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Helmuth Nürnberger

Theodor Fontane -
ein Dichter in Preußen*

Die „bodenlose Objektivität und Ironie“, die, wie Sebastian Haffner formuliert, Fontanes „Eigentlichstes, Eigenstes und Größtes“ gewesen sei,1 läßt sie es zu, bestimmte Auskunft über ihn zu geben, mit einer knappen, treffsicheren Formel - und er liebte, wenn es galt, doch die Kürze! - zu sagen, wer er war? Den folgenden Ausführungen ging ein Briefwechsel voraus, der auf das Thema und die Auffassung des Referenten ein erstes Licht zu werfen geeignet ist. Die Anfrage, die mich erreichte, sprach von einem Referat, das „Theodor Fontane - ein preußischer Dichter“ betitelt war. Mit meiner Zusage verband ich die Bitte, nach einer Umformulierung: „Theodor Fontane - ein Dichter in Preußen“ hieß mein Gegenvorschlag, und ich habe dafür zu danken, daß diesem Änderungswunsch entsprochen wurde, der sich weniger aus inhaltlichen als aus rezeptionsgeschichtlichen Gründen ergab. Eine in solchem Zusammenhang möglicherweise als problematisch empfundene Akzentsetzung sollte vermieden werden.

Was spricht denn dagegen, ohne Umschweife von einem „preußischen Dichter“ zu sprechen, wenn vom Autor berühmter Reise- und Erzählwerke wie der Wanderungen durch die Mark Brandenburg, der Romane Vor dem Sturm, Schach von Wuthenow, Die Poggenpuhls und Der Stechlin sowie einst populärer wirkungsvoller Balladen und geistreicher Gelegenheitsgedichte („Der alte Zieten“, „Der alte Derffling“, „Seydlitz“, „Die Fahne Schwerins“, „Auf der Treppe von Sanssouci“) die Rede ist? Mühelos ließe sich die Aufzählung der Titel fortsetzen, die so gern auf die Namen von Örtlichkeiten und Personen rekurrieren, in denen preußische Geschichte sich widerspiegelt. Wie eng Personen und Örtlichkeiten miteinander verbunden sind, halten Fontanes Verse nicht ohne Humor fest: „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“ (HF I, 6, 255 = Hanser-Fontane-Ausgabe, Abteilung, Band, Seite)2 . Beginnt das, wie uns versichert wird, mittlerweile bekannteste deutsche Gedicht. Gelegentlich zeichnet sich eine hintergründige Rangordnung ab: „Es ist nicht nötig, daß die Stechline weiterleben, aber es lebe Der Stechlin“ (HF I, 5, 388). Wie vertraut gibt sich der Autor mit diesen Namen, die bevorzugt auf -itz oder -ow enden, deren Träger „an der Schlachten und seiner Begeisterung Spitze“ marschierten, wie es in dem Gedicht auf seinen fünfundsiebzigsten Geburtstag lautet - und „über alle“ hat er geschrieben (HF I, 6, 341).

Fontane war, wie er sich selbst bezeichnet hat, ein in der Wolle gefärbter Preuße, und wenn ein Kritiker ihm gar die Freude machte, ihn einen „Alten Fritz-Grenadier“ zu nennen, blieb ein vergnügter Dankesbrief nicht aus.3 Die überragende Bedeutung von Geschichte, Kultur und Alltagswirklichkeit des Hohenzollernstaates für Fontanes Schaffen und Biographie kann nicht zweifelhaft sein. Nicht minder deutlich ist allerdings die oft berufene Ambivalenz seines Urteils auch und gerade im Hinblick auf diesen Staat und seine führenden gesellschaftlichen Kräfte. Diese Stellungnahme ist beeinflußt durch die persönlichen Erfahrungen eines im hohen Grade verletzlichen Menschen, zuweilen spürt der Leser den Texten die emotionale Beteiligung des Autors an. „Es gibt eine höchste Lebensform, und diese höchste Lebensform heißt ,in Freiheit dienen‘“ (HF I, 1, 296), lautet in dem 1885 erschienenen Roman Graf Petöfy ein auf Preußen gemünzter Gesprächsbeitrag. In den Mund gelegt ist er einem österreichischen Liguorianerpater, der im Wiener Salon der Gräfin Gundolskirchen über Freiheit und ihren rechten Gebrauch konversiert. „Nicht die politische, die nicht viel, auch nicht die soziale, die noch weniger bedeutet, aber die innerliche“ Freiheit erscheint Pater Feßler entscheidend. (HF I, 1, 296)4 Gewissermaßen den Gegenpol dazu bildet das gallige Gedicht „Es soll der Dichter mit dem König gehen“, das in drastischer Schiller-Parodie die Abhängigkeit eines zunächst erfolglosen Stückeschreibers von seinen staatlichen Auftraggebern zeigt. Wie die mittellosen Journalisten ist dieser Dachkammerpoet letztlich eine „catilinarische“ (Existenz), der keine Wohnung „auf der Menschheit Höh'n“ sondern als Abfindung den Kronenorden vierter Klasse erhält.5

