Analysen · Berichte · Gespräche · Essays

Henry H. H. Remak

Fontane und der jüdische
Kultureinfluß in Deutschland

Symbiose und Kontrabiose*
Georg Mosse zum Gedenken

Ich sehe meine Aufgabe nicht darin, Fontanes weit verstreute, oft aphoristische Bemerkungen über Juden zusammenzustellen und im einzelnen zu kommentieren. Diese selbstlose Arbeit haben uns Michael Fleischer in seinem Buch „Kommen Sie, Cohn!“ Fontane und die Judenfrage1 und seine von ihm zitierten Vorgänger abgenommen. Ich möchte vielmehr die grundlegenden historischen und psychologischen Ambivalenzen erst des jüdischen, dann des deutschen Selbstverständnisses umreißen, wie sie Fontane vorfand. Dann möchte ich fragen, w e l c h e r Fontane diese Verhältnisse antraf, und schließlich, was die Konsequenzen daraus für Fontanes Einstellungen und Werk gewesen sind.

Ich wurde als jüdischer Deutscher während des Ersten Weltkrieges in Berlin geboren. Außer meiner Liebe zu Fontane seit meiner Berliner Gymnasialzeit und der darauf folgenden lebenslangen Beschäftigung mit ihm beziehe ich meine Berechtigung, vor Ihnen zu sprechen, vor allem aus dem Umstand, daß ich der Welt, der Zeit Fontanes und seiner unmittelbaren Nachwelt näherstehe als die meisten von Ihnen. Ich habe sie innerlich/persönlich, wenn auch indirekt, gekannt und gefühlt: in der Mark und in Berlin. Und zwar durch meinen Vater, der dem alten Herrn öfters im Tiergarten begegnet ist; durch meine Berliner Großeltern (Max Liebermann hat auch meinen Großvater, Wilhelm Remak, porträtiert); durch meines Vaters Begegnung oder Korrespondenz mit Menschen, die Fontane oder seinen Umkreis persönlich oder brieflich gekannt haben: seinen Sohn Friedrich und dessen Ehefrau und damit auch den Mitverleger seines Vaters, Friedrich Theodor Cohn („Kommen Sie, Cohn!“), ferner Clara Viebig, Max Lesser von den „Zwanglosen“, denen auch der Vater meines Onkels, Fritz Schiff, Emil Schiff, Korrespondent der „Wiener Neuen Freien Presse“, angehörte; Fontanes Rechtsanwalt Paul Meyer und dessen Sohn Otto sowie die Friedrich-Stephany- und Hermann-Löwinson-Familien. Ich habe sogar in meiner jugendlichen Begeisterung die Kühnheit besessen, Gerhart Hauptmann, dem ich selbst noch im Tiergarten begegnet bin, brieflich um seine Erinnerungen an Fontane, und selbst Ex-Kaiser Wilhelm II. um seine und seines Hauses Stellung zu Fontane zu bitten. (Schließlich hatte er, als König von Preußen, mich mit einem von ihm gestifteten Sparkonto von 10 Reichsmark in die Welt geschickt!) Und ich habe sogar von beiden Antwort bekommen: interessanterweise eine ausführlichere von Seiner Majestät bzw. von seinem Adjutanten und eine von Hauptmanns Privatsekretär.

Wie mir einer meiner Studenten kürzlich versichert hat, stehe ich „unter historischem Denkmalschutz“. - Ich bin also ein von meinem Thema selbst Betroffener, aber gleichzeitig ein Unbeschwerter, da meine Nuancierungen des heiklen Themas kaum den Verdacht erregen können, daß im tiefsten Winkel meines Herzens Vertuschungsmanöver der Vergangenheit rege sind. Überdies liegt es mir nicht, Geschichte aufgrund von verständlichen Opferressentiments zu schreiben.

In meiner Untersuchung habe ich manches Unerfreuliche gefunden, das einen Schatten auf Fontane wirft. Das ist für uns, die wir Fontane lieben, eine peinliche, aber notwendige Erfahrung. Als Historiker haben wir aber auch die Pflicht, sehr vorsichtig mit Begriffen wie „Antisemit“ umzugehen, wie schwer auch der politische und - schwerwiegender - der moralische Druck ist, in Anbetracht der Judenvernichtung in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts, den Antisemitismus nicht zu relativieren. (Was den Philosemitismus der damaligen Zeit anbetrifft, so ist er, gestehen wir es, selten: Er ist eher Anti-Antisemitismus, Gerechtigkeitssinn.) Wir sollten uns besonders davor hüten, „konservativ“ mit „antisemitisch“ und „fortschrittlich“ oder „sozialistisch“ mit „philosemitisch“ gleichzustellen.

Wilhelm I. und Bismarck waren konservativ, aber im großen und ganzen standen die Juden, trotz gewisser Behinderungen (de facto eher als de jure), unter ihrem Schutz, gerade weil es der Regierung um die Dauerhaftigkeit ihrer Staatsform ging und die Juden erheblich zur wirtschaftlichen Blüte des Reiches beitrugen. Andererseits konnte die sozialistisch-kommunistische Bewegung, obschon überwiegend von religiös-rassischen Vorurteilen frei und mit jüdischen Intellektuellen wie Börne und Marx als Bahnbrecher, nicht umhin, im Kapitalismus, der für viele Juden nicht nur den wirtschaftlichen, sondern den bürgerlichen Aufstieg schlechthin bedeutete, den Feind zu sehen.

Der Antisemitismus hatte - und hat - viele Schattierungen: religiöse, wirtschaftliche, politische, rassische, ästhetische und nicht zuletzt psychologische, allzu menschliche. Eher als „prosemitisch“ angesehene, äußerst ehrenwerte Historiker wie Mommsen und später Meinecke hatten dennoch kritische Bedenken. All dem müssen wir, selbst in diesem konzentrierten Rahmen, versuchen, einigermaßen gerecht zu werden. Und es sind ja gerade die umstrittenen Seiten Fontanes, darunter seine Haltung zum Jüdischen, eigentlich erst seit den letzten zwanzig Jahren unerschrocken belichtet, die ihn in den Vordergrund der wissenschaftlichen, öffentlichen Debatte erhoben haben.

Zum Thema. Was waren die Juden zu Fontanes Zeit?

E i n e  R e l i g i o n? Ja, aber viele Juden, besonders in Westeuropa, waren schon damals religiös locker, betrachteten sich dennoch, in unterschiedlichem Umfang, historisch oder ethisch als Juden und waren es auch für Christen. Und getaufte Juden wurden in Fontanes Deutschland und von ihm selbst noch ein, zwei, drei Generationen n a c h ihrer Bekehrung, was ihr Grund dafür oder wie der Erfolg auch gewesen sein mag, in das „Jüdische“ eingeschlossen.

E i n  V o l k? Das hing von ihrer weltverstreuten, differenzierten Bewußtseinslage und mehr noch von der ihrer nichtjüdischen Mitbürger ab. Ihre persönlichen und gemeinsamen Merkmale zeigten teils Überreste ihrer fernen Herkunft aus dem Nahen Osten und ihrer durch den Ausschluß aus der herrschenden Gesellschaft bedingten intrakonfessionellen Heiraten, teils ethnische Anpassung an das Wirtsvolk. Hinzu kam eine steigende Anzahl von Mischehen zu Fontanes Zeit. Andererseits hatte für viele Deutsche ihr eigener Volksbegriff einen Juden ausschließenden historisch bedingten Gemütsinhalt.

E i n e  N a t i o n? Ihre Diaspora machte das unmöglich, und durch die späte deutsche Nationbildung, etwa gleichlaufend mit der Befreiung der Juden aus dem Getto, schien ihre Mitgliedschaft in der neuen Nation erreichbar.

E i n e  R a s s e? Dieser in der ersten Hälfte des 19. Jh. eher neblig-romantische Begriff entwickelte sich in der zweiten zur Definition einer Erbüberlegenheit oder unkorrigierbaren Erbsünde, beide beeinflußt durch die frühere, allmählich abflauende, aber sich im Volksbewußtsein zäh erhaltende Erbsünde der Juden als Töter von Christus.

Der als Person ausgesprochen nicht-praktizierende Protestant Fontane zeigt deutliche Spuren dieser sekulären Halbverschiebung.

E i n e  T r a d i t i o n s - u n d  S c h i c k s a l s g e m e i n s c h a f t mit einem teils durch Ethos, teils durch Widrigkeiten und Verfolgung gezimmerten Identitätsinhalt? Sicherlich.

E i n e  k u l t u r e l l e  V e r b u n d e n h e i t? Gewiß auch, aber zusehends ergänzt und schließlich mehr oder weniger ersetzt durch ihr neues deutsches Kulturbewußtsein.

Das war (und zum Teil ist sie es heute noch) die jüdische Ambivalenz.

Nun zur deutschen. Die deutsche Vergangenheit zu Fontanes Zeit war einerseits die Geschichte einer auf gemeinsame Landschaft, Schriftsprache, Kultur und Gefühl beruhenden Einheitssehnsucht, besonders mit Blick auf andere Länder Europas mit einem festeren historischen Nationalwerdegang, andererseits die einer tiefverwurzelten Wesenseinheit mit Landschaft, gesprochener Sprache und Kultur ihrer besonderen, eigentlichen Heimat. Deutschland war eine Kontinentalmacht geworden mit einer relativ engen direkten Meeresverbindung mit dem Westen, der Nordseeküste, verglichen mit seiner weiten Ostseeküste, dem Tor nach Norden und Osten. Das steht im Gegensatz zu den weltoffenen Niederlanden, zu Frankreich, Spanien, Portugal und Großbritannien - alte Kolonialmächte, während Deutschlands späte und früh abgeschnittene Kolonialphase nie wirklich ins Zentrum seiner Orientierung vorstieß. Mit einigen Ausnahmen stimmen die politischen Grenzen dieser atlantischen Länder weit mehr mit ihren sprachlich, ethnisch, kulturellen Grenzen überein als die deutschen, deren Inkongruenz augenfällig ist: Nord- und Südschleswig, Eupen und Malmédy, Elsaß, Schweiz, Österreich sowie bedeutende deutschsprachige Enklaven in der früheren Tschechoslowakei, in Polen, im Baltikum, in Ungarn, Jugoslawien, Rumänien und in verschiedenen Regionen Rußlands bzw. der ehemaligen UdSSR.

