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Frank-Lothar Kroll

Militär, Politik und Kultur
Das Janusgesicht Preußens

Im Februar 1914, ein halbes Jahr nach dem mit festlichem Aufwand begangenen fünfundzwanzigjährigen Regierungsjubiläum des letzten preußischen Königs, Wilhelms II., und ein halbes Jahr vor Ausbruch des im Untergang der preußischen Königsherrschaft endenden Ersten Weltkriegs sahen sich die Leser der in München erscheinenden Zeitschrift „Der Kunstwart“ mit einer Wesensbestimmung des Preußentums aus der Feder eines bayerischen Journalisten konfrontiert, die das Janusgesicht dieses Staates prägnant umschrieb. „Was stellen wir uns unter Preußen vor und was i s t Preußen?“ fragte Christoph Wienecke damals seine Leser und antwortete vieldeutig: „Die einen stellen sich vor: Junker mit Reitstiefeln und Hundepeitschen, die jährlich nur ein Buch kaufen, den Kalender. [...] Leutnants mit schnarrender Stimme, schnauzende Unteroffiziere. Schneidige Staatsanwälte. [...]Jeder zweite Einwohner ein Schutzmann. [...] Und wenn man Münchner ist: das Land, wo eigentlich die vielen Sachsen herkommen. Die anderen: Pünktliche Eisenbahnen. Saubere Straßen. Flottes Geschäft. [...] Die dritten: [...] Roggenbrot und dicke Milch im Schapp. Eiserner Fleiß, der Sand und Moor in fruchtbare Felder verwandelt. ... Die vierten: Das Vaterland Friedrichs des Großen und Kants. [...] Das Land, wo Minister zu Hegels Füßen saßen [...], die Universität, an der Jakob Grimm, Treitschke, Mommsen lehrten. Schlüters und Schinkels Bauten und Denkmäler, Chodowieckis Stiche. Menzels Bilder. Scharnhorsts, Clausewitzens und Moltkes Heer. Jeder hat s e i n e n Vorstellungskreis von Preußen. Wer hat den richtigen?“

Der Annäherung an diesen „richtigen“ Vorstellungskreis von Preußen gelten die Darlegungen des folgenden Vortrags. Es geht um eine möglichst unvoreingenommene Inblicknahme jenes 1947 von den alliierten Siegermächten aufgelösten ost- und mitteldeutschen Staates, dessen Königserhebung sich am 18. Januar 2001 zum dreihundertsten Mal jährt. Das Thema „Preußen“ war, auch unabhängig von entsprechenden Jubiläumsanlässen, im öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 schon öfter Gegenstand politischer Reflexionen, wissenschaftlicher Diskussionen und publizistischer Erörterungen - zuletzt 1981, im Rahmen einer großangelegten Preußenausstellung in West-Berlin. Damals gab es noch die DDR, und auch sie hat sich seinerzeit intensiv an der Diskussion um Preußen beteiligt, wobei sich in ihrem Geschichtsbild ein bemerkenswerter Wandel von einer anfangs überaus preußenkritischen Einstellung zu einer zuletzt bewußt auf Aneignung bestimmter Traditionsstränge der preußischen Geschichte für die Zwecke und Ziele der SED gerichteten Haltung vollzog. Das Preußenbild der DDR ist indes heute längst Geschichte geworden, stärker vielleicht als Preußen selbst, denn mit der Osterweiterung der Bundesrepublik dürften dem preußischen Erbe im größer gewordenen Deutschland seit Oktober 1990 unzweifelhaft erhebliche Impulse zugewachsen sein - nicht nur in geographischer oder in mentalitätsmäßiger Hinsicht.

Preußen bleibt mithin aktuell, auch und gerade in seiner vielbeschriebenen Doppelgesichtigkeit, seiner Ambivalenz, die sich durch die Jahrhunderte seiner Geschichte hindurchzieht und auf vielen Feldern greifbar ist. So war Preußen das Land sprichwörtlicher Toleranz, das im 17. und 18. Jahrhundert, weit vor Gründung der USA als des klassischen Einwanderungslandes, Glaubensflüchtlinge aus ganz Europa in großer Zahl aufnahm - und das später, im 19. Jahrhundert, Katholiken, Sozialisten und Polen diskriminierte bzw. verfolgte; Preußen war das Land, das unter Friedrich dem Großen zum Spalter des Alten Reiches geworden ist - und das später, unter Otto von Bismarck, als Einiger des Zweiten Reiches wirkte; Preußen war das Land, das im Allgemeinen Landrecht von 1794 Prinzipien der Rechtstaatlichkeit früh und mustergültig verwirklichte - und das zur gleichen Zeit im vielfach berechtigten Ruf einer militärischen Zucht- und Zwangsanstalt stand. Die Reihe solcher Ambivalenzen ließe sich erheblich verlängern, denn das Ringen zwischen Machtstaat und Kulturstaat zählt zu den bestimmenden Wesenszügen preußischer Geschichte vom 17. bis ins 20. Jahrhundert.

Von diesem Ringen soll im Folgenden die Rede sein, wobei im Mittelpunkt jene beiden gleichsam klassischen Epochen der preußischen Geschichte stehen werden, in denen die erwähnte Ambivalenz von Geist und Macht auf jeweils besonders charakteristische Weise zu Tage getreten ist. Dies erfolgte zum einen (Kapitel II.) im 18. Jahrhundert, in der Zeit zwischen 1713 und 1786, unter den für die innere und äußere Entwicklung des Landes maßgeblichen Herrschern Friedrich Wilhelm I. und Friedrich dem Großen; und es erfolgte zum anderen im 19. Jahrhundert, zwischen 1806 und 1861, in einer Phase lebhaft betriebener geistig-politischer Regeneration des Staates nach dessen Zusammenbruch von 1806 und, darauf aufbauend, beachtenswerter künstlerisch-kultureller Höchstleistungen, vor allem im „Spree-Athen“ während der Regierungszeit Friedrich Wilhelms IV. (Kapitel III). Zunächst jedoch (Kapitel I) soll ein Blick in die Zeit vor 1701 die Wurzeln des preußischen Januskopfes freilegen, bevor dann abschließend (Kapitel IV) eine summarisch gehaltene Erörterung der Zeit nach 1871 der Verästelung dieses Januskopfes bis an die Schwelle der Gegenwart nachspüren wird.

