Eine Rezension von Helmuth Nürnberger

Ein erfrischend ungermanistisches Buch

Gerhard Friedrich: Fontanes preußische Welt
Armee - Dynastie - Staat.
Baltica-Verlag, Flensburg 2001, 513 S.

Mit diesem sorgfältig betreuten, inhaltlich unveränderten Neudruck der 1988 bei Mittler, Herford, erschienenen Erstausgabe setzt der junge Flensburger Verlag seine Bemühung fort, im Buchhandel vergriffene, ältere Werke der Forschungsliteratur wieder zugänglich zu machen, wobei im vorliegenden Fall seit der Originalausgabe kaum mehr als ein Dutzend Jahre vergangen sind - das läßt auf veränderte Rezeptionsbedingungen schließen.

Als Gerhard Friedrich seine Monographie 1988 zuerst veröffentlichte, war er sich, wie das Eingangskapitel erkennen läßt, einer gewissen Außenseiterstellung bewußt. Zwar war der Heidelberger Germanist dem Publikum kein Unbekannter, denn er hatte sich wiederholt als sorgfältiger Interpret Fontanescher Romane ausgewiesen. Aber sein Verständnis der politischen Gedankenwelt des Märkers und damit freilich der geistigen Persönlichkeit insgesamt legte ihm gegenüber der Forschung, wie sie sich im Zuge der sogenannten „Fontane-Renaissance“ entwickelt hatte, Reserve auf (wobei er, ein ehrenwerter, leicht verspäteter Ritter von der Mancha, mehr mit dem übermächtigen Schatten Hans-Heinrich Reuters, als mit der jüngsten Entwicklung im Streite lag). Mit deutlichen Worten, wenngleich eher skeptisch, was den möglichen Erfolg anbetraf, wagte er den Versuch einer Revision: „Es soll gezeigt werden, dass Fontane viel preußischer dachte und schrieb, als viele Leser das heute wahrhaben wollen. Ein anderer Fontane also? Diesen Anspruch wird niemand erheben können [...] Fontane ein wenig anders. Das ist alles, was sich erstreben lässt. Und auch das nur mit Vorsicht und unter bedachtsamer Anerkennung der Forschungsergebnisse, wie sie während der letzten drei Jahrzehnte vorgelegt worden sind.“ (S. 8 f.)

Im Rückblick ist offensichtlich, daß die von Friedrich angestrebte differenziertere Sicht in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre auf deren Wegen bereits im Gange war, wobei wesentliche Anstöße aus dem Raum der Berliner Humboldt-Universität kamen, also von Seiten der einstigen DDR-Forschung. Gerade im Hinblick auf den Zeitraum, der im Mittelpunkt von Friedrichs Darstellung steht, hatte Peter Wruck 1986 formuliert: „Fontane hat sich nicht zweckbedingt oder nostalgisch für einen literarischen Paladin des ,alte[n] Preußen‘ ausgegeben, er ist es zeitweilig gewesen.“ Friedrich stand mit seinem Vorhaben, dem konservativen Zug in Fontanes proteischer Erscheinung gerecht zu werden, also keineswegs allein. Und doch schien er - zu oft und temperamentvoll hatte er alte Werte beschworen, denen sich das Bewusstsein einer jüngeren Generation eher verschloß! - mit seinem Buch eher an ein restauratives Verständnis anzuschließen, wie es in einer Reihe von populärwissenschaftlichen Fontane-Biographien und marktkonformen Preußendarstellungen zutage getreten war. Dazu trug auch bei, daß er methodisch seinen Kritikern einigen Vorschub geleistet hatte: Aus einer von Walter Müller-Seidel angeregten Studie zu Fontanes umfangreichen Darstellungen der Feldzüge 1864, 1866 und 1870/71 war, wie Friedrich erklärte, sein Buch hervorgegangen. Auf die Behandlung des Romanwerkes, das im Zentrum der neueren Forschung stand, wurde, „um Bekanntes nicht zu wiederholen“, weitgehend verzichtet, nur Die Poggenpuhls, der Roman des armen Militäradels, gründlich interpretiert (nicht zufällig geriet gerade dieses Kapitel zu einer engagierten Auseinandersetzung mit Reuters teleologisch komponierter Monographie).

Im übrigen bildeten neben den „Kriegsbüchern“ weitere nicht fiktive Werke - Reisebücher, autobiographische Schriften und Briefe - das bevorzugte Untersuchungsmaterial. Man darf es Friedrich abnehmen, daß er keineswegs beabsichtigte, den großen Romanautor hinter den mehr auf die publizistische Alltagsarbeit (mit ihren Zwängen) bezogenen Literaten zurücktreten zu lassen. Bewunderung und Sympathie für Fontanes Kunst sprechen aus jeder Seite seiner Darstellung. Bei der Ausführlichkeit, mit der er zu Werke ging, verbot sich eine ebensolche Behandlung der Romane wohl schon aus Umfangsgründen. Das gesellschaftskritische Potential des Gesamtwerks, das sich vorzugsweise in den Romanen manifestierte, blieb unter diesen Umständen jedoch unausgeschöpft, die Rolle des „vaterländischen Schriftstellers“, die Fontane sich bewußt und zielgerichtet zu eigen gemacht hatte, in ihrem temporären Charakter nicht kenntlich (allerdings, so hatte Friedrich es wohl auch nicht gemeint, weder „temporär“ noch „Rolle“ hätten ihm genügt). Die Ergänzungen des Fontane-Bildes, um die es dem Autor ging, waren gewissermaßen zur Hauptsache geworden. Dazu paßte, daß sein Buch in einem alteingeführten Militärverlag und nicht in einem germanistischen oder belletristischen Verlagshaus erschienen war.

Inzwischen sind die bestimmenden Züge in Fontanes Stellung zu Preußen, wie Friedrich sie anmahnte, im Kern nicht mehr strittig, wenn auch die vielberufene Ambivalenz des „unsicheren Kantonisten“ immer wieder zu veränderten Akzentsetzungen Anlaß bietet. Das vermehrte Interesse für den sogenannten „mittleren Fontane“, wie es in dem von der Theodor-Fontane-Gesellschaft 1993 in Potsdam ausgerichteten Kolloquium auch für die breitere Öffentlichkeit zu Tage trat, findet Rückhalt in Quelleneditionen und auf diesen beruhenden neuen Gesamtdarstellungen und Einzeluntersuchungen.

Wo ist angesichts dieser Entwicklung h e u t e der Ort von Friedrichs Monographie, und was rechtfertigt den Neudruck? Das Buch ist Teil der Forschungsgeschichte und ihrer zum Teil verschlungenen Wege geworden. Im Hinblick auf das engere oder vielmehr Ausgangsthema des Autors, das die zwölf Jahre der kriegsgeschichtlichen Arbeit Fontanes und der damit verbundenen autobiographischen Bücher über die Frankreichreisen umfaßt, handelt es sich weiterhin um eine grundlegende, in Kenntnis und Reichtum des Details nicht überholte Untersuchung. Als Gesamtdarstellung verlangt sie vom Leser kritisches Verständnis auch für ihre Anfechtbarkeiten, die mit ihren Vorzügen zusammenhängen. (Aber welcher Leser des Märkers brächte dergleichen nicht mit?) Fontanes preußische Welt ist, ungeachtet des Umfangs, eigentlich ein erfrischend ungermanistisches Buch (und insofern von Fontaneschem Geist): nicht durchgehend vorsichtig um Ausgewogenheit bemüht, sondern zum einen bewegt von liebevoller Pflege und Würdigung des Vergangenen, zum anderen zu unverblümter Polemik, mit Witz und Charme, geneigt. An einer „Elephantiasis der Respektdrüse“, schreibt Friedrich, habe Fontane nicht gelitten. Das dürfen wir guten Gewissens auch von seinem Interpreten sagen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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