In fast allen Fällen ist das Problem nicht die Existenz von sprachlichen Minderheiten in Deutschland, sondern die Präsenz deutschsprachiger Gebiete in politischen Fremdstaaten. Das mußte für beide Seiten stetige Unruhe schaffen. Das 19. Jahrhundert ist die Geburtszeit des modernen Nationalismus. Dazu kommt die damalige politisch-kulturelle Unsicherheit innerhalb Deutschlands.

Bis zum deutsch-französischen Krieg 1870/71 befanden sich Deutsche oft auf entgegengesetzten Kriegsseiten und hegten, besonders im Westen und Süden, politische, religiöse, kulturelle und familiäre Sympathien für benachbarte Länder: Elsaß-Lothringen, Rheinland und Baden für Frankreich; Bayern und teilweise Schlesien für Österreich. Der Kulturkampf im Reich verschärfte die inneren religiös-politischen Spaltungen. Dazu kam das Mißtrauen der Mecklenburger, Sachsen, Schwaben, Rheinländer usw. gegenüber der preußischen Machtstellung, von den Bayern gar nicht zu sprechen. Die Geschichte Deutschlands in den letzten 130 Jahren ist die Geschichte eines Landes, das zu unvorbereitet, zu forciert, aufgrund dreier unheimlich schnell und einschüchternd gewonnener preußischer oder von Preußen dominierter Kriege (1864 gegen Dänemark, 1866 gegen Bayern/Österreich, 1870/71 gegen Frankreich - alle von Fontane genauestens dargestellt) die jahrhundertelange Einheitsgeschichte seiner Hauptrivalen Frankreich, Großbritannien, Rußland nachvollziehen mußte und wollte. Eine dritte Komplikation waren die wachsenden Spannungen zwischen dem deutschen Bürgertum, das die Rechnungen zahlte, und drei konservativen Übermächten: dem preußisch-deutschen Adel, dem mit ihm eng verbundenen Militär, das riesige Kosten verursachte, und dem traditionellen politischen und Mentalitätsübergewicht des Landes (historisch mit dem Adel identisch) über die Stadt, die nach der Jahrhundertmitte die Geschäfts- und Industriewirtschaft Deutschlands zunehmend ankurbelte. Heinrich Wilhelm Riehl sieht in seinem jahrzehntelang hochwirksamen Buch Die bürgerliche Gesellschaft (1851) den Bauern als Inbegriff des Deutschen und den Adel als einen höheren Typus des Bauernstandes.

Trotz militärischer Triumphe, wirtschaftlicher Blüte, ausgezeichneter Organisation und Leistungen auf allen Gebieten ist ein solches Land in keiner günstigen Lage, das Selbstvertrauen zu der geduldigen Assimilierung eines jahrhundertelang verpönten, isolierten, in unwürdigen Zuständen gehaltenen, wenn nicht verfolgten Fremdkörpers aufzubringen. Hier sind die Juden, ein ausgesprochen wissensdurstiges, intellektuelles Volk („auserwählt“ weniger im Sinne von „überlegen“ als vielmehr zu „höheren Anforderungen an sich selbst“ als an andere Völker) bestimmt zu einem kompromißlosen Monotheismus, ohne den es sein Schicksal nicht hätte meistern können.

Es ist auch ein ungemein zähes und somit zu schärferem Haß einladendes Volk. Die aufgezwungene Einsperrung im Getto vertieft seine Religiösität, seine hochgezüchtete Bibel- und Talmudkenntnis, sein dialektisches Denken. Mit der Aufklärung kommt endlich, von außen und innen, die Möglichkeit des Ausbruchs aus dem räumlichen und geistigen Getto. Und die deutsche Kultur in ihrer zentralen Vermittlungslage zwischen dem Osten und Südosten Europas, wo die meisten Juden lebten, und dem fortschrittlichen Westen war das gegebene Ziel, d. h. die erstrebte kulturelle, bürgerliche und wirtschaftliche Freiheit. Doch die Juden in Deutschland waren selbst in einer Zwickmühle. Um in der deutschen bürgerlichen Kultur und Nationalität unterzukommen, um nicht Anstoß zu erregen, sollten sie ihr Jahrtausende altes, für ihr Überleben verantwortliches Gemeinschaftsbewußtsein lockern oder ganz aufgeben. Die vom Wirtsvolk als fremd und unangenehm empfundenen Redeweisen und Gesten, ja, ihr ganzes Aussehen sollten sie so schnell wie möglich abstreifen. Das führte auch ihrerseits zu Identitätsproblemen. Denn da es in der eingesessenen Bevölkerung dauernd Widerstände gegen die jüdische Integrierung gab, saßen sie leicht zwischen zwei Stühlen. Wenn sie aber an ihrem Erbteil, gleich welcher Art, festhielten, stießen sie nicht nur auf die Angriffe ihrer Feinde, sondern auch auf Enttäuschung, Unwillen und Meinungsumschlag ihrer ursprünglichen deutschen Freunde. Und zu diesen gehörte auch Theodor Fontane. Umsonst stellte Fontanes Freund, der Völkerpsychologe Moritz Lazarus, die Frage: „Warum müssen alle Deutschen Germanen sein?“

Hinzu kam der bekannte Umstand, daß maßgebende Schichten der Gesellschaft sich selbst als einmalige Persönlichkeiten sehen, aber Minderheiten, Fremdes als ein geschlossenes Profil betrachten. Die vielfältigen Unterschiede innerhalb des „anderen“ werden abgestrichen, weil sie die bequeme Kategorisierung in Frage stellen könnten. Bei Fontane finden wir eine Variante davon: „Meine besten Freunde sind Juden, aber ...“

Für zahlreiche Juden und Jüdinnen entwickelt er eine Skala von quasi uneingeschränktem Beifall bis zu scharfer Kritik, was sein gutes Recht ist, aber besonders in den letzten zwanzig Lebensjahren hält es ihn nicht davon ab, pauschale Urteile und zunehmend Verurteilungen eines schreckgespenstartigen, machtsüchtigen Judentums abzugeben.

Wie kam Fontane zu dieser Einstellung?

Er hat mehrfach versichert, daß er in der ersten Hälfte seines Lebens eher Philosemit war, und wir dürfen ihn beim Wort nehmen. Und er hat immer wieder betont, daß ihm selbst von Juden nur Gutes zugefügt worden ist, was sowohl beruflich wie persönlich sicherlich der Fall war, und das nicht nur zu seiner Lebenszeit. Seine dauerhaften Freundschaften mit Deutschen jüdischer Abstammung, von Wilhelm Wolfsohn und Moritz Lazarus bis zu Georg Friedlaender, den Sternheims und zu seinem Rechtsanwalt Paul Meyer, sind Tatsachen. Das macht seine antisemitische Anfälligkeit um so ernster. Eine konservative Wendung bahnt sich seit seiner Anstellung bei der preußischen Zentralpressestelle in den 1850er und bei der Kreuzzeitung in den 1860er Jahren an. Sein mehrjähriger Aufenthalt in England kam seinem angelsächsischen Kosmopolitismus, aber auch seinem aufgestachelten Heimatpatriotismus zugute. Für ihn war es hohe Zeit, daß Preußen bzw. Deutschland endlich England und Frankreich einholte.

Fontane hatte, wie sein Vater, eine wahre Leidenschaft für das Drama, mitunter für das Theater der Geschichte. Er war ein scharfsinniger und im ganzen unabhängiger Beobachter der preußischen und deutschen Stärken und Schwächen, ein Beobachter des Adels, des Militärs, der Regierung, des Bürgertums, aber zu einer gründlichen kulturhistorischen Verflechtung ist es bei ihm trotz verheißungsvoller Ansätze nach Vor dem Sturm (1878) n i c h t gekommen. Er war Anekdotiker wie sein Vater, nicht Systematiker oder gar Analytiker. Noch weniger finden wir bei ihm eine verständnisvolle Kenntnis der jüdischen Geschichte, die schließlich einen der beiden Hauptschlüssel zur Frage Judentum/Deutschtum liefert. Persönliche, immer wieder wechselnde Eindrücke bestimmen sein Denken. Er war viel zu klug, um absolute Werte zu befördern, aber er konnte, wie sein aphoristischer Vater, dem verlockenden Aplomb geschliffener und notwendigerweise einseitiger Aperçus nicht widerstehen, die uns heute noch entzücken - und manchmal entsetzen.

Dazu kommt ein tieferer Charakterzug. Fontane hatte etwas im Grunde Zurückhaltendes in seiner Persönlichkeit, ein in seiner Intelligenz verankertes Zögern, sich ganz hinzugeben. Das gilt nicht nur für sein Verhalten zu seinen Freunden, z. B. gegenüber Friedrich Eggers, sondern auch zu seiner eigenen Familie, seiner Frau, seinen Kindern, selbst - wenn auch im geringsten - zu Mete. Er war ein hochempfindlicher feinnerviger, aber kein leidenschaftlicher Mensch. Seine balladesken Passionen sind wirkungsvoll, aber sie kommen nicht aus seinem Inneren. Er hielt immer eine Reserve von kritischem Abstand, in die er sich zurückziehen konnte, um dann wieder spontan aus ihr herauszubrechen. Dieses Spiel ist ein echtes Spiel; es entspricht durchaus seinem natürlichen Charakter. Seine Haltung zum deutsch-jüdischen Problemkreis ist im Grunde eine zugespitzte Variante dieses Grundzugs. Ein Beispiel für das Ineinandergreifen dieser Ambivalenzen: Land gegen Stadt.

Fontane lebte seit seinem 15. Lebensjahr hauptsächlich in Berlin, der wohl neuzeitlichsten Großstadt Deutschlands. Von Tradition und Geschichte eher unbeschwert, bis heute entschieden unternehmungslustig und aufgeschlossen und nahe an der östlichen Sprachgrenze Deutschlands gelegen, war diese Stadt das gegebene Ziel für die aus dem räumlichen, aber noch nicht aus dem kulturellen Getto entlassenen Juden. Der jüdische Anteil am wirtschaftlichen und geistigen Berliner Leben war demgemäß unverhältnismäßig groß und in ständigem Anstieg; er war besonders auffallend in der Fontane direkt angehenden Vermittlerschicht seines Berufes: Zeitungs- und Zeitschriftenredakteure, Buchverleger und deren Finanziers, die für einen Vorabdruck bzw. eine Buchveröffentlichung seiner Romane und Erzählungen entscheidend waren. Und außerdem war da noch der überaus hohe jüdische Anteil an seinem Leserkreis, seinen Bewunderern. Er war ihnen dafür dankbar, aber man kann auch verstehen, daß es ein gewisses Abhängigkeitsressentiment, eine schwer zu verhehlende Enttäuschung in ihm hervorrief („An meinem Fünfundsiebzigsten“... ,Kommen Sie, Cohn!‘“). Es ist sehr zu bedauern, daß Fontane seine vielversprechenden Entwürfe, „Adel und Judentum in der Berliner Gesellschaft“ (1878) und „Die Juden in unserer Gesellschaft“ (um 1890) nicht ausgeführt hat. Man möchte hoffen, er hätte sich dort Rechnung darüber abgelegt, daß die Gettoeinsperrung, die auferlegte Begrenzung auf Handel und Geldverleih in der Gesellschaft, die Jahrhunderte von internen, intensiven Auslegungen der Bibel und des Talmuds die endlich befreiten Juden für Stadt, Intellekt und Geschäft ebenso prädestinierte wie für Jura und Medizin.

