Eine Rezension von Walter Schmidt

Symbiose von wissenschaftlicher Analyse und spannender
erzählerischer Gestaltung

Gerd Fesser: Von der Napoleonzeit zum Bismarckreich
Streiflichter zur deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert.
Donat Verlag, Bremen 2001, 215 S.

An akademischen wie wissenschaftlich-populären Darstellungen zur deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts mangelt es sicher nicht. Doch wenn historisch Interessierte sich rasch über Höhe- und Wendepunkte dieser Epoche bürgerlicher Umwälzungen, mit denen sich die kapitalistischen Verhältnisse in Deutschland endgültig durchsetzten, unterrichten und gleichsam in die Geschichte „einsteigen“ wollen, dann werden sie wohl eher zu einem Band greifen, der ihnen in sich geschlossene Streiflichter bietet, als zu einer umfänglichen Gesamtdarstellung. Dies um so lieber, wenn sich ihnen der historische Stoff nicht nur in gediegener wissenschaftlicher Verarbeitung, sondern auch in gefälliger, wenn nicht gar spannender erzählerischer Gestaltung präsentiert.

Gerd Fesser, ausgewiesener Forscher und erfolgreicher historischer Biograph auf dem Felde des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, bekennt sich in deutlicher Abgrenzung von den Einseitigkeiten sozial- und strukturgeschichtlicher Untersuchungen zur wissenschaftlich anspruchsvollen historischen Narration; und er praktiziert die Symbiose von wissenschaftlicher Analyse und ansprechender Erzählung in 17, zur knappen Hälfte bereits in Zeitungen und Sammelschriften erschienenen, bisweilen geradezu essayistisch gestalteten Beiträgen, die in ihrer Gesamtheit ein sicher nicht lückenloses, gleichwohl aber das Wesen der Epoche erfassendes Bild der deutschen Geschichte von der Napoleonzeit bis ins Bismarckreich entstehen lassen.

Der Auftakt der bürgerlichen Umgestaltung, die Zeit Napoleons, der preußischen Reformen und des Befreiungskrieges bis zum Wartburgfest der deutschen Burschenschaft, die nach Abschüttlung des napoleonischen Jochs nun innere Wandlungen hin zu einem national einheitlichen Verfassungsstaat einforderte, bildet den ersten Schwerpunkt der historischen Schlaglichter. Mit der Schlacht von Jena und Auerstedt, der Völkerschlacht bei Leipzig und dem endgültigen Sieg der Verbündeten über Napoleon bei Waterloo kommen für diese Periode höchst wichtige kriegsgeschichtliche Ereignisse, offenbar ein vom Autor bevorzugtes Thema, zu ihrem Recht. Die Lebensgeschichte der Königin Luise von Preußen, der einzigen Frau, die Eingang ins Geschichtsbild der Deutschen gefunden hat, werden Insider wie Laien sicher als ein Kabinettstück biographischer Miniatur zu schätzen wissen, wie sich denn auch die ereignisfixierten Artikel dadurch auszeichnen, daß die jeweiligen Akteure kurz, aber treffend, und Persönliches nicht meidend biographisch skizziert werden: der Freiherr vom Stein, Hardenberg, Alexander I., Carové, Riemann und Sand etwa, um nur einige zu nennen. Schade, daß der eigentliche Aufbruch in das bürgerlich-kapitalistische Zeitalter in Deutschland, die Prozesse im Deutschland der Jahrzehnte von 1789 bis 1806 unter dem direkten Einfluß der Französischen Revolution mit keinem Streiflicht bedacht werden.