Kontroversen der Forschung haben sich nicht zufällig an Fontanes Stellung zu Preußen entzündet.6 Die ungewöhnliche Popularität, die Fontane im Verlauf der um die Mitte der fünfziger Jahre einsetzenden „Fontane-Renaissance“7 beim Lesepublikum gewann, öffnete auch dem Streit um das Fontane-Bild einen Freiraum über den wissenschaftlichen Disput hinaus. Der Dichter selbst, der sich wiederholt heftig ablehnend über die „staatlich abgestempelten Fachsimpler“8 äußerte, hätte an solcher Grenzüberschreitung wohl zu allerletzt Anstoß genommen - eher schon an der Verlagerung der Aufmerksamkeit zu mehr politisch-weltanschaulichen Fragestellungen bei einer im Kern künstlerischen Thematik. Ideologische Konflikte um einen Autor waren ihm aus eigener Lebenserfahrung keineswegs fremd. „In der Tat, es war ein beständiges Hin- und Herzerren mit unserem Tunnel-Dichter; heute hatten ihn die Patrioten, morgen hatten ihn die Fortschrittler“, hat er in dem Erinnerungswerk Von Zwanzig bis Dreißig über den bereits zu Lebzeiten vergessenen „armen Scherenberg“ geschrieben.9

Nun ist kaum zu bestreiten, daß die „Fontane-Renaissance“, soviel sie für die Edition und Erforschung eines wahrhaft epochemachenden Werkes zu leisten vermochte, dem Dichter auch manches schuldig geblieben ist. Dazu zählte zunächst auch die angemessene Würdigung seines Verhältnisses zu Preußen, obwohl eine „Preußen-Renaissance“ annähernd zeitgleich sich abzeichnete und auch eine Wechselwirkung zwischen beiden Phänomenen als sicher angenommen werden kann. Aber gerade der engere Kreis der Fachwissenschaft, die ein vertieftes und aktuelles Fontane-Bild zu entwickeln suchte, tat sich mit einer ausgewogenen Wertung dieser Beziehung schwer, zumal populärwissenschaftliche Arbeiten, die in Stil und Darstellung an überlieferte Muster anknüpften, einem nostalgischen Interesse weit entgegenkamen.10 In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre mehrten sich jedoch, gestützt nicht zuletzt auf die durch gründliche Editionen verbesserte Materiallage, die Anzeichen für eine nachhaltige Korrektur, und zwar, wie die Gerechtigkeit festzustellen gebietet, in beiden deutschen Staaten.11 Sie betraf vor allem die Zeit des sogenannten „mittleren Fontane“, des aus England zurückgekehrten Regierungsjournalisten, der stärker als der junge und der alte Fontane für die Interpretation problematisch gewesen ist.12 Die Arbeiten Hubertus Fischers sind in solchem Zusammenhang hervorzuheben, aber auch die Anstöße, die an der Berliner Humboldt-Universität von Peter Wruck und seinem Schüler Roland Berbig kamen.13 Eine kenntnisreiche und von langer Leseerfahrung gespeiste Darstellung bot auch Gerhard Friedrichs Monographie Fontanes preußische Welt.14 Am Ende unseres Jahrhunderts sollte der Hinweis auf die ausgeprägt konservativen Züge Fontanes endlich keine Befangenheit mehr auslösen.

Letztlich war es die Souveränität des Künstlers, die Abstand schuf und aus dem Sänger Preußens gewissermaßen einen Schriftsteller in Preußen werden ließ, eine Distanz, die auch den Bewunderer Preußens zufriedenzustellen vermag, weil sie schwerer wiegt als die unkritische Lobrede. Von der „verantwortungsvollen Ungebundenheit des Künstlers“ hat Thomas Mann in seinem Essay Der alte Fontane gesprochen: „[...] gewiß ist, das er der Mann war, in dem beide Anschauungen, die konservative und die revolutionäre, nebeneinander bestehen konnten; denn seine politische Psyche war künstlerisch kompliziert, war in einen sublimen Sinn unzuverlässig; und ganz im Grunde hat er sich kaum gewundert, daß an seinem ,Fünfundsiebzigsten‘ nicht die Stechow, Bredow und Rochow, sondern der andere, der seelisch fragwürdige, der ,fast schon prähistorische Adel‘ zu ihm kam.“15

Fügen wir hinzu, daß er sich der Grenzen solcher Ungebundenheit bewußt war und selbstironisch darüber schreiben konnte. Ein besonders geglücktes Beispiel dafür liefert das Kapitel „Vierzig Jahre später. Ein Intermezzo“ des „autobiographischen Romans“ Meine Kinderjahre, in dem Fontane von seinem letzten Besuch bei dem Vater in Schiffmühle bei Freienwalde erzählt. „Ein Glück, das du so gutes Wetter getroffen hast, das reine Hohenzollernwetter“, begrüßt ihn Louis Henri Fontane. „Du schreibst ja auch so viel über die Hohenzollern und nimmst drum vielleicht an ihrem Wetter teil; es lohnt sich alles.“ Dem Ankömmling bleibt die Antwort erspart, denn der Alte mit dem grün-schwarzen Käpsel und dem schönen Bambusrohr samt Elfenbeinknopf, das ihm als Spazierstock dient, redet weiter, geht sogleich auf Napoleon über, den er für „das größere Genie“ hält (HF III, 4, 153), wobei unklar bleibt, mit welchem der Hohenzollern er den Korsen in Gedanken vergleicht.

„Hohenzollernwetter“ als sozusagen dynastische Großwetterlage war in Fontanes Fall allerdings keineswegs einheitlich. Seine Lebenszeit erstreckt sich über die Regierungsjahre von fünf Monarchen, die untereinander denkbar verschieden waren. Sie und die von ihnen bestellten Minister standen nicht nur für eine sehr unterschiedliche Politik, sie trugen auch dazu bei, dem schillernden Begriff von dem, was preußisch sei, einen jeweils anderen Inhalt zu geben. Insgesamt liegt in der langen Zeitspanne, die Fontanes Leben umfaßt, eine Schwierigkeit für die Untersuchung, wie 1937 Charlotte Jolles in der Einleitung zu ihrer Dissertation bemerkt: „[...] es handelt sich nicht um eine in sich geschlossene Zeit, sondern es sind fast drei Welten, die Fontane durchlebt.“16