Die Sichtbarkeit ihrer Erfolge in diesen hauptsächlich städtischen Berufen wurde ihnen letzthin zum Verhängnis, besonders in einem Land, dessen Kultur und Literatur bis tief ins 20. Jh. hinein von einer lutherisch-innerlichen Erdhaftigkeit, von antimaterialistischen Werten durchtränkt waren. In der Abwesenheit eines nicht organisch mit der Zeit gewachsenen und erworbenen, in diesem Sinn „natürlichen“ politischen Nationalbewußtseins lieferte der Kult von „Bauer“, „Boden“, „Land“, „Natur“ sowie zunehmend „Blut“ und endlich „Rasse“ einen schließlich fatalen Ersatz. Von diesem wirklichen oder metaphorischen „Landedelstand“ waren die Juden von vornherein ausgeschlossen.

Wie wirken sich diese kulturgeschichtlichen Zusammenhänge in Fontanes Werk aus?

Aber - was ist sein „Werk“? Besteht es nur aus seinen von ihm veröffentlichten, somit von ihm legitimierten belletristischen und darstellenden Wanderungs- und Reisewerken, historischen und kritischen Schriften? Wie steht es mit seinen im Nachlaß vorgefundenen Arbeiten und Gelegenheitsgedichten? Aus welchen Gründen hat er oder haben seine Nachlaßverwalter diese zurückgestellt? Besteht nicht selbst in unserer eigenen Einschätzung ein Unterschied zwischen seinen von ihm selbst veröffentlichten autobiographischen und seinen schöngeistigen Werken? Und wohin gehören die Briefe und Tagebücher?

Die Verwischung dieser Differenzen in der Forschung ist zu bedauern, und in diesem Rahmen können wir sie auch nicht abklären. Die neugierige Gegenwart macht weit weniger Unterschied zwischen „privat“ und „öffentlich“ als Fontanes Zeit. Gerade für die Bewertung seiner Äußerungen über die Juden ist dieses Problem unübersehbar, weil seine Briefe und Nachlaßverse in dieser Beziehung aggressiver sind als seine Romane, Erzählungen und Dichtungen und deswegen auch öfter zitiert werden. Unser Verfahren für heute besteht deshalb darin, sachbezogene Texte aller Art heranzuziehen, aber ihren unterschiedlichen Ursprung zu berücksichtigen.

Zum Vergleich mit der jüdischen Präsenz in Fontanes Schaffen nehmen wir Gustav Freytags Soll und Haben (1854), Wilhelm Raabes Der Hungerpastor (1864) und Wilhelm von Polenz‘ Der Büttnerbauer (1895), alle drei von nachhaltigster Wirkung auf das deutsche Lesepublikum, alle drei Schriftsteller von Format. Freytag und Raabe waren um so überzeugender, als sie das anfängliche Mitleid des Lesers mit dem fatalen Erbe und der Gedrücktheit der jüdischen Verhältnisse Veitel Itzigs (Freytag) und Moses Freudensteins (Raabe) erwecken. Hirsch Ehrenthal in Soll und Haben, Samuel Harrassowitz und Isidor Schönberger in Der Büttnerbauer treten dagegen schon als Bösewichte auf. Das Resultat in allen drei Romanen ist dasselbe: Lüsterne Machtgier, gerissene Schlauheit und der schnöde Mammon beherrschen die Juden, während die christliche Umwelt sehr unterschiedlich behandelt wird. Den Idealtyp kennzeichnet eine feste, ehrliche, tüchtige, bescheidene, aus dem Innern kommende „deutsche“ Pflichterfüllung - „rauhe Schale, weicher Kern“ (nomen est omen: Freytags Anton Wohlfahrt, Raabes Hans Unwirsch, Polenz' Leberecht und Traugott Büttner, Hauptmann Schroff). Das sind grundsätzlich elementar-christliche, naturhaft-bodenständige, lutherische Werte, vom Lande kommend, aber auch für die Stadt, die sie bedroht, als gültig erklärt.