Drei Beiträge kreisen um die 1840er Jahre, die Zeit der Revolution „von unten“. Mit dem Weberaufstand von 1844 in Schlesien scheint das Wetterleuchten der neuen sozialen Frage des Proletariats auf, womit sich eine über den Kapitalismus hinausweisende Bewegung zu Wort meldete. Die Revolution von 1848/49 ist durch die Frankfurter Nationalversammlung vertreten, zwar von ihrem schmählichen Ende her aufgerollt, der Zersprengung des Rumpfparlaments in Stuttgart am 18. Juni 1849, gleichwohl ihr wichtigstes Resultat, die Reichsverfassung, ebenso würdigend wie deren entschiedene Verteidiger, die Reichsverfassungskämpfer vom Frühjahr 1849. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Biographie Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha, eines liberalen Außenseiters unter den deutschen Potentaten, der von 1848 bis in die 1860er Jahre für nationalstaatliche Ziele einstand, dann aber, als mit 1866 die nationalen Messen im wesentlichen gelesen waren, aus fürstlichem Machtkalkül sogleich wieder ins konservative Lager zurückfand. Daß ein revolutionärer Gipfelpunkt, etwa die Berliner Märzrevolution oder die Reichsverfassungskampagne, nicht Aufnahme gefunden hat, verschmerzt man, bedauernd zwar, aber um so eher, als die „Revolution der Straße“ als Vorbedingung für das erste Nationalparlament deutlich vor Augen geführt wird.

Der Weg zur Reichsgründung, die Bismarcksche „Revolution von oben“, ist in drei Miniaturen festgemacht, konzeptionell am klarsten dargestellt im „Weg nach Königgrätz“, wo auch die Kriegsgeschichte wieder zur Geltung kommt; flankiert von der freilich etwas holzschnittartig geratenen Skizze über die proletarische Parteibildung bis zum Eisenacher Parteitag von 1869 (wo die Gewerkgenossenschaften und die IAA-Sektionen als parteibildende Elemente leider ausgespart bleiben). Mit Spannung wird der Leser ohne Zweifel den Lebensweg des nur knapp 100 Tage regierenden Kaisers Friedrich III., stets erfolgloser Widerpart Bismarcks, unter der Fragestellung einer möglicherweise „verlorenen Chance für ein liberales Deutschland“ verfolgen.

In vier Beiträgen sind Probleme des Bismarckreichs angerissen: Bismarcks Kampf gegen die Sozialdemokratie mit dem Nachweis, daß auch die Sozialgesetzgebung dem Machterhalt des Bismarckschen Systems diente; die Biographie des für ein Bündnis des Bürgertums mit der Arbeiterbewegung eintretenden Linksliberalen Friedrich Naumann, die ebenso deutlich die forscherische Vertrautheit des Autors mit dem Thema erkennen läßt wie die gleichfalls biographische Skizze über Bernhard von Bülows diplomatische Tätigkeit in Petersburg von 1884- 1888, die ganz auf der Linie Bismarcks lag, unbedingt Frieden mit Rußland zu halten. Den Abschluß bildet ein schillernder Mosaikstein von mehr als lokalgeschichtlicher Relevanz, Bismarcks Besuch von Jena 1892, ein Ereignis, das nicht wegen des sich breitmachenden Bismarckkults beachtenswert ist, sondern weil Bismarcks dort artikulierte (vielleicht doch etwas demagogische?) Forderung, das Parlament zu stärken und so das parlamentarische System auszubauen, Furore machte.

Es bedarf keiner ausdrücklichen Erwähnung, daß die fast durchweg gelungene Erzählweise Langeweile beim Lesen nicht aufkommen läßt. Und wer sich genauer kundig machen will, dem wird in den Anmerkungen und einer Literaturauswahl, in der die wichtigsten Arbeiten aus Ost und West Aufnahme fanden, weitergeholfen. Daß einige neuere Forschungen ungenannt bleiben, wie etwa Helmut Asmus' Studie über die Burschenschaften, die Untersuchungen zur Entstehung der Eisenacher Partei, Wolfgang Büttners Weberaufstandsdarstellung in einem österreichischen Sammelband oder Heinrich Scheels Quellenpublikationen zu den preußischen Reformen, wird eine Nachauflage sicher leicht wettmachen. Ein Namensregister erleichtert zudem den Zugang zum Text. Alles in allem ein interessantes, lesenswertes Buch, das sich um die Verbreitung eines differenzierten Geschichtsverständnisses zum 19. Jahrhundert verdient macht.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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