Das unverändert aktuelle Bestreben, Fontanes komplizierter Entwicklung gerecht zu werden, sie wohl auch zum besseren Verständnis in Perioden zu fassen, lassen es gerechtfertigt erscheinen, auch einer stärker an historische Individuen geknüpfte Betrachtung in die Diskussion einzubeziehen.17 Im Grunde liegt ein solcher Versuch, der sich allerdings in einer Vortragsstunde nicht umfassend darstellen läßt, nahe. Fontane wäre kein Dichter gewesen, wenn er politische Strukturen und Machtverhältnisse nicht stets auch persönlich aufgefaßt hätte. Suchte er sich historische Abläufe zu vergegenwärtigen, so fragte er nach den Menschen, die sie gestalteten oder zumindest repräsentierten. Gelegentlich erhielten diese eine Eigenbedeutung, wenn nämlich Fontanes Urteil über sie seinem Urteil über die Epoche insgesamt nicht entsprach, wie dies etwa für die Zeit Friedrich Wilhelms III. der Fall ist. Natürlich ist man stets davon ausgegangen, daß Veränderungen im Leben des Staates auf seine Biographie sowie auf Formen und Inhalte seines Schaffens zurückgewirkt haben, gleichwohl spricht noch Rieck nicht zu Unrecht von einem Desiderat.18 Erst der alte Fontane konnte sich von Rücksichten auf das politische Tagesgeschehen und gesellschaftliche Konventionen im wachsenden Maße befreien. An spontanen Reaktionen fehlte es gleichwohl auch weiterhin nicht, ebenso flossen seine einstigen Erfahrungen weiterhin in das ein, was er schrieb. Die Aufmerksamkeit, die das offizielle Preußen ihm zollte, hielt sich allerdings auch weiterhin in eher bescheidenen Grenzen.19

Was ein Thronwechsel bedeuten mochte, lernte Fontane zum ersten Mal 1840 kennen. In Von Zwanzig bis Dreißig hat er beschrieben, wie sehr die mit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. verbundenen Hoffnungen den unerfahrenen jungen Menschen in ihren Bann gezogen haben. In seinen damals entstandenen Gedichten und in Korrespondenzen für eine Zeitung im von der Zensur weniger betroffenen Sachsen - „Die Eisenbahn“ gab sich bereits durch ihren Titel als ein Blatt des demokratischen Fortschritts zu erkennen -, die inzwischen wieder ans Tageslicht gekommen sind, hat das naturgemäß noch viel stärker seinen Niederschlag gefunden. 1840 beginnt die Zeit des jungen Fontane, dieses Jahr bildet eine erste, entscheidende Zäsur. Ob und inwiefern die vormärzlichen Anfänge weiterwirkten, wie sich in seiner Biographie „die diskontinuierlichen Züge mit den kontinuierlichen verschränkten“20, bildet im einzelnen ein Problem der Interpretation, doch ist die Beziehung zwischen dem revolutionär gestimmten Vormärzlyriker und dem gewissen Altersradikalismus des letzten Fontane wiederholt hervorgehoben worden.

Schon bald finden wir den jungen Dichter - auch dies in Übereinstimmung mit der Mehrzahl seiner bürgerlichen Zeitgenossen in Preußen - von Friedrich Wilhelm IV. bitter enttäuscht. Eine innere Beziehung hat er zu diesem künstlerisch hochbegabten, zugleich unkriegerischsten der Hohenzollernkönige wohl nie gewonnen. Die Jugendbriefe an Lepel verurteilen den König mit äußerster Schärfe, und das 1848 begonnene Drama „Karl Stuart“ lebt von dem Versuch - oder vielmehr erschöpft sich in ihm -, die Parallelen zwischen dem schuldhaften Versagen Karls I. von England und Friedrich Wilhelms IV. aufzuzeigen, wie sie dem Autor sich darstellten. Fontane verglich bei seiner Beschäftigung mit englischer Geschichte nicht nur die beiden Monarchen, sondern auch die Dynastien. „Schon unter den Tudors [...] begann die Krone in ähnlicher Weise zu operieren wie die Hohenzollern z. B. in der Person des großen Kurfürsten. Die Praerogative sollten auf Kosten der Volksfreiheit wachsen.“ (17.11.1848 an Bernhard von Lepel; HF IV, 1, 52 f.) Diesem Vorwurf werden wir fast 50 Jahre später erneut begegnen.21 Übrigens fällt auf, daß die Tendenz zu mildernder, gelegentlich auch ausweichender Behandlung problematischer politischer Entwicklungen der Vergangenheit und der mit ihr verbundenen Persönlichkeiten, die sich in Fontanes letzten Büchern beobachten läßt, in Bezug auf Friedrich Wilhelm IV. schwächer ausgeprägt ist. Der König wird nicht direkt getadelt, aber das Unbefriedigende seines Verhaltens wird fühlbar gemacht, etwa in der Schilderung des in versöhnender Absicht unternommenen Umritts in Berlin am 21. März 1848. Das dem Vater in den Mund gelegte: „Es hat doch ein bißchen was Sonderbares, ... so rumreiten ... Ich weiß nicht ...“ (HF III, 4, 510), spricht Bände. Auch Fontane hat offenbar, darin macht er unter der Mehrzahl seiner Zeitgenossen keine Ausnahme, den „Romantiker auf dem Thron“ als eine eher unpreußische Erscheinung empfunden. Sein Vorgänger, Friedrich Wilhelm III., stand - bei aller Wahrnehmung seiner Schwächen - mit Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. in einer Traditionslinie, die als preußisch begriffen wurde. Für Friedrich Wilhelm IV. ebenso wie vorher für Friedrich Wilhelm II. und Friedrich I. galt dies nicht; ihnen wurde erst später vermehrt Gerechtigkeit zuteil.