Es ist mit Recht eingewendet worden, daß den negativ gezeichneten jüdischen Figuren in Romanen dieser Zeit - einschließlich der Werke Fontanes - und antisemitischen Bemerkungen zeitgenössischer Autoren außerhalb ihrer Werke eine beträchtliche Anzahl von ebenso kritischen Urteilen über das Bürgertum, den Adel und die Ausländerei, daneben auch positive Porträts von Juden gegenüberstehen. Und daß die kultiviertesten „Antisemiten“ der Zeit (Freitag, Raabe, Treitschke, Ernst von Wolzogen, Paulsen, Polenz, Fontane selbst) sich vom Vulgärantisemitismus (Stöcker, Ahlwardt) distanzieren. Aber das gerade erhebt ihren „feinen“ Antisemitismus zu breiterer und tieferer Wirkung, zu größerer und gefährlicherer Glaubwürdigkeit, und läßt außer acht, daß der Feldzug gegen das „Fremde“ in der eigenen Gesellschaft - besonders gegen die seit zweitausend Jahren verpönten Juden - auf einen empfänglicheren Boden des Vorurteils stößt als Kritik an den einheimischen Schichten (Bürger, Bauern, Adel), die ihre fest integrierten, einflußreichen Interessenvertreter haben und über ein sicheres Hinterland verfügen.

Wie reagiert Fontane auf diese Grundzüge der zeitgenössischen Literatursituation? Zuerst muß festgestellt werden, daß er seinen Ruf als einer der ersten Großstadterzähler seiner Zeit nur relativ und innerhalb des ländlichen Wertrahmens der deutschen Literatur verdient. Seine Romane und Erzählungen spielen zwar zunehmend in Berlin, aber sie sind weit mehr bezirks- als cityorientiert, ein Kompromiß zwischen Kleinstadt und Großstadt. Das Moderne liegt bei ihm mehr innen als außen.

Nach 1871 verlegte sich die Tätigkeit vieler Juden Berlins rapide auf den materiell-industriellen Kern der City, der in Fontanes Werk keine Rolle spielt. Das ist wohl e i n Grund, warum der Schriftsteller Fontane jüdische Figuren mit geringen Ausnahmen nur am Rande seiner belletristischen Arbeiten auftreten läßt. Aber es gibt zu denken, daß Freytag, Raabe, Dahn, Polenz u. a. der Großstadt mehr polemisch als empathisch gegenüberstanden und trotzdem - oder gerade deshalb - scharf profilierte jüdische Typen oder Stereotypen geschaffen haben. Und daß Fontane sich oft explosiv und beharrlich in seinen Briefen und Altersversen, meistens erst lange nach seinem Tode veröffentlicht, äußert und daß er auf die Ausführung seiner beiden konzipierten Schriften über Juden und Adel in der Berliner Gesellschaft verzichtet hat. Warum diese öffentliche Zurückhaltung über ein Thema, das Fontane besonders im letzten Viertel seines Lebens brennend interessiert hat? Vermutlich hat sein Verantwortungsgefühl für den Kern seiner literarischen Lebensaufgabe eine Rolle gespielt, aber wohl auch die Rücksichtnahme auf Verleger, Redakteure und auf sein unverhältnismäßig zahlreiches jüdisches Lesepublikum. Hinzu kommt, daß er äußere Konflikte zeit seines Lebens zu vermeiden suchte. Damit steht er in deutlichem Gegensatz etwa zu Gustav Freytag, der gerade je älter er wurde, desto mehr gegen den Wagnerschen Rassenantisemitismus Stellung nahm und 1890 dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus beitrat. Fontane provoziert, aber engagiert sich nicht.

Fontanes Romane sind karg an dramatischer Spannung, dafür müssen seine berühmten profilierten Nebenfiguren entschädigen; aparte Silhouetten lagen ihm sowieso: Ausländer, z. B. Polen, zigeunerartiges fahrendes Volk (z. B. Marie in Vor dem Sturm, Grete und Valtin in Grete Minde, Ursel Hradschecks Vorleben in Unterm Birnbaum) und „Hexen“ (Hoppenmarieken in Vor dem Sturm, die alte Jeschke in Unterm Birnbaum, die Buschen in Der Stechlin), die meistens mit offensichtlicher Zuneigung, ja Liebe gezeichnet sind.

So ist es literarisch zu erklären, daß Fontane seinen manchmal lapidaren, aber oft sehr fein schattierten jüdischen Nebenfiguren (Blumenthal, Friedeberg, Baruch und Isidor Hirschfeld, Ilsenthal, Katzenstein, Lissauer, Löwe, Moscheles, Silberstein, Singer) nicht nur jüdische Namen, sondern häufig auch eine Art von Judendeutsch mitgegeben hat. Ideologisch ist es jedoch bedenklich, daß charakterliche und sprachliche Stereotypen gerade in seiner reifsten Schaffensperiode auftauchen - also zu einem Zeitpunkt, als die Assimilierung der jüdischen Deutschen schon weit fortgeschritten war. Diese Beobachtung stimmt auch mit Fontanes persönlicher Entwicklung in der „Judenfrage“ im Spätstadium seines Lebens überein.

Die wichtigsten jüdischen Rollenträger in Fontanes Romanen erscheinen dagegen getarnt. Es sind in L'Adultera (1880-1882) der getaufte, jovial-tolerante, trotz seines Mangels an Takt durchaus sympathische Kommerzienrat Ezekiel van der Straaten, literarisch eine der prallsten Figuren Fontanes, und sein Rivale, Ebenezer Rubehn, Verführer seiner Frau, dessen religiöser Status, ob noch Jude, ob schon Christ, so blaß ist wie seine ganze unverführerisch schemenhafte Gestalt. In Unwiederbringlich (1891) zeichnet Fontane in Ebba von Rosenberg eine emanzipierte, zerebrale, erfrischend direkte, höchst ungretchenhafte Mischung von Adel und Judentum; sie weiß, was sie will, und sagt, was sie denkt, „kühl bis ans Herz hinan“. Ihre intellektuelle Sinnlichkeit, ein für Fontane charakteristisches Merkmal der ihn faszinierenden Jüdinnen, prägt sie zu einer der eigenartigsten und interessantesten, obwohl keineswegs sympathischsten Romanpersönlichkeiten des Dichters.

