Eine Rezension von Dorothea Körner
cover

Vom Entstehen einer neuen Identität

Eckard Matthes (Hrsg.): Als Russe in Ostpreußen
Sowjetische Umsiedler über ihren Neubeginn in Königsberg/
Kaliningrad nach 1945.
Aus dem Russischen von Arne Ackermann.
edition tertium, Ostfildern vor Stuttgart 1999, 504 S., zahlr. Fotos

Dieses Buch verdankt sein Entstehen dem Enthusiasmus einer Handvoll zumeist junger Kaliningrader Historiker während der kurzen Zeit der Perestroika (bis zum Putsch 1991). 1988 wurde auf einem Historikerkongreß in Moskau die Oralhistory als neue Methode der Geschichtswissenschaft vorgestellt, Tabuthemen wie die Neubesiedlung Ostpreußens und die Vertreibung der Deutschen aus dem Gebiet durften unter Gorbatschow erstmals aufgegriffen werden. So gelang es dem Kaliningrader Dozenten Juri Wladimirowitsch Kostjaschow, eine hochmotivierte Arbeitsgruppe zu schaffen, die zwischen 1989 und 1991 in 51 Orten des Gebietes Kaliningrad mit 320 ehemaligen Neusiedlern Interviews durchführte und sie über ihre ersten Jahre in Ostpreußen befragte. Die Ergebnisse des Projekts, das sich als Auftakt für weitere Forschungen zur Geschichte des Gebiets Königsberg nach dem Zweiten Weltkrieg versteht, waren in Kaliningrad heftig umstritten. Die geplante Veröffentlichung des Buches stieß in Rußland auf heftigen Widerstand. Darum liegt es nun dankenswerterweise zunächst auf deutsch vor.

Neun Autoren haben die Ergebnisse der Befragung in neun Kapiteln zu Werbung, Ankunft und Alltag der Neusiedler, Ernährung, Handel und Landwirtschaft, Wiederaufbau der Städte und Industrie, zu Regierung, Verwaltung und Kultur sowie zum Verhältnis der Neusiedler zu den zurückgebliebenen Deutschen zusammengefaßt. Ein kommentierendes Nachwort des deutschen Herausgebers, der bis 1996 Direktor des Instituts Nordostdeutsches Kulturwerk in Lüneburg war, schließt sich an.

Für den deutschen Leser ist dies ein erschütterndes Dokument der kulturellen Zerstörung Ostpreußens. Das Buch gibt einen Einblick in das spannungsvolle Aufeinanderprallen zweier Kulturen, von denen die eine als feindlich angesehen, ausgelöscht und offiziell totgeschwiegen wurde. Ihre Geschichte und heimliche, wenn auch verschüttete Anwesenheit wirkt jedoch bis heute in Kaliningrad nach, prägt die Mentalität der Menschen und bewirkt, daß dieses Gebiet einzigartig ist - ein russisches Fenster gen Westen, europäisch, offen und diskussionsfreudig.

Befragt wurden vor allem Neusiedler der sogenannten zweiten Besiedlungswelle1 (Sommer 1946 bis 1953), die in Rußland, der Ukraine, Weißrußland und Litauen angeworben worden waren. Es kamen ganze Familien mit ihrem Viehbestand, aber auch junge, unverheiratete Leute, die abenteuerlustig waren und den Krieg gerade hinter sich gebracht hatten. Viele glaubten, in der Ferne das schnelle Geld zu verdienen und nach zwei, drei Jahren in ihre Heimat zurückkehren zu können. Sie waren entsetzt von der totalen Zerstörung Königsbergs und der anderen ostpreußischen Städte. Die engen, winkligen Straßen Königsbergs und die finstere gotische Architektur wirkten auf sie fremd und furchteinflößend. Es gab in der Stadt weder Wasser noch Elektrizität. Nachdem die wenigen intakten Häuser vergeben waren, wurde die Wohnungssituation katastrophal. In den Dörfern beeindruckten zwar Sauberkeit und Blumenpracht, aber mit deutschen Kachelöfen und Waschmaschinen konnten die russischen Siedler wenig anfangen. Fenster, Türen und Dielen wurden in den kalten Wintern 1945/46 und 1946/47 gefleddert und als Heizmaterial verwendet. Viele Neusiedler kamen aus anderen Berufen und waren nicht darauf vorbereitet, in der Landwirtschaft oder Fischerei zu arbeiten. Die Böden waren vermint, die Deiche von den abziehenden deutschen Truppen zerstört. Aus Unkenntnis demontierten die Neusiedler die komplizierten Drainageanlagen, durch zu tiefes Pflügen zerstörten sie den fruchtbaren Boden. Das berühmte ostpreußische Zuchtvieh wurde in zentralrussische Gebiete verschleppt und ging dort ein. Trotz hoher Vergünstigungen kehrte mehr als ein Drittel der Angeworbenen schon bald in die Heimat zurück.