Bereits 1846 hatte Fontane im Literarischen Sonntagsverein „Der Tunnel über der Spree“ die Reihe seiner Balladen auf friderizianische Feldherrn begonnen. Lafontaine - so der Tunnelname des jungen Apothekers - setzte sich mit ihnen in der überwiegend aus jüngeren Beamten und Offizieren zusammengesetzten Vereinigung als überragendes poetisches Talent endgültig durch. Die Bedeutung des „Tunnels“ für Fontanes fernere Entwicklung kann kaum überschätzt werden. Ausgehend von den Beziehungen im „Tunnel“, gewann Fontane nach 1850 zunehmend eine persönliche Kenntnis der Schichten, die den preußischen Staat trugen und in der Vergangenheit getragen hatten. Er begegnete Charakteren, die ihn durch Vornehmheit und Selbstlosigkeit, Patriotismus und persönliche Liberalität überzeugten; einige gewann er zu Freunden. Als ihn 1848 die Revolution auf ihrer Seite sah, riß die Verbindung zum konservativen und royalistischen Preußen doch nie ganz ab. Paradox mutet es gleichwohl an, daß zur selben Zeit, in der er mit revolutionär gestimmten Artikeln in der „Berliner Zeitungs-Halle“ und der radikaldemokratischen „Dresdner Zeitung“ in Erscheinung trat („Preußen war eine Lüge“22), mit seinen unter dem Titel Männer und Helden gesammelten Feldherrnliedern im Lager der Gegenrevolution reüssierte. Bei Licht besehen eignete allerdings auch diesen sprachlich recht einfachen, formal einander recht ähnlichen, veredelten patriotischen Gassenhauern ein demokratisches Element, wie besonders deutlich „Der alte Derffling“ zeigt:

    „Es haben alle Stände
    So ihren Degenwert,
    Und selbst in Schneiderhände
    Kam einst das Heldenschwert;

    Drum jeder, der da zünftig
    Mit Nadel und mit Scher',
    Der mache jetzt und künftig
    Vor Derffling sein Honneur [...]“ (HF I, 6, 205)

Der „Dresdner Zeitung“ kündigte Fontane die Mitarbeit auf, als sie den von altpreußischen Sympathien getragenen Artikel „Preußen - ein Militär oder Polizeistaat“ in höflicher Weise ablehnte. Der - zunächst von den materiellen Verhältnissen erzwungene - politische Frontwechsel Fontanes kündigte sich an, der ihn zunächst für ein Jahrzehnt in das Lager der Regierungspresse, später zur „Neuen Preußischen (Kreuz-) Zeitung“ führte.