In Von, vor und nach der Reise (1894) fügt Fontane das semitische Element in der vornehmen, feinen, andeutenden, leicht witzigen Art ein, die wir an ihm lieben, z. B. in: „Wohin?“ oder in „Professor Lezius“.

Es ist sehr zu bedauern, daß er das für seine Zeit so charakteristische Motiv der Schwiegertochter jüdischer Abstammung, deren sanierende Heirat in den Adel lockt (oder droht), nicht ausgeführt hat: Das vorliegende Fragment Storch von Adebar (1881-1882) ist sowohl scharfblickend wie einfühlend.

Bleiben die Altersverse, besonders die erst - wohl aus guten Gründen - nach seinem Tod veröffentlichten. Wenn man sie mit den in den letzten 15 Jahren seines Lebens geschriebenen Briefen vergleicht, d. h. zusammen liest, ist das wachsende und überwiegende Ressentiment gegen die sogenannte Herrschaft des Judentums unübersehbar. Gewiß, er schließt brieflich seine spontanen Beziehungen und die seiner Familie zu Freunden jüdischen Glaubens oder Ursprungs fast durchweg von seinen negativen Verallgemeinerungen aus und erkennt - so hat es den Anschein - in den letzten Jahren seines Lebens beiläufiger seine persönliche Erkenntlichkeit vielen Juden gegenüber an. Er bewundert ihren Spür- und Sprühsinn, ihre Intelligenz und Energie und spart nicht mit Kritik am verstaubten, geistlosen Adel und am bürgerlichen Protzertum, welches die Juden allerdings wieder einschließt. Selbst wenn wir ihm - und uns - Faible für blitzblanke, aphoristische Aperçus zugute halten, streifen seine steigenden Denunziationen einer komplottähnlichen Judenmacht in seinen Briefen an Zwangsvorstellungen, ja mitunter an Gehässigkeit (selbst in manchen Gelegenheitsgedichten) zum mindesten einen ihm sonst wesensfremden „mauvais goût“. Es wird zunehmend zur Judenschnüffelei an allen Ecken und Enden der Gesellschaft, im Charakter und Gebaren gegenüber deutschen Freunden und Bekanntschaften jüdischen Glaubens oder Ursprungs, von Ostjuden, denen er besonders auf böhmischen Kuraufenthalten begegnete, gar nicht zu sprechen.

Die endgültige Verneinung, der Assimilationsfähigkeit seiner jüdischen Mitbürger drei Generationen nach ihrem Eintritt in die deutsche Gesellschaft, seine Befürwortung eines Numerus clausus in ihren Bürgerrechten, die in der Praxis (höhere Beamtenlaufbahn, Militär, Universität) ohnehin schon beschränkt waren, muß mindestens unser Kopfschütteln erregen. Ist d a s der Fontane, der vier Jahrzehnte zuvor (1856) auf Freytags bürgerlichen Antisemitismus in Soll und Haben antwortete: „Wohin soll d a s führen?“

Durch Fontanes ironisch-kunstvolle Gestaltung des berühmten Preußentoasts Güldenklees in der Försterei Uvagla in Effi Briest bestochen, habe ich selbst allzu wohlwollend des alten Junkers Desavouierung der Lessingschen Ringparabel als die Meinung Güldenklees, nicht Fontanes, interpretiert2, aber nun, da wir Fontanes persönliche wiederholte Haltung zu Lessings Toleranzidee kennen: „schön als Ideal, praktisch überlebt“, bin ich dessen weit weniger sicher und frage: „Ist das w i r k l i c h e Problem nicht der Mangel an einem deutschen Lessing l00 Jahre n a c h „Nathan der Weise“? Und: Wo war der deutsche Zola?

Das Bürgertum kommt im allgemeinen nicht sehr gut in Fontanes Romanen weg; es ist, wie die Juden, zu materialistisch und arrogant, zu unästhetisch, aber literarisch produktiv durch seine unfreiwillig anmutende Komik (wie z. B. die Treibels). Objektiv gesehen, denkt Fontane, wird das Bürgertum, wie die Juden, die Rolle des abgewirtschafteten Adels übernehmen. In Fontanes Briefen und Kulturschriften der späteren Zeit erscheint der wirkliche märkische Adel als engstirnig, mittelmäßig, anti-intellektuell und braucht jüdische Aufpulverung, aber belletristisch bleibt er für ihn in allen seinen Erscheinungen wunderbar ergiebig (man denke nur an Prachtexemplare wie Adelheid und Dubslav von Stechlin).

Einhellig positiver sieht Fontane den inneren Adel des einfachen Bürgerstandes: Lene, Gideon, Stine, selbst die prosaische Mittelstandsfigur Mathilde Möhring. Allgemein ist festzustellen, daß Fontane auch in seinem Werk und weit mehr noch in seinen brieflichen Gesprächen die Juden als eine hoch zu schätzende, aber nicht eigentlich sympathische und später in ihrer angeblichen Anmaßung gefährliche, fremdartige Gärung im deutschen Sauerteig sieht.