Die Leitungsfunktionen lagen in den Händen ehemaliger Armeeangehöriger bzw. von Parteifunktionären, die für das Gebiet Königsberg verpflichtet worden waren. Parteidisziplin und die Einsicht, als Kommunist Vorbild sein zu müssen, spielten bei den Betroffenen eine große Rolle. Sie waren oftmals guten Willens, aber fachlich nicht qualifiziert. In den Dörfern wurden unmittelbar nach Ankunft der Neusiedler Kolchosen gegründet. Um der allgemeinen Hungersnot zu begegnen, richteten auch Armeeeinheiten, Krankenhäuser usw. landwirtschaftliche Betriebe ein. Die Neusiedler erinnern sich, wie fruchtbar die Felder und Wiesen zunächst waren. Im Vergleich zu 1943 gingen die Erträge 1947 auf ein Fünftel zurück. Lange konnte sich das Gebiet Kaliningrad nicht selbst ernähren. Zwischen der Versorgung von Parteifunktionären bzw. höheren Militärs und der Bevölkerung gab es krasse Unterschiede. Als im Dezember 1947 die Lebensmittelmarken abgeschafft wurden, verbesserte sich die Situation besonders in den Städten, ab 1953 hatten die Menschen das Gefühl der Normalität.

Die Neusiedler erinnern sich auch an den Enthusiasmus und Aufbauwillen jener Jahre, an die Selbstverständlichkeit freiwilliger Arbeitseinsätze, den Volksfestcharakter der ersten Wahlen im Februar 1946, die Vision eines neuen, großzügig gebauten Kaliningrads. Übereinstimmend berichten sie von der Popularität der ersten Kinos, von zahlreichen Tanzstätten in Königsberg, wo deutsche und russische Jugendliche gemeinsam verkehrten, von Tanzveranstaltungen und abendlichem Beisammensein auf den Dörfern. Alkoholismus spielte ihrer Erinnerung nach kaum eine Rolle.

Besonders interessant sind die Berichte vom Zusammenleben mit den Deutschen - eine äußerst delikate Thematik, die sicher noch längst nicht ausgeleuchtet ist. Die Neusiedler erinnern sich, daß die deutschen Kriegsgefangenen relativ anständig behandelt wurden; sie mußten Trümmer aufräumen und in den Sowchosen arbeiten. Die deutsche Zivilbevölkerung hingegen, die zumeist aus Frauen, Kindern und Alten bestand, lebte - soweit die Neusiedler dies überhaupt wahrnahmen - jämmerlich. Sie hungerte noch mehr als die sowjetische Bevölkerung, mußte ihre Wohnungen und Häuser oft für die Neuankömmlinge räumen und lebte dann zusammengepfercht in Kellern und auf Dachböden. Einige Neusiedler berichten, wie ihr Haß beim Anblick hungriger deutscher Kinder oder erfrierender Greise in Mitleid umschlug. Alle, die zeitweise mit Deutschen zusammengearbeitet haben, sprechen bewundernd von der guten Arbeit und Arbeitsorganisation der Deutschen. Deren Deportation zwischen 1947 und 1948 ließ die meisten Neusiedler gleichgültig, heute sehen viele in dem damaligen Geschehen ein Unrecht.

„Mit der Inbesitznahme Ostpreußens durch die Sowjetunion nahm ein so noch nie unternommenes Experiment seinen Lauf. Eine ganze Region wurde ihrer Menschen und ihrer Geschichte beraubt. Das war beabsichtigt und verordnet“, resümiert der Herausgeber im Nachwort. Die sowjetischen Neuankömmlinge hatten kein Problem mit der Auslöschung der deutschen Geschichte. „Völlig zerschlagen konnte man ihre (der deutschen Wissenschaftler) Behauptung darüber, daß angeblich die ersten Siedler auf diesem Territorium Ostpreußens nicht Slawen, sondern Goten waren“, begründet die „Kaliningradskaja Prawda“ 1950 die Legitimität des sowjetischen Anspruchs. Manche der Befragten erinnern sich beschämt an die Schändung von Kants Grab, die Beseitigung eines Schubert-Denkmals, die Sprengung des Stadtschlosses, die mutwillige Zerstörung von Kunstgegenständen und Kulturdenkmälern. Daß diese Menschen im Alter beginnen, sich auf den schwierigen Prozeß des Umdenkens, der Neubewertung ihrer eigenen Geschichte einzulassen, ermutigt. Vielleicht erwächst daraus eines Tages eine neue Identität im Gebiet Kaliningrad.



1 Die ersten Neusiedler rekrutierten sich aus Angehörigen der Roten Armee, die in Ostpreußen gekämpft hatten, und sowjetischen Zwangsarbeitern, die aus Deutschland zurückkehrten.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite