gänzlich übergangen wurde. Daß die Rolle Erzherzog Johanns als gewählter Reichsverweser markanter als anderswo herausgehoben ist, vielleicht sogar ein wenig überhöht erscheinen mag, sollte nicht als Mangel vermerkt werden. Es deutet eine etwas andere, durchaus interessante Perspektive an.

Generell aber zeichnet das Werk eine starke biographische Komponente aus. Die handelnden Persönlichkeiten werden, wenn auch oft nur kurz, so doch treffend biographisch vorgestellt, was der Lesbarkeit des Buches nur zugute kommt. Bisweilen gewinnt man sogar den Eindruck, als ob die Darstellung auf das Wirken der Persönlichkeit geradezu zugeschnitten ist. Das Schicksal Ernst von Biedenfelds in der badischen Reichsverfassungskampagne ist keine Ausnahme.

Der Verfasser steht in der Reihe derer, die sich für eine Aufwertung des historischen Stellenwerts der europäischen Revolution von 1848/49 stark machen. Er bekennt sich zu den „siegend Geschlagenen“, zu denen er vor allem die Liberalen zählt, sieht 1848 als „ein Glied in der Kette, die zur Industriegesellschaft unserer Zeit reicht, ja diese erst ermöglichte“. Zwar hält er den „Vorwurf des Verrats an der Revolution und ihren Ideen“ bei all jenen für durchaus berechtigt, „denen die Reaktionspolitik 1848/49 wie eine Erlösung vorkam“. Gleichwohl gehört seine ungeteilte Sympathie dem Liberalismus, der letztendlich für eine Erweiterung des individuellen Freiheitsraums, für die vollständige Bauernbefreiung und den Aufstieg der Arbeiterschaft gesorgt und sich darum verdient gemacht habe. „Das Bürgertum wurde so zum Wegbereiter des Arbeiters.“ (S. 247) Der Anteil der Bauernrevolution von 1848 an der endgültigen Lösung der Agrarfrage wie die 1848 begonnenen jahrzehntelangen erbitterten Kämpfe der Arbeiterklasse um eine sowohl demokratische als auch soziale Ausgestaltung der bürgerlichen Gesellschaft bleiben bei solcher recht einseitigen Sicht der Dinge leider ganz auf der Strecke.

Schließlich muß noch eine außerordentliche Attraktion des Buches genannt werden. Es ist eine rundum gelungene illustrierte Geschichte der europäischen Revolution. Abgesehen von den 1998 dankenswerterweise recht zahlreich veröffentlichten Ausstellungskatalogen gibt es in der 1848er Jubiläumsliteratur wohl kein Werk, das mit so reichhaltigen und zum Teil wertvollen Abbildungen aus zeitgenössischen Quellen wie von zeitgenössischen und späteren Kunstwerken, in schwarzweiß wie in Farbe, aufwarten kann, überdies durchweg mit erläuternden Texten versehen, die zusätzliches Wissen vermitteln. Der Leser wird auch daran Freude und Genuß haben.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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