I. Brandenburg-Preußen war, wie die meisten frühneuzeitlichen deutschen Territorialstaaten, eine im wesentlichen dynastische Schöpfung. Der Staat verdankte seine räumliche Gestalt und seine historische Wirksamkeit nicht irgendwelchen stammesgeschichtlich-geographischen, landschaftlich-regionalen oder gar ethnisch-nationalen Triebkräften, sondern nahezu ausschließlich dem familiären Ehrgeiz und territorialen Ausdehnungsstreben des Hohenzollernhauses. Dieses Haus hatte übrigens herkunftsmäßig weder mit Brandenburg noch mit Preußen etwas zu tun; die Ursprünge der Hohenzollern lagen auf süddeutschem Boden, in Schwaben und in Franken. Erst 1415 wurde der fränkisch-hohenzollernsche Burggraf von Nürnberg, Friedrich I., vom Kaiser mit der Mark Brandenburg belehnt. Unter ihm und unter seinen ersten drei Nachfolgern im 15. Jahrhundert, Friedrich II., Albrecht Achilles und Johann Cicero, war die Einwirkung fränkischer Interessen auf die kurbrandenburgische Politik denn auch noch stark und nachhaltig.

Einen militärisch-kulturellen Januskopf hat das kurbrandenburgische Staatswesen damals nicht besessen, auch nicht während der Herrschaft der hohenzollernschen Kurfürsten des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, Joachims I. und Joachims II., Johann Georgs und Joachim Friedrichs, Johann Sigismunds und Georg Wilhelms. Zwar gab es unter diesen Regenten den begeisterten Kunstmäzen Joachim II., dessen Wirken die Städte Berlin und Cölln einen renaissancemäßgen Anstrich verdankten - an der dabei entstandenen Schuldenlast hat dann Joachims II. sparsam-frommer Sohn und Nachfolger Johann Georg länger als ein Jahrzehnt getragen. Doch ein stehendes Heer und ein politisch exponierter kriegerischer Stand existierten seinerzeit nicht.

Das Hauptaugenmerk aller preußischen Kurfürsten bis zum Jahr 1640 galt vor allem drei Gesichtspunkten: (1) der Stabilisierung landesfürstlicher Gewalt gegenüber den Ansprüchen und Befugnissen der Landstände, welche besonders durch das Steuerbewilligungsrecht bis weit ins 17. Jahrhundert eine entscheidende Mitsprachemöglichkeit in den Landesangelegenheiten besaßen; (2) der allmählichen, konstant fortschreitenden Zusammenfassung und Straffung der landesstaatlichen Verwaltung durch Kammer, Kanzlei und Geheimen Rat; (3) der Formierung und dem Ausbau des landesherrlichen Kirchenregiments; seit dem Übertritt des Kurfürsten Joachim II. zum lutherischen Bekenntnis 1538 waren die brandenburgisch-preußischen Herrscher oberste Bischöfe der evangelisch-lutherischen Landeskirche ihres Staates, was bis zum Ende der Monarchie 1918 auch so bleiben sollte und wodurch langfristig die gesamte Kirchenstruktur in engstem Bezug zu ihrem obersten Bischof, eben dem Landesherrn, gebracht wurde. Auch die Konversion des hohenzollernschen Herrscherhauses zum Calvinismus 1613 - seitdem waren und blieben die Herrscher Preußens reformierten Bekenntnisses - änderte daran nichts.

Blickt man vor dem Hintergrund dieser Befindlichkeiten auf den brandenburgisch-preußischen Staat in der frühen Neuzeit, so ergibt sich trotz aller kurfürstlichen Konsolidierungsbestrebungen ein - aus späterer Perspektive - bescheidenes Fazit. Brandenburg-Preußen war ein territorial zersplittertes Land ohne natürliche Grenzen, Übergriffen auswärtiger Mächte infolgedessen relativ schutzlos ausgeliefert, wirtschaftlich wenig entwickelt, kulturell ohne Bedeutung und im Konzert der Mächte bestenfalls drittrangig. Erst mit dem Regierungsantritt des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm 1640 sollte sich dies fundamental ändern, erst jetzt, unter diesem ehrgeizigen und ambitionierten Monarchen, des ersten wirklich bedeutenden Herrschers der nun immerhin schon 225 Jahre in der Mark regierenden Hohenzollerndynastie, begann der Aufstieg Preußens und mit diesem Aufstieg zugleich auch die Ambivalenz von „Idee“ und „Interesse“, von „Geist“ und „Tat“, von Machtstaat und Kulturstaat.

Der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm hat in seiner 48jährigen Regierungszeit die ständestaatliche Struktur des preußischen Länderverbandes zugunsten einer stärkeren Betonung provinzenübergreifender monarchischer Institutionen aufgelockert, besonders auf verwaltungsmäßigem Gebiet. 1651 erfolgte eine grundlegende Reorganisation des Geheimen Rates, der nun als wichtigste zentrale Regierungs- und Verwaltungsbehörde für die einheitliche Regelung der Steuer-, Finanz- und Wirtschaftspolitik sorgte, getragen von einem erwiesenermaßen unbestechlichen Beamtentum. Der staatlichen Konsolidierung diente darüber hinaus und nicht zuletzt der Heeresausbau. 1641, ein Jahr nach Regierungsantritt, zählte die brandenburgische Armee nur wenig mehr als 3 000 Mann; 1688, im Todesjahr des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm, hatte der Staat bereits 30 000 Soldaten fest unter Waffen, geführt von einem aus einheimischen Adligen rekrutierten Offizierkorps.

Parallel zu diesem militärisch-politischen Reorganisationswerk vollzog sich unter dem Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm indes auch eine geistig-kulturelle Kräfteformierung. Brandenburg-Preußen gewann während seiner Regierungszeit enge Verbindung zum intellektuellen Leben der bedeutenderen europäischen Nachbarstaaten, zunächst vor allem der Niederlande. Von dort aus gelangte die späthumanistisch grundierte Philosophie des Neustoizismus um den Leidener Staatstheoretiker Justus Lipsius nach Brandenburg. Lipsius vertrat eine rigorose Pflichtenethik energischer Selbstkontrolle und innerer Disziplinierung. Seine Lehre wurde am Hof des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm zu einer Lebenshaltung transformiert, die Irrationalität und Leidenschaftlichkeit zugunsten entschiedener Betonung der Kräfte des Willens und der Vernunft zurückzudrängen suchte. Äußere und innere Zucht, Hochschätzung des durch Selbstüberwindung Erreichten, Anspannung aller zur Verfügung stehenden Kräfte zu Leistung und Tat - das waren die Begleiterscheinungen und Folgewirkungen einer Rezeption neustoizistischer Lehren in Brandenburg seit etwa 1650, zugleich weitstrahlende Merkmale dessen, was später als Wesenseigentümlichkeit des „preußischen Stils“ gegolten hat, den Januskopf des hohenzollernschen Macht- und Kulturstaates plastisch markierend.

Zu dieser Janusköpfigkeit gehörte indes auch, gleichfalls bereits im 17. Jahrhundert, die für den preußischen Staat so sprichwörtlich werdende Politik der religiösen Toleranz gegenüber Andersgläubigen. Unter dem Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm wurden vor allem die seit 1685 in Frankreich massiv diskriminierten Protestanten ins Land gerufen - bis zum Jahr 1700 hatten immerhin schon fast 20 000 hugenottische Glaubensflüchtlinge den Weg nach Brandenburg-Preußen gefunden. Die französischen Einwanderer stärkten dort nachhaltig das calvinistische Element. Mit ihren gruppenspezifischen Kenntnissen, Fertigkeiten und Begabungen haben sie dem Hohenzollernstaat in den folgenden Jahrhunderten wertvolle Dienste zu leisten vermocht - auf wirtschaftlichem Gebiet ebenso wie im militärischen und im geistig-kulturellen Bereich. Fouqué, Chamisso, Gilly, Fontane entstammten neben vielen anderen Repräsentanten des intellektuellen Lebens in Preußen französischen Refugiés-Familien.

II. Im Prozeß der Stabilisierung hohenzollernscher Fürstenherrschaft in Brandenburg-Preußen bildete das 18. Jahrhundert den Kulminationspunkt. Gemeinhin werden Persönlichkeit und Werk Friedrich Wilhelms I. mit der spezifischen Herausbildung eines „preußischen Stils“ in Verbindung gebracht. Doch auch dieser Monarch hatte seine Vorläufer - Determinanten einer geistigen Entwicklungslinie, zu denen Luthertum, Calvinismus und Neustoizismus ebenso gerechnet werden müssen wie die naturrechtlich argumentierende Staatsphilosophie der Aufklärung und die auf religiöse Verinnerlichung zielende Glaubensbewegung des Pietismus. Zu diesen vom 17. Jahrhundert in die Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. hinüberwirkenden Determinanten zählte auch die nach langer Vorbereitungsphase am 18. Januar 1701 realisierte Königserhebung des kurfürstlichen Vaters und Vorgängers Friedrich III. als erster König in Preußen Friedrich I. Zweifellos war der Kronerwerb zunächst weitaus eher eine symbolische Rangerhöhung als ein Akt von unmittelbarer machtpolitischer Wirksamkeit. Doch im Zeitalter höfisch-barocker Repräsentation kam solchen Standeserhöhungen auch eine konkrete praktische Bedeutung zu, zumal im gesamteuropäischen Kontext. Hier hatte von den mit Brandenburg-Preußen rivalisierenden deutschen Nachbarterritorien Hannover seit den 1690er Jahren Aussicht auf den englischen Thron (realisiert 1714) und Kursachsen durch August den Starken bereits 1697 die polnische Königskrone erworben. Überdies führte der Kronerwerb des Hohenzollern längerfristig zu einer nachhaltigen Stärkung des inneren Zusammengehörigkeitsgefühls der nun zusehends unter dem Namen „Preußen“ firmierenden kurbrandenburgischen Territorien.

Die eigentliche Bedeutung der Regierungszeit des ersten preußischen Königs liegt indes auf geistig-kulturellem Gebiet, der preußische Januskopf trug bis 1713 ein schöngeistig-philosophisches Antlitz. Am königlichen Hof in Berlin verkehrten Gottfried Wilhelm Leibniz, Pierre Bayle und François Fénelon als Repräsentanten westeuropäischer Geistigkeit, und an Entfaltung höfischen Prunkes und zeremonieller Pracht strebte der erste preußische König dem bewunderten Vorbild Ludwig XIV. auf seine Weise nach, unter Einschluß der damit verbundenen Schulden- und Mätressenwirtschaft. Aber unter ihm fanden eben auch die unterschiedlichsten geistigen Strömungen und wissenschaftlichen Regungen Raum und Wirkungsmöglichkeiten in Preußen - die pietistischen Theologen Philipp Jacob Spener und August Hermann Francke ebenso wie der Aufklärungsphilosoph Christian Thomasius oder der lutherische Staatsrechtslehrer Veit Ludwig von Seckendorf. Nicht zuletzt die im Jahr 1700 auf Betreiben von Leibniz gegründete Akademie der Wissenschaften in Berlin verlieh dem neuen Königreich Preußen in der Welt europäischer Geistigkeit und Gelehrsamkeit einen guten Ruf.

Das änderte sich schlagartig 1713 mit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I. Dieser Herrscher hatte keinen Sinn für intellektuelles Leben. Kunst und Wissenschaften interessierten ihn nur im Blick auf ihre praktische Verwertbarkeit - etwa die Malerei, in der er selbst dilettierte, als Abbildungs seiner Soldaten, oder „nützliche“, angewandte Wissenschaften, wie etwa die Medizin oder die Kameralistik, die er in Grenzen förderte. Doch der berühmteste deutsche Philosoph seiner Zeit, Christian Wolff, wurde vom König 1723 wegen theologischer Unstimmigkeiten unter Todesandrohung des Landes verwiesen, und als Hofnarr diente dem Monarchen jahrzehntelang - ein Professor der Geschichte. Die von Friedrich I. gegründete Akademie der Wissenschaften geriet unter seinem Sohn in völligen Verfall, und der König liebte es, bei den Klängen seines Hoforchesters einzuschlafen.

Gleichwohl ist Friedrich Wilhelm I. ein bedeutender Herrscher gewesen. Sein Wirken erstreckte sich vor allem auf den Bereich der Verwaltungs-, Heeres- und Finanzreform, und hier hat der König vieles von dem geschaffen, was bis heute zu den charakteristischen Erscheinungsformen des Preußentums gerechnet wird. Friedrich Wilhelm I. verordnete allen Staatsdienern, unter Einschluß des königlichen Hofes, strikte Sparsamkeit, legte einen Staatsschatz in den Kellern des Berliner Schlosses an, setzte einen auf Ausgeglichenheit von Einnahmen und Ausgaben achtenden Jahresetat durch, mittels dessen die Staatseinkünfte während seiner Regierungszeit verdoppelt werden konnten, und schuf 1722 mit dem „Generaldirektorium“ eine oberste zentrale Verwaltungsbehörde für die gesamte Monarchie. Sein Beharren auf Pünktlichkeit und Disziplin, sein Einfordern von Ordnung und Unterordnung, sein glaubensmäßig begründeter eigener Arbeitseinsatz, sein ungeheures Arbeitstempo und sein unerschütterliches Pflichtbewußtsein prägten den Bereich der Zivilverwaltung ebenso nachhaltig wie das Militärsystem Preußens. Hier, auf militärischem Gebiet, hat Friedrich Wilhelm I. als „Soldatenkönig“ am stärksten gewirkt. Staat und Gesellschaft wurden nun in bisher nicht gekanntem Ausmaß systematisch auf die Bedürfnisse der Armee hingeordnet. Es entstand eine am Militär ausgerichtete Gesellschaftsstruktur, innerhalb derer dem Adel herausragende Positionen zugedacht waren - nicht freilich deshalb, weil Friedrich Wilhelm I. vom brandenburgisch-preußischen Adel etwa übermäßig viel gehalten hätte, sondern weil er ihn durch Einbindung in königliche Dienste zu disziplinieren suchte. Er zwang den adligen Nachwuchs in die Kadettenhäuser und schuf so im Laufe seiner Regierungszeit ein sozial weitgehend einheitlich gegliedertes Offizierkorps, das im Todesjahr des Monarchen 1740 immerhin schon 3 116 Köpfe zählte. Auch gesellschaftlich wurde der Offiziersstand sichtbar herausgehoben - im neuen Rangreglement von 1713 bekleideten die ersten Ränge nicht mehr, wie bisher, die hohen und höchsten höfischen Zivilchargen, sondern die Militärs: Generalfeldmarschälle, Generale der Infanterie, Obristen. 1740 unterhielt Preußen die viertgrößte Armee Europas, obwohl es an Fläche nur den zehnten Platz, an Einwohnerzahl gar nur die dreizehnte Stelle einnahm. Damals zählte die Armee bei 2,25 Millionen Einwohnern immerhin 80 000 Mann.

Friedrich Wilhelm I. ist bei all seiner Abneigung gegenüber theoretischem Buchwissen, seiner auf Effektivität und Zweckmäßigkeit gerichteten Grundeinstellung, seinen zweifellos vorhandenen militaristischen Neigungen doch nicht bloß jener geistlose Pedant gewesen, als welchen ihn die meisten zeitgenössischen und nachlebenden Betrachter zumeist gesehen haben. Der preußische Januskopf blickte auch aus ihm hervor, denn e i n e geistige Strömung seiner Zeit förderte er seit Beginn seiner Regentschaft entschieden und uneingeschränkt: den Pietismus. Diese theologische Reformbewegung, deren Hauptvertreter August Hermann Francke in der preußischen Universitätsstadt Halle wirkte, war ganz nach des Königs Geschmack. Der tätige Glaube des Pietismus, der sich an den Einzelmenschen und dessen praktische Bewährung im Hier und Jetzt richtete, um die Welt in Übereinstimmung mit den Vorschriften der Bibel in eine bessere zu verwandeln, korrespondierte mit Friedrich Wilhelms I. eigenen Auffassungen von einem aktiven Christentum. Dies galt vor allem für das soziale Engagement des Halleschen Pietismus: sein Streben nach Eindämmung aufwendiger adliger Lebensführung, seine Wertschätzung bürgerlicher Lebenswelten, seinen Willen zur Hebung der Arbeitsmoral und zur Verbesserung der Arbeitsverhältnisse. Friedrich Wilhelm I. sah es gerne, wenn seine zukünftigen Offiziere, Diplomaten und Verwaltungsbeamten die von einer entsprechend puritanischen Gesinnung geprägten Franckeschen Erziehungsanstalten in Halle besuchten, welche, wie auch die Universität Halle selbst, die werdenden Staatsdiener ein sachlich-geschäftsmännisches und technisch-wirtschaftliches Wissen lehrte - praxisbezogen und am Gedanken des Einsatzes für die Allgemeinheit orientiert, den auch der König selbst als seine vordringlichste Pflicht empfand.

Sein in vielem so gänzlich anders gearteter Sohn und Nachfolger, Friedrich der Große, hat dies ähnlich gesehen - allerdings mit bezeichnenden Akzentverlagerungen und in einem erheblich weitläufigeren intellektuellen Bezugsfeld. Mit, durch und in Friedrich gelangte der für die Geschichte Preußens so charakteristische Gegensatz von Macht und Geist, gelangte das Janusgesicht des „preußischen Stils“ zu vollem Durchbruch, vom Beginn seiner langen Regierungszeit an und ihm selbst stets bewußt.

Als Friedrich 1740 zur Herrschaft kam, richteten sich die Erwartungen der gesamten gebildeten Welt Europas auf den neuen König, den literarisch interessierten und engagierten Freund Voltaires, Verfasser des „Antimachiavel“, welcher die Pflichten der Fürsten nach aufgeklärten Grundsätzen beschrieben und den reinen Machtstaatsgedanken strikt verworfen hatte. Friedrich schien diese Erwartungen zunächst zu erfüllen - eine seiner ersten Amtshandlungen war die demonstrative Rückberufung des vom Vater verjagten Aufklärers Christian Wolff an die Universität Halle.

