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Klaus Schuhmann

Vergebliche Glückssuche
- Max Herrmann-Neiße erweist
Gottfried Benn seine poetische
Reverenz

Zum 115. Geburtstag der beiden Lyriker*

Schenkt man Gottfried Benn Glauben, dann war das Jahr 1886 ein besonders folgenreiches für die kommende expressionistische Generation. In diesem Jahr wurde nämlich nicht nur er selbst geboren (viele Jahre später schrieb er dann auch ein Gedicht mit dem Titel „1886“), sondern auch zwei andere Schriftsteller, die sich im „expressionistischen Jahrzehnt“ einen Namen machten: im April Kurt Pinthus, der 1919 Menschheitsdämmerung herausbrachte, und einen Monat später Max Herrmann-Neiße. Zu Beginn der zwanziger Jahre, als auch Pinthus nach Berlin ging, kreuzten sich dann wohl auch ihre Wege, obwohl nur Max Herrmann zu erkennen gab, daß er Benns Veröffentlichungen (er schrieb dazu auch zwei Kritiken, von denen eine einen Eklat bei der „Neuen Bücherschau“ zur Folge hatte) gut kannte und auch der Weltsicht Benns auffallend zuneigte, wie dies im Gedicht „Das unfruchtbare Glück“ nachzulesen ist. Der Text wurde am 11. Juni 1927 geschrieben und danach in Max Herrmanns Gedichtband Abschied aufgenommen, ein sicheres Zeichen dafür - die Widmung läßt keinen Zweifel daran - , daß es sich bei diesem Gedicht nicht um eine Parodie handelt, obwohl es Benn sichtlich imitiert:

      Das unfruchtbare Glück
      (Für Gottfried Benn)

      Auf allen Bänken döst es lebensfett:
      Die Muttersau, ihr Auswurf, das Gekröse,
      und hier und da ein Großpapaskelett,
      das Ahnenwrack im Wagen, blöd und böse.

      Das schmierige Geschmeiß, die Krötenbrut,
      das quäkt und kotzt und kackt und grätscht im Drecke.
      Das welke Fleisch, das junge. Kot und Blut
      Und Ammenschwatz von Windeln und Gehecke.

      Daneben Mädchenjungvieh, lüstern, schmal,
      und wie das wippt, zwischen den flinken Schenkeln
      den schieren Strich, das lasterhafte Tal,
      den ewigen Grund zu abertausend Enkeln.

      Das alles wimmelt wie Gewürm im Moor,
      in Glut gehurt, sich in die Gruft zu huren,
      bringt immer wieder neuen Tod hervor
      und überschwemmt mit Menschenpack die Fluren.

      Doch ewiger und unberührt und groß
      bewahren sich der Wald, der Berg, die Wiese,
      fließen die Ströme in des Meeres Schoß,
      blüht immerdar der Baum im Paradiese.

      Er ist und blüht und bleibt, was auch geschah,
      und kann das endliche Verwehn erwarten
      von dem, was Menschheit hieß und nimmer sah
      das unfruchtbare Glück: den Göttergarten.

Daß Max Herrmann-Neiße ein aussichtslos einsamer und melancholischer Dichter war, den es 1917 in die Großstadt Berlin verschlagen hatte, bezeugen weit mehr seiner Gedichte als jene, die er für einige Künstler und Schriftstellerkollegen schrieb, denen er in den zwanziger Jahren begegnete und im Einzelfall auch als Mensch verbunden war. Drei dieser Widmungstexte zeichnen sich dadurch aus, daß ihr Verfasser den Kollegen Walter Mehring, Joachim Ringelnatz und Gottfried Benn auf eine besondere Weise seine Reverenz erwies: indem er die Machart, die er für diese drei Lyriker für charakteristisch hielt, übernahm und dabei sogleich auch Themen anschlug, die ihren Gedichten ein unverwechselbares geistiges Gepräge gaben. Für Ringelnatz schrieb er ein „Scherzo, in der getobakten Ringelnatzweise“ (und eine Hommage mit dem Titel „Nächtliche Begegnung“), Walter Mehring dagegen wurde mit einem Couplet macabre à la Walter Mehring in das Stammbuch seiner wahlverwandten Dichterfreunde eingetragen. Daß es sich bei diesen beiden Autoren um Gedichteschreiber handelte, mit denen er manch nächtliche Stunde verbrachte oder auf der Kabarettbühne zusammentraf, ist beiden Gedichten daran abzulesen, wie sich der Verfasser darin in Szene setzt: im „Scherzo“ durch die Anredeform „du“ dem mit ihm kirschtrinkenden, einstigen Seemann gegenüber, im „Couplet“ durch das beide vereinnahmende „Wir“, mit dem das Gedicht beginnt:

      Wir setzen an den Altersspeck
      Und werden Tugendwächter.
      Bald bleibt von uns nur noch dein Dreck,
      verarbeitet zu höhrem Zweck
      vom Tod, dem Konsumschlächter.

Ob Max Herrmann Gottfried Benn persönlich nahegekommen ist, ist nicht bezeugt, als Autor mit seinem Werk hatte er ihn jedoch feinfühlig wahrgenommen und als Rezensent bereits 1925 respektvoll anerkannt, zwei Jahre bevor er am 11. Juni 1927 eigens „Für Gottfried Benn“ das Gedicht „Das unfruchtbare Glück“ schrieb. In diesem Text gibt es kein „Du“ und auch kein „Wir“, die persönliche Nähe signalisieren, denn Max Herrmann gelingt es geradezu perfekt, wie Benn selbst zu sprechen, also den Dichter, der sich in den zwanziger Jahren schon seinen eigenen „Epilog“ geschrieben hatte, zum Mundstück jener Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit zu machen, die auch ihn öfter überfiel und an der er litt. Das in nicht wenigen Gedichten beschworene Glück wird nicht zufällig bei einem Kollegen, der es demonstrativ verneinte und in späteren Jahren zumindest das „Gegenglück“ (den Geist) für möglich hielt. Es ist sofort zu sehen: Max Herrmann hat sich schon in der ersten Strophe in die zynisch-medizinische Sichtweise des Arztes und Dichters eingeübt, mit der dieser seit seinem ersten Gedichtbuch Morgue Mensch und Welt betrachtet: dem Tier näher als dem Geist-Mensch, dem unbeherrschten Trieb des Zeugens und der Vermehrung ebenso ausgeliefert wie dem unaufhaltsamen Verfall. Dabei bildet der Kopist seine Worte nach Bennschem Muster aus einem Wortmaterial, das ernüchternder kaum sein könnte. Von „Muttersau“ bis „Ahnenwrack“ hat er Nomina gebildet, die für das aus christlicher Tradition überlieferte A und O stehen, während die Verben und Adverbien einen höhnischen Abgesang anstimmen, der auf den Grundton ö fixiert wurde. Mit dem Stammwort „Muttersau“, was sich als landwirtschaftlicher Terminus und als Schimpfwort zugleich lesen läßt, ist der fortgesetzten Wortbildung dann auch schon für die zweite Strophe der Weg gewiesen, in der an Verben aufgeboten wird, was im Sinn menschlicher Körperfunktionen von der Wiege bis zur Bahre den Leibesöffnungen entweicht, wofür dann noch einmal die auch bei Benn dominanten Nomina „Kot“ und „Blut“ stehen. Im Kompositum „Ammenschwatz“ hallt, an gleicher Stelle wie in der Vorstrophe plaziert, das ebenfalls neologisch anmutende Wort „Ahnenwrack“ nach. Das aus dem Tierleben entnommene Substantiv „Gehecke“ ist dann auch schon das überleitende Sinnwort für eine Personengruppe, die als „Mädchenjungvieh“ benannt und als der „ewige Grund“ dafür angesehen wird, daß sich das Leben blind und ungebremst erneuert und im Kreislauf immer wieder aus einem „ewigen Grund“ herauf neu erschafft und vertausendfacht. Laster und „Strich“ zeigen, daß all dies jenseits von Gut und Böse geschieht und sich als ein rational nicht faßbarer „Wille“ zum Leben jeglichem moralischen Regulativ entzieht. Es ist, auf animalischer Ebene, das „Unaufhörliche“, wie Benn Jahre später einen Text für ein Oratorium überschreibt. Das dann zweimal gebrauchte Verb „huren“, zuerst mit „Glut“ verbunden, dann dem Wort „Gruft“ an die Seite gestellt, setzt auf den dunklen Vokal gestimmt fort, was eingangs mit dem helleren Ö-Ton begonnen wurde. Wortmagie zeigt Triebenergie an. Verben wie „wimmeln“ und „überschwemmen“ verweisen auf den fluiden Urgrund, in dem Benn sich einst zu seinen Urururahnen zurückwünschte.

„Menschenpack“ ist das Ergebnis solcherart gehurten Lebens, dem nur „neuer Tod“ als Widerpart gewachsen ist.

Es ist ein Kreislauf ohne Sinn, dem keine Möglichkeit der Richtungsänderung innewohnt. Was sich da immer wieder hektisch generiert, ist und bleibt „Dreck“ und hat offenbar keine Chance, sich davon zu emanzipieren, gäbe es nicht eine Steigerungsmöglichkeit zu diesem ewigen „Gehecke“, die, in den Komparativ gesetzt, eine Alternative zu diesem Leben erkennen läßt. In der vorletzten Strophe wird sie mit der Wendung „Doch ewiger“ verbal eingeleitet und als Kadenz des Gedichts aufgebaut: jenes andere Leben, das nicht von Menschen gezeugt wurde, aber auch keinem Schöpfer-Gott zuzuschreiben ist. Es sind vom Menschen unabhängige, erdgeschichtlich dimensionierende Prozesse, die nicht dem mütterlichen Schoß (der „Muttersau“) entstammen, sondern wie Wasserläufe in „des Meeres Schoß“ zurückkehren, also einem anderen Kreislaufsystem angehören und jenseits der geschichtlichen Welt angesiedelt sind wie „der Baum im Paradiese“, der mit dem Adverb „immerdar“ ebenfalls als „ewiger“ dem menschlichen Geburts- und Todesrhythmus entzogen ist. Für diesen Baum gelten Zeitmaße, die nicht chronologisch zu definieren sind und mit der Wortfolge „ist und blüht und bleibt“ als durativer Zustand ausgewiesen werden, allen Zeitläuften („was auch geschah“) zum Trotz. Dieser Baum wird der Augenzeuge eines den einzelnen Menschen übersteigenden Endes dessen sein, was einst „Menschheit hieß“ und sich als nicht fähig erwies, einen Glückszustand zu erlangen, der nicht mehr aus der mit Fruchtbarkeit gepaarten Kopulationslust erwächst, sondern als dessen Gegenteil definiert wird: als „das unfruchtbare Glück“. Das freilich ist - zumindest in der von Max Herrmann-Neiße gegebenen Lokalisierung als „Göttergarten“ - ein für heutige Menschen unerreichbarer Ort, ein Utopia, das an Zeiten erinnert, die Schiller in seinem Gedicht „Et in Arcadia ego“ gemeint haben könnte, oder in einer fernen Zukunft, die Benn 1933 in der Rückbesinnung auf die spartanischen Krieger willkommen hieß. Spätestens zu dieser Zeit aber waren er und Max Herrmann schon geschiedene Leute, und Benns Sendschreiben an die „Literarischen Emigranten“ wird den für wenige Monate in der Schweiz lebenden Schlesier davon überzeugt haben, daß er sich in diesem Dichter und Denker geirrt und vergriffen hatte, als er die Wortkunst und die scheinbare Unzeitgemäßheit des nun zum führenden Akademiemitglied gewordenen Lyrikers schon für ein Zeugnis humanitärer Gesinnung hielt. An die Stelle des Benn 1927 nachempfundenen „Göttergartens“, der ästhetisch angelegte Gegenwelten suggerierte, war in dessen Weltbild nun der Literatur und Politik verbindende Begriff „Ausdruckswelt“ getreten, den er in seiner Schrift Kunst und Macht so umschrieb: „Das alles spielt sich innerhalb eines Volkes ab, das sich züchten will - das ergibt eine neue Lage von Verwicklungen und Gewichten. Bei der diesjährigen Bilanz der Erde stieß ich auf zwei Prinzipien, die die Gewalt des Züchtungsgedankens zu ertragen scheinen, es sind die Kunst und die Macht oder der Krieger und die Statue oder das Schlachtfeld und die Herme, ich stelle sie dar, wobei ich natürlich offenlassen muß, ob nicht auch sie noch Masten tragen, Schatten sind, Rollen aus dem alten Sphinxspiel zwischen Schein und Wirklichkeit.“

Max Herrmann-Neiße dagegen veröffentlichte in der von Klaus Mann herausgegebenen Zeitschrift „Die Sammlung“, an den Benns Rede an die „Literarischen Emigranten“ im Grunde adressiert war, den einzigen Essay seiner Exiljahre. Sein Titel: „Der Fall Freiligrath“. Den Zeitgenossen wird nicht entgangen sein, daß sich darin Entsprechungen zum „Fall Benn“ entdecken ließen. Widmungen freilich können nicht zurückgenommen werden. Sie sind Markierungszeichen, die die Wege zu den Dichtern weisen, die in der Literatur des 20. Jahrhunderts miteinander verbunden waren und dennoch getrennte Wege gingen - wie Max Herrmann und Gottfried Benn.



* Max Herrmann-Neiße (eigentl. Max Herrmann), geboren am 23. 5. 1886 in Neisse/Schlesien; Gottfried Benn, geboren am 2. 5. 1886 in Mansfeld/Westpriegnitz


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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