Zu wenig beachtet in der Fontane-Forschung scheint mir bisher seine äußerst empfindliche Ästhetik. Sein Schönheitsideal war das Nordische. Das rein Südliche lag ihm weniger. Und das in den Norden verlagerte Südöstliche, von fernhin Orientalische mancher in Deutschland ansässigen, aus guten Gründen nicht voll assimilierten Juden verletzte seinen halb instinktiven, halb sozialpolitisch gezüchteten nordländischen Schönheitssinn. Für Jüdinnen und deren „exotische“ Mischung von morgenländischer Sinnlichkeit und klugem Kopf hatte er, wie überhaupt für südlich-abenteuerliche Frauen, ein häufiges belletristisches Faible - besonders wenn sie unter vierzig waren. Es ist vielleicht kein Zufall, daß Emilie etwas „Geheimnisvolles“ in ihrer Herkunft, etwas „Abruzzenhaftes“ in ihrem Aussehen hatte.

Eine abschließende Beobachtung. Es ist für uns erstaunlich, daß wir sehr beißende Beobachtungen über Juden in Fontanes Briefen an jüdische Empfänger finden. Diese schon assimilierten Adressaten oder Gesprächspartner - mit Ausnahmen wie der von ihm bewunderten unerschrockenen, aber auch schönen Frau Marie Sternheim - distanzierten sich selbst von den noch nicht assimilierten oder ihnen sonst peinlichen Abstammungs- oder Glaubensgenossen.

Bei diesem pointierten Überblick eines thematischen Minenfeldes mußte auf vieles verzichtet werden, das den Zeitgeist prägt, in dem Fontane denkt, fühlt und wirkt: Von Marx' Zur Judenfrage (1843) und Wagners Das Judentum in der Musik (1850) über Nietzsches Jenseits von Gut und Böse (1886/87), besonders die Abschnitte 249-251 in Teil 8: „Völker und Vaterländer“, bis zu Jakob Wassermanns Mein Weg als Deutscher und Jude (1921).

In der allen Hauptseiten einigermaßen gerechten Erfassung eines von der allzu nahen Vergangenheit beschwerten Problems ist man immer unsicher, das Thema nicht zu verwischt, aber auch nicht allzu zugespitzt dargestellt zu haben. Das Eigen-, vielleicht Einzigartigste, was Fontane für die deutsche Literatur geleistet hat, sind die Nuancen. Und so ist es nur recht, Fontane am Schluß unserer Überlegungen selbst das Wort zu geben. Einige Zeilen in dem Fragment gebliebenen Entwurf zu dem Essay „Die Juden in unserer Gesellschaft“, atmet - was uns trotz aller Einwände und Besorgnisse, ja aller Empörung unwiderstehlich zu Fontane zieht - seine natürlich-elegante, Vertrauen einflößende, unsystematische, pointierte, intelligente „Ja, aber ...“- und „Nein, aber...“-Aufrichtigkeit:

„Ahlwardt und seine Ungeheuerlichkeiten.

Dies zuerst ausführlich behandeln und als unmöglich hinstellen Menzel.3. Ich bin nicht eigentlich ein Philosemit.

Mir ist das Germanische lieber. Eine hübsche germanische Frauengestalt ist mir lieber als eine jüdische Schönheit; es ist mir angenehmer, Land- als Stadtleben zu sehn, zum Teil weil das Jüdische da fortfällt, ich liebe die Länder (leider nur wenige noch), wo das Volk germanisch ist, namentlich Skandinavien. Dann: ihre (d. h. der Juden) Berühmtheiten überall. Dann (auch wenn wir von allen Berühmtheiten absehen) die Juden als Träger feiner Bildung und Sitte. Natürlich vielfach nicht. Aber vielfach doch.“4

Anmerkungen:
* Geringfügig geänderte Fassung des am 15.9.1998 gehaltenen Vortrags während eines Fontane-Symposions in Potsdam. Erstdruck in Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Bd. 1: Der Preuße - die Juden - das Nationale, Verlag Königshausen & Neumann GmbH, Würzburg 2000
1 Michael Fleischer: „Kommen Sie Cohn.“ Fontane und die Judenfrage. Berlin 1998
2 Politik und Gesellschaft als Kunst: Güldenklees Toast in Effi Briest. In Formen realistischer Erzählkunst. Festschrift für Charlotte Jolles. Nottingham, 1979, S. 550-562
3 Adolf von Menzel liebte es sich auf die Juden als „Perser“ zu beziehen. Siehe Fleischer, Michael, S. 203
4 Nach Fleischer, Michael, S. 205-206, S. 359. Zuerst veröffentlicht von Friedrich Fontane im „Ruppiner Stürmer“, 8. Juli 1933. Später in Jost Schillemeit, Berlin und die Berliner. Neuaufgefundene Fontanemanuskripte In Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, 30. Jahrgang, 1986, S. 38 f. Der Ursprung des Entwurfs wird von Schillemeit auf die frühen 1890er Jahre datiert.

Mein Dank gilt der Bibliothekarin Nancy Boerner und Herrn Brian Pinke von der Indiana University und Herrn Peter Schaefer vom Theodor-Fontane-Archiv in Potsdam für ihre wertvolle Hilfe bei der Fertigstellung dieser Arbeit.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
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