Unvollendet geblieben ist die Novelle „Storch von Adebar“, die Fontane um 1870 konzipierte: „[...] die Tendenz geht dahin, den pietistischen Conservatismus, den Fr. W. IV. aufbrachte und der sich bis 1866 hielt, in Einzel-Exemplaren (Potsdam) auch noch vorhanden ist, in seiner Unächtheit, Unbrauchbarkeit und Schädlichkeit zu zeichnen“, erläuterte er sein Vorhaben (24.6.1881 an Gustav Karpeles; HF IV, 3, 146 f.). Den Redakteuren waren derartige politisch-satirische Stoffe öfters ein zu heißes Eisen, anders ausgedrückt, sie dachten an ihr Publikum und bevorzugten Erzählungen mit herkömmlichen erotischen Konflikten in der Welt des Adels und der Bourgeoisie.

Später hat Fontane den Roman Unwiederbringlich größtenteils in das kritische Jahr 1859, also in die Zeit der Regentschaft des Prinzen Wilhelm und des österreichisch-sardinisch-französischen Krieges um Oberitalien verlegt, an dem Preußen sich nicht beteiligte. Von der Erkrankung des Königs und der künftigen Rolle der zweiten deutschen Großmacht ist bereits in den ersten Kapiteln die Rede. Natürlich handelt es sich gewissermaßen um rückwärts gewandte Prophetie. Die Leser von 1891, dem Erscheinungsjahr des Romans, wußten, wie die Dinge sich entwickelt hatten, von denen die Romanfiguren 1859 sprachen. Die Pikanterie liegt vielmehr darin, daß der Autor die widerstreitenden Auffassungen als eine Art Spielmaterial benutzt, das ihm zur Charakterisierung seiner Figuren dient. So werden etwa vom Grafen Holk Meinungen über Preußen geäußert, die mit denen Bülows in der 1882 erschienenen „Erzählung aus der Zeit des Regiments Gensdarmes“ Schach von Wuthenow beträchtliche Ähnlichkeit haben. Der Leser der historischen Erzählung sieht sich zu der Annahme gedrängt, daß Bülow mit seiner Beurteilung der Lage recht hat (denn was auf die Gespräche im Salon der Frau von Carayon folgt, ist die Katastrophe von Jena), Holk aber unrecht (nicht nur die Siege von 1864, sondern auch die von 1866 und 1870/71 stehen bevor). Ein unmittelbarer Rückschluß auf das Geschichtsbild und die Ansicht des Autors, die sich hinter einer solchen Figurenrede verbergen mögen, ist nicht statthaft. Seine Meinung erweist sich als noch schwerer zu fassen, wenn man die widersprüchlichen Selbstzeugnisse und gelegentliche Kommentare in historischen und literaturhistorischen Aufsätzen heranzieht.

Ungleich größere Bedeutung als Friedrich Wilhelm IV. hat Wilhelm I. für Fontane gewonnen. Das erklärt sich nicht nur mit Dauer und Ereignisfülle seiner Regierungszeit, sondern auch mit der veränderten Richtung in Fontanes Schaffen nach der Rückkehr aus England und mit der besonderen Achtung, die er dem König entgegenbrachte. Für den Prinzen Wilhelm trifft diese Einschätzung allerdings noch keineswegs zu. Ein im Nachlaß von Bernhard von Lepel unter dem Titel „Tut Buße! Kreuzrittergesang nach der bek. Melodie der Neupreußischen“ [d. i. der „Neuen Preußischen (Kreuz-)Zeitung“, H. N.] überliefertes Gedicht wendet sich gegen einen nicht namentlich genannten Fürsten mit bitterem Sarkasmus.

    „Du schrittst nur zögernd zu Schrapnells
    Und zu Kartätschengruße;
    Du warst kein Petrus, warst kein Fels, -
    Tu Buße, Fürst, tu Buße.“ (HF I, 6, 676)

Adressat ist offenbar der in seiner politischen Haltung schwankende König, angespielt aber wird zugleich auf seinen Bruder, der wegen seiner militanten Haltung in der Revolutionszeit als „Kartätschenprinz“ verrufen war. (Vgl. meine Interpretation dieses Gedichts in dem soeben erschienenen Band Interpretationen. Gedichte von Theodor Fontane. Hrsg. von Helmut Scheuer. Stuttgart 2001, S. 35-48.)