Doch was geschah dann? Wenige Monate später schien der König den Geltungsanspruch seiner aufgeklärten Prinzipien nahezu vollständig zu relativieren, indem er das preußische Staatsinteresse dem Völkerrecht rigoros überordnete, ins österreichische Schlesien eindrang und mit der Eroberung diese Landes den Grund für jene kriegerischen Verwicklungen in Europa schuf, deren Folgen nicht zuletzt ihn selbst während der gesamten ersten Hälfte seiner 46jährigen Regierungszeit in Atem halten sollten. Friedrich hat sich über die damit gegebene Ambivalenz der eigenen Stellung keine Illusionen gemacht, er wußte, daß zwischen den Prinzipien preußischer Machtpolitik und den Maximen des „Philosophen von Sanssouci“ eine Kluft ragte, die, wenn überhaupt, nur schwer zu überbrücken war. Das Janusgesicht des friderizianischen Preußen kulminierte im König selbst als latent vorhandenes und in fragiler Balance gehaltenes Spannungsfeld von Humanitätsidee und Staatsräson. Es ist später vielfach versucht worden, dieses Spannungsfeld insofern zu harmonisieren, als man der friderizianischen Staatsidee eine präsumtive Einheit von Sittlichkeit und Staatsnotwendigkeit unterstellte. Nur der Machtstaat könne - so etwa die entsprechende Argumentation des Verfassungshistorikers und Staatsrechtslehrers Ernst Rudolf Huber - humanitär handeln, weil nur er die Voraussetzungen zur Verwirklichung sittlicher Ziele biete; und nur der Kulturstaat sei im Besitz echter Macht, weil nur er über die gesammelten Energien der Nation verfüge. Doch derart kasuistisch dachte Friedrich nicht. Er hat, wie später übrigens auch Bismarck, den Zwiespalt zwischen der Ethik des Privatmannes und den politisch-moralischen Pflichten des Regenten deutlich verspürt. Was er in diesem Rahmen allenfalls erstrebte, waren Einhegungen der Macht nach den Prinzipien allgemeiner Wohlfahrt, überindividueller Gerechtigkeit, staatsbezogener Sittlichkeit.

Und die dabei zu verbuchenden Erfolge waren durchaus keine geringen. Sie waren sichtbar in den Bereichen des Rechtswesens und der Verwaltung, der Schul- und Kultur-, der Kirchen- und Sozialpolitik. Nicht zu Unrecht haben auch radikale Aufklärer außerhalb Preußens oft betont, daß sie das Land Friedrichs des Großen, bei aller Detailkritik, für einen der aufgeklärtesten Staaten Europas hielten, der in dieser Hinsicht wohl nur von England übertroffen werde. Friedrichs sprichwörtlich gewordene Religionstoleranz gegenüber allen Angehörigen christlicher und nichtchristlicher Konfessionen und ethnischer Minderheiten zählte zu jenen aufklärerischen Aktivposten, die man im Ausland, namentlich in Frankreich, sehr wohl zu schätzen wußte, weil dort, wie übrigens auch im Habsburger Reich, konfessionelle Einheit als Voraussetzung für den Erhalt staatlicher Einheit angesehen und eingefordert wurde und kirchenkritische Publikationen der staatlichen Zensur unterworfen waren. Friedrichs Toleranz hingegen erstreckte sich ausdrücklich auch auf die Kirchenkritik, weil für ihn alle höherstehenden Religionen ein im wesentlichen gleichgeartetes und daher gleichrangiges Moralfundament besaßen - nach seiner Auffassung waren alle diese Moralfundamente gleichermaßen falsch - , wodurch jedenfalls die Lehrunterschiede zwischen den Konfessionen gegenstandslos schienen und diese selbst dem Staat gegenüber als gleichberechtigt galten. „Ein jeder“ - so Friedrich 1781 - „kann bei mir glauben was er will, wenn er nur ährlich ist. Was die Gesangbücher angehet, stehet einem jeden frei, zu singen: ,Nun ruhen alle Welder‘ oder dergleichen dummes und thörigtes zeug mer. Aber die priesters die mühsen die tolleranz nicht vergessen, denn ihnen wird keine verfolgung gestattet werden.“ Daß die von Friedrich geübte Religionstoleranz dabei wesentlich aus Gründen des staatlichen Nutzens gewährt wurde - langfristig kamen der Konfessionsfriede und die Zuwanderung qualifizierter ausländischer Glaubensflüchtlinge dem materiellen Wohlstand und der wirtschaftlichen Prosperität des Landes zugute - , verweist auf die hier gegebene enge Verklammerung von Staatsräson und Humanitätsidee, Machtstaatsgedanke und Kulturstaatsideal im friderizianischen Preußen.

Erfolgreich im Vorantreiben der Kulturstaatsidee war Friedrich auch auf rechtspolitischem Gebiet. Die Justizreformen begannen bereits 1740 mit Abschaffung der Folter, dann folgten Reformen des Kirchen- und Schulrechts, der Rechtspflege und der Justizverwaltung. Das fragwürdige, weil willkürlich gehandhabte Instrument der Kabinettsjustiz freilich ließ der König bestehen, weil sie ihm als probates Mittel zur Korrektur von richterlichem Machtmißbrauch und behördlicher Rechtsbeugung galt - exemplarisch gehandhabt im Fall des Müller-Arnold-Prozesses und den damit verbundenen Fehlgriffen. Aber das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten - erst nach Friedrichs Tod 1794 in Kraft getreten, jedoch durch ihn auf den Weg gebracht und ganz den aufklärerischen Geist seiner Epoche spiegelnd - hat die Rechtsstaatsidee in Preußen dann doch weitgehend realisiert und das Janusgesicht des Hohenzollernreiches nach der kulturstaatlich orientierten Seite hin aufgehellt.

Das galt schließlich auch für die von Friedrich dem Großen in allen Phasen seines Lebens mit gleichbleibender Intensität betriebene theoretisch-philosophische Rechtfertigung seines Herrscheramtes. Dieses Amt erschien ihm stets als eine Einrichtung, deren Ursprung auf einen zwischen Volk und Herrscher gleichberechtigt ausgehandelten Vertrag zurückging, demzufolge der Monarch als c o n c i t o y e n („Mitbürger“) für Friedrich nichts anderes war als eine im Dienst des Volkes stehende, zur Förderung des Gemeinnutzes wirkende, Schutz und Rechtssicherheit garantierende Staatsinstitution, die ihre Existenzberechtigung im Falle einer Nichterfüllung dieser Aufgaben verwirkt hatte. In diesem Sinne hieß es in Friedrichs staatstheoretischer Abhandlung „Regierungsformen und Herrscherpflichten“ von 1777 ganz gemäß der aufklärerischen Herleitung der Staatsgewalt und in einer für einen regierenden Monarchen nicht unbedingt selbstverständlichen Diktion: „Die Fürsten ... sind ... nicht etwa deshalb mit der höchsten Macht bekleidet worden, damit sie ... in Ausschweifung und Luxus aufgehen könnten. Sie sind nicht zu dem Zweck über ihre Mitbürger erhoben worden, daß ihr Stolz ... der schlichten Sitten, der Armut, des Elends verächtlich spotte. Sie stehen keineswegs an der Spitze des Staates, um in ihrer Umgebung einen Schwarm von Nichtstuern zu unterhalten, die durch ihren Müßiggang und unnützes Wesen alle Laster fördern ... Man präge sich dies wohl ein: Die Aufrechterhaltung der Gesetze war der einzige Grund, der die Menschen bewog, sich Obere zu geben; denn das bedeutet den wahren Ursprung der Herrschergewalt.“

III. Friedrich der Große befand sich mit solchen Auffassungen, bei aller Ambivalenz, bei aller Janusköpfigkeit, die seinem persönlichen Stil und seiner politischen Haltung anhaftete, auf der Höhe seiner Zeit. Doch diese Zeit ging in den 1780er Jahren unwiderruflich zu Ende. Das friderizianische System hatte dem Gedanken der individuellen bürgerlichen Freiheitsrechte, dem Streben des einzelnen nach aktiver und verantwortlicher Mitwirkung am Staatsleben keinen Raum gewährt. Auf solche Ansprüche jedoch richteten sich jetzt die Wünsche des neuen, bürgerlichen Jahrhunderts. Der Staat, bisher unantastbarer Garant von Ordnung, Recht und öffentlichem Wohl, galt nun zusehends als Hindernis auf dem Weg zur Selbstverwirklichung in Besitz und Bildung. Die Kritik an einem die Freiheit des Individuums und der Gesellschaft beschränkenden Staatsmechanismus wurde allgemein. Man wünschte dessen Reduzierung, mehr Selbständigkeit und weniger Bürokratie.

Solche Wünsche grundierten auch die Stein-Hardenbergschen Reformen, mittels derer dem preußischen Staat nach dem miltärisch-politischen Totalzusammenbruch von 1806 eine Fundamentalerneuerung ermöglicht werden sollte, in deren Gefolge sich auch das Problem der Janusköpfigkeit des regenerierten Staatswesens neu stellte. Die Reformer selbst haben dieses Problem ausdrücklich erwogen und versucht, in ihrem Erneuerungsstreben Staats- und Kulturidee, Wohlfahrts-, Rechts- und Machtgesinnung miteinander zu verbinden. Dies galt für das Werk der Agrarreform und für die Städteordnung mit ihrem Ziel der kommunalen Selbstverwaltung, für die Aufhebung des Zunftzwangs und für die Heeresreform mit ihrer damals modernen Konzeption der Allgemeinen Wehrpflicht. Das Humanitätsideal der zeitgenössischen deutschen Bildungswelt, nach welchem der einzelne allein durch geistige Formung und sittliches Reifen einer Erneuerung der Gemeinschaft zuzuarbeiten vermochte, bewegte viele der Reformer ebenso wie die vor allem durch das Denken Immanuel Kants geförderte Auffassung, daß der Staat nur dann eine innere Berechtigung besitze, wenn er in allen Bereichen der Idee des Rechts gemäß verfaßt sei.

In diesem Sinne hat vor allem Wilhelm von Humboldt in seiner Eigenschaft als Leiter der Sektion für Kultus und Unterricht im preußischen Innenministerium 1809/10 die Bildungsidee als ein bestimmendes Element der Staatsidee zu forcieren gesucht - entsprechend der von den meisten Reformern verfochtenen Überzeugung, daß der erneuerte preußische Staat nicht primär, wie in der vorangegangenen Epoche, eine Macht- und Wohlfahrtsidee, sondern, weitaus stärker, eine Kulturidee zu artikulieren habe. Es war das Anliegen der Reformära, Geist und Bildung nicht als einen unabhängig vom staatlichen Leben existierenden privaten Bereich zu kultivieren, sondern im Staat selbst Raum und Möglichkeit zur Entfaltung von Geist und Bildung zu schaffen. Im Staat sollten Macht und Geist einander begegnen und durchdringen. Geistige Prinzipien sollten den Staat regenerieren und formen, und der Staat sollte als Hüter dieser Prinzipien Profil gewinnen.

Wir wissen heute um die Problematik einer solchen Metaphysik des Kulturstaates, und auch den Reformern von 1806 blieb es nicht erspart, die Grenzen des von ihnen vertretenen Ideals einer Identität von Bildungsidee und Staatsidee zu erfahren, jener Bildungsidee, die sie für die Staatserneuerung fruchtbar zu machen gedachten. Es ist ungewiß, welche Resonanz diese Konzeption gefunden hätte, wenn an der Spitze des preußischen Staates zu jener Zeit nicht die schwunglose Existenz Friedrich Wilhelms III. gestanden hätte, des wohl einzigen unterdurchschnittlich begabten Trägers der hohenzollernschen Königswürde im 18. und 19. Jahrhundert. Daß dieser phantasielose Pedant nicht völlig hinter die Anforderungen seiner Epoche zurückfiel, verdankte er allein dem Talent seiner familiären und dem Engagement seiner dienstlichen Umgebung, die ihn, teilweise unter erheblichen Mühen, lange Zeit auf reformerischem Kurs zu halten vermochte, bis mit dem Tod des Staatskanzlers Karl August von Hardenberg 1822 der diesbezüglich vorhandene Elan vorläufig erlosch.

Vor allem auf verfassungspolitischem Gebiet wirkte sich das Versanden der Reformen hemmend aus, denn hier gelang es trotz mehrmaliger Anläufe nicht, Preußen, dem Geist der Zeit gemäß, in einen konstitutionell verfaßten Staat zu verwandeln, wie dies den Reformern als Höhepunkt und Abschluß ihres Werkes vorgeschwebt hatte. Preußen blieb, wie übrigens auch Österreich, bis zur Jahrhundertmitte ein auf spätabsolutistischem Niveau regiertes Gemeinwesen.

Auch dies gehört zur Janusköpfigkeit des Hohenzollernstaates, daß er - nach 1815 und vor allem infolge des territorialen Zuwachses im Westen immer stärker von wirtschaftlichem Wandel, technischem Fortschritt und damit verbunden wachsenden sozialen Konflikten betroffen - die Problematik der Moderne zusehends deutlicher empfand, im Innern indes das vormoderne Prinzip monarchischer Selbstregierung konservierte und den Übergang zum konstitutionellen Verfassungsstaat verweigerte.

Dieser Übergang gelang bekanntlich erst im Gefolge der revolutionären Erschütterungen von 1848/49, die den seit 1840 regierenden Friedrich Wilhelm IV. notgedrungen in die Bahnen des Konstitutionalismus einschwenken ließen. Wie kaum ein anderer repräsentierte gerade dieser Monarch das, was man das „geistige Preußen“ nennen könnte. Zweifellos gebührt ihm der Rang des künstlerisch hervorragendsten Repräsentanten der Hohenzollerndynastie. Er trat nicht nur als Förderer der Wissenschaften und Promotor der bildenden Künste im Stile fürstlichen Mäzenatentums hervor, sondern wirkte auch selbst als schöpferisch begabter, keineswegs bloß dilettierender „Baukünstler der Romantik“, wie Ludwig Dehio ihn treffend charakterisiert hat. Viele Orte und Regionen Preußens hat Friedrich Wilhelm IV. dabei in ihrem architektonischen und städtebaulichen Erscheinungsbild mitgeformt - sei es durch ideelle oder finanzielle Unterstützung einzelner Bauvorhaben aus der Ferne, sei es auf dem Weg direkten konkreten Planens, Entwerfens und Gestaltens verschiedenster Projekte und Ensembles. Zahlreiche prominente Repräsentanten des damaligen deutschen Geisteslebens haben die erstaunliche künstlerische Begabung dieses Monarchen bewundert und seine idealistische Gesinnung gerühmt. Die Architekten Schinkel, Persius und Stüler, die Maler Cornelius, Overbeck und Veit, die Grimms und die Humboldts, Ranke und Niebuhr, Schelling und Tieck, Fouqué und Bettina von Arnim - sie alle zeigten sich, wie viele andere, von der Spannweite seines Intellekts und vom Charme seiner Persönlichkeit beeindruckt. Wenn die Bilanz seiner Regentschaft aufs ganze gesehen gleichwohl zwiespältig ausfällt, so hängt dies mit der eigenartigen Unzeitgemäßheit seiner politischen Konzeption und seines monarchistischen Selbstverständnisses zusammen. Denn alle Nähe zu den geistig-künstlerischen Haupströmungen seiner Epoche, alle unzweifelhaften Verdienste um Wissenschaftsförderung und Kulturpolitik, um Denkmalpflege und Städtebau, die Berlin für mehr als zwei Jahrzehnte zum geistigen Mittelpunkt Deutschlands, ja zu einem kulturellen Zentrum Europas werden ließen, konnte nicht verdecken, daß der König mit seiner Politik völlig an den Bedürfnissen seiner Zeit vorbeizielte. Heinrich Heine hatte dies schon 1848 richtig gesehen, wenn er in seinem Gedicht „Die Menge tut es“ ironisch räsonnierte: „Ich habe ein Faible für diesen König; / Ich glaube, wir sind uns ähnlich ein wenig. / Ein vornehmer Geist, hat viel Talent - / Auch ich, ich wäre ein schlechter Regent.“

Friedrich Wilhelms IV. ständisch orientiertes Staatsmodell, das einer hierarchisch gestuften Gliederung der Gesellschaft in Gilden, Innungen und Zünfte das Wort redete, war, recht besehen, schon seit den Reformansätzen Steins und Hardenbergs obsolet geworden. Gleiches galt von des Königs gleichsam vorabsolutistischer Betonung des Gottesgnadentums, das den mit einer Art höheren Erleuchtung begabten Monarchen in mystische Beziehung zu seinem Volk setzen und jede positive Verfassungsgebung schlechthin überflüssig machen sollte. Derartige Überlegungen mögen vielleicht von einem „neuen Mythos“ suchenden postmodernen Standpunkt aus interessant sein; die Zeitgenossen des Monarchen indes konnten mit ihnen in der Regel ebensowenig etwas anfangen wie mit der von ihm zeitlebens pointiert verfochtenen Idee eines „christlichen Staates“, in welchem die Sittengebote und Moralgesetze des Christentums zur bestimmenden Leitnorm des innenpolitischen Lebens werden und im übrigen auch für den internationalen Staatenverkehr die Richtschnur abgeben sollten. Friedrich Wilhelm IV. hätte, bei einem zumindest partiellen Eingehen auf die konstitutionellen Grundforderungen seiner Zeit, die beiden zwischen Machtstaat und Kulturstaat oszillierenden Facetten des preußischen Januskopfes nachhaltig einander anzunähern vermocht. Daß ihm dies in seiner 20jährigen Regierungszeit trotz reicher persönlicher Anlagen niemals auch nur annähernd gelungen ist, bezeichnet die Tragik, das Verhängnis und - wenn man so will - auch die Schuld dieses geistvollen und hochgesinnten Monarchen.

IV. Friedrich Wilhelm IV. ist der letzte preußische Herrscher gewesen, der in einer lebendigen Wechselbeziehung zu den aktuellen geistigen und künstlerischen Strömungen seiner Zeit gestanden hat. Unter seinen drei Nachfolgern wurde das preußische Janusgesicht, das ab 1871 auch ein solches des Deutschen Reiches gewesen ist, erheblich stärker von der machtstaatlich-militärischen Facette dominiert. Dabei kann man nicht sagen, daß die drei letzten Träger der preußischen Königswürde ohne intellektuellen Rang und geistiges Format gewesen seien. Wilhelm I., seit der frühen Charakterisierung durch seine Mutter, die Königin Luise, zumeist für „einfach, bieder und beständig“ gehalten, entpuppt sich bei Lektüre seiner Jugendbriefe als hochsensibler, bildungsbeflissener, emotional wie intellektuell gleichermaßen ansprechbarer Prinz, dem die dienstliche Routine späterer Jahrzehnte eine mit größter Selbstdisziplin getragene Last, keineswegs jedoch ein seiner Wesensverfassung entsprechendes inneres Bedürfnis gewesen ist. Friedrich III., der Herrscher der 99Tage, stand in regem geistigen Austausch mit führenden zeitgenössischen Gelehrten und Schriftstellern, so mit Ernst Curtius und Gustav Freytag. Und auch Wilhelm II. hat beträchtliches Engagement für den Ausbau des preußisch-deutschen Kulturstaates gezeigt. Seine wissenschafts-, bildungs- und hochschulpolitischen Interessen zeichneten sich durch Weite und Vielseitigkeit, wenn auch nicht unbedingt durch Tiefgang aus. Immerhin reichten sie von der Förderung ethnologischer, archäologischer und altorientalistischer Forschung über den Einsatz für die sich neu formierenden Technischen Hochschulen und für den Professorenaustausch mit den USA bis hin zur vielgerühmten Gründung der „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften“. Eine solche Interessenspanne wurde von keinem zeitgenössischen Monarchen gehalten; sie bleibt bemerkenswert, auch wenn man Wilhelms II. totale Verständnislosigkeit für die ja gerade in seiner Regierungszeit zum Durchbruch gelangende literarische und künstlerische Moderne dagegen aufrechnet.

Nein, der massive Gestaltwandel des preußischen Januskopfes in der letzten Phase der Geschichte dieses Staates lag nicht in der unmittelbaren Verantwortung seiner Regenten. Es waren strukturelle Defekte und Deformationen, die den vielbeschriebenen Mentalitätswechsel von altpreußischer Schlichtheit zu neudeutscher Großmannssucht seit 1871 bzw. 1890 forcierten. Die aufdringlichen, teilweise parvenühaft wirkenden Manieren des Menschen der Gründerjahre hoben sich entschieden von der durch Selbstbescheidung ausgezeichneten Haltung des Altpreußentums ab. Das Laute und Auftrumpfende, oftmals Taktlos-Anmaßende und überheblich Wirkende im Auftreten, die nervöse Betriebsamkeit, Hektik und Ungeduld beim Verfolgen auch der kleinsten Ziele, ein demonstrativ zur Schau gestelltes Selbstbewußtsein als Kompensation latenter innerer Unsicherheit, der völlige Mangel an Gelassenheit und an der Fähigkeit, sich selbst im Interesse der Sache zurückzunehmen - all das avancierte nun, verbunden mit einer partiellen Verabsolutierung des Militärischen in Politik und Gesellschaft, zum fatalen Kennzeichen des preußisch-deutschen Stils, am subtilsten decouvriert wohl von Theodor Fontane, dessen Preußenbild die Wendungen des Zeitgeistes beinahe seismographisch spiegelte. Freilich gilt es dabei mit Arthur Moeller van den Bruck ausdrücklich festzuhalten, daß in jenen Jahren nicht etwa Deutschland einem emporkömmlingshaften preußischen Unwesen zum Opfer gefallen ist, sondern umgekehrt, Preußen durch den deutschen Beruf verdorben wurde. Es übernahm die vielfach abstoßenden Züge nationalistischen deutschen Imperialstrebens, um zugleich die positiven Eigenschaften altpreußischer Gesinnung abzulegen. Dabei hätte der preußisch-deutsche Januskopf, folgt man den Erwartungen vieler Zeitgenossen der Reichsgründung von 1871, nach geglückter Etablierung der politischen Einheit der Nation, seine militärischmachtstaatlich bestimmten Komponenten eigentlich zugunsten einer stärkeren Gewichtung der geistig-kulturellen Entwicklungsperspektive zurückstellen sollen. Doch die vollmundige Prognose Heinrich von Treitschkes, daß der nationale Machtstaat gleichsam automatisch auch einen Aufschwung der Nationalkultur mit sich bringen werde, erfüllte sich, zumindest vorerst, nicht. Die Symbiose von Macht und Kultur blieb im spätzeitlichen Preußen der Kaiserzeit problematischer denn je.

Nun wäre es allerdings sehr verfehlt, die Leistungen Preußens, seine Möglichkeiten und seine Grenzen, von dieser für das Gesamtbild keineswegs repräsentativen Spätzeit aus zu beurteilen. Wer nach den Strahlkräften dieses Staates fragt, seinen Wirkungen heute, gerade auch in ihrer Janusgestalt, der muß den Blick auf die konstituierenden Epochenstationen und auf die tragenden Bauprinzipien seiner Geschichte richten. Dies ist im Vorangehenden geschehen. Läßt man das dabei Ermittelte noch einmal kritisch Revue passieren, so ist zunächst festzuhalten, daß diese Bauprinzipien in deutlichem Widerspruch zu jenen Grundlagen stehen, auf denen die moderne Massendemokratie beruht. Die autoritäts-, hierarchie- und elitebezogenen Strukturen preußischer Staatlichkeit dürften sich mit einer dem Gefällig- und Bequemlichkeitsprinzip verpflichteten Konsumdemokratie ebensoschwer vereinbaren lassen wie sich der typisch „preußische“ Denkstil der „Freiheit in der Gebundenheit des Dienstes“ mit dem Gedanken einer nahezu schrankenlosen Selbstverwirklichung des einzelnen in der nivellierten Wohlstandsgesellschaft verträgt. Hier besitzt eine Rückbesinnung auf Preußen eindeutig den Charakter einer Kontrastdiagnose zur Gegenwart.

Hingegen ist vieles von dem, was man als „preußische Tugenden“ zu bezeichnen pflegt, mit der heutigen Lebenswirklichkeit durchaus kommensurabel. Selbstdisziplin und Pflichtbewußtsein, Gewissenhaftigkeit, Verantwortungsgefühl und Einsatzfreude, das Bemühen um Redlichkeit und Anstand, die Bereitschaft zu Dienst und Leistung, zu Opfer und Verzicht - all diese Tugenden Preußens, die lichte Seite seines Janusgesichtes markierend, können grundsätzlich auch einem demokratisch verfaßten Gemeinwesen als grundierende, weil in hohem Maße staatserhaltende Basis zugute kommen. Gleiches gilt für die spezifisch preußischen Traditionen der Toleranz und der Rechtstaatlichkeit, des sozialpolitischen Engagements, der staatlichen Förderung der Künste, Pflege der Wissenschaften und Forcierung der Bildung. An solche Traditionen, die zur spezifischen Räson der Hohenzollernmonarchie zählten, am 300. Jahrestag der preußischen Königserhebung zu erinnern gehört zu jenem Mindestmaß an historischer Gerechtigkeit, das wir diesem versunkenen Staat und seinen Repräsentanten schulden.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
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