Wie unterschiedlich und angesichts ihrer Lebensumstände auch unvergleichbar die Entwicklung der politischen Auffassungen Wilhelms I. und Fontanes verlaufen sein mochte, der erste Band der Wanderungen durch die Mark Brandenburg erschien (vorausdatiert auf 1862) im Jahr der Krönung in Königsberg, der zweiten und letzten in der Geschichte der Dynastie. Ob Fontanes Werk derselbe Erfolg beschieden gewesen wäre, wenn Friedrich Wilhelm IV. noch länger gelebt hätte, läßt sich nicht entscheiden, aber es ist sicher, daß der konservativ-soldatische Geist der Regierung Wilhelms I. besser als der Stil seines Vorgängers zu den „Wanderungen“ paßte, die mit dem Gewicht, das sie auf die Darstellung märkischer Adelsfamilien legten, zugleich die militärischen Ruhmestaten Brandenburg-Preußens thematisierten. Und es blieb nicht bei dem märkischen Reisewerk. Als ein zweites populärhistorisches Vorhaben aus patriotischem Geist entstehen ab 1864 die Kriegsbücher. Im zweiten und dritten dieser umfänglichen Werke wird Wilhelm I. einen ehrfurchtsvoll gewürdigten Platz einnehmen. Der König folgt seinen Soldaten ins Feld, nominell führt er sogar den Oberbefehl, und Fontane zögert nicht, diese gewissermaßen traditionelle Rolle des Monarchen - der sich immer als Soldat gefühlt hatte - gebührend hervorzuheben. Nach Überreichung des „Deutschen Kriegs von 1866“ erhält der Autor aus der königlichen Schatulle ein bedeutendes Geschenk. Dergestalt ermutigt, bittet er das dritte Kriegsbuch dem König widmen zu dürfen, und dieser nimmt an. „Die Gnade unseres herrlichen alten Wilhelm trifft natürlich Sie und nicht mich“, schreibt Fontane an seinen Verleger, „ich sonne mich aber gern in diesem Strahle mit und setze mich zu diesem Behuf an den äußersten Rand meiner Diogenestonne.“ (10.4.1873 an Rudolf von Decker; HF IV, 2, 429) Von dort aus hatte er bereits zwei Jahre früher versucht, den aus Frankreich heimgekehrten nunmehrigen deutschen Kaiser als neuen Barbarossa zu stilisieren:

    „Vor seinem Heergefolge ritt,
    Von seinem Volk umschart,
    Inmitten von Helden und Prinzen,
    An der Spitze seiner Provinzen,
    Der Kaiser Blanchebart.“ (HF I, 6, 243)

Das ging so über sieben Strophen, eine poetische Glorifizierung, die damals auch von anderen Autoren unternommen wurde, sich aber nicht durchsetzte.

Ich glaube nicht zu weit zu gehen, wenn ich sage, daß Fontanes Werbung um die Gunst dieses Königs zeitweise einen persönlichen Charakter trug. Er schreibt privat fast liebevoll-vertraulich über den „königlichsten und liebenswürdigsten der Hohenzollern“ und dessen letzten Lebensabschnitt, der sein bester sei. „In seiner Jugend stieß er sich immer den Kopf, das Alter drückte ihm Kränze auf die wehen Stellen. Also: je später der Abend, je schöner die Leute.“24 (27.5.1873 an Lepel). Fontane bemühte sich geschmeidig um Förderung seines Schaffens auch auf amtlichen Wegen, aber eigentlich wünschte er sich keine bürokratische Instanz, sondern einen Monarchen als Mäzen. Wer sein Verhalten im Dienst der Regierung Manteuffel, gegenüber den Männern der neuen Ära oder gegenüber seinen Vorgesetzten in der Akademiezeit ins Auge faßt, wird immer wieder wahrnehmen, wie wichtig das subjektive Moment für ihn ist. Beispielsweise schreibt er an den zeitweiligen Leiter der „Centralpreßstelle“ Ludwig Metzel aus London erstaunlich persönliche Briefe. Die Fähigkeit seiner Vorgesetzten, auf solche Äußerungen einzugehen, entscheidet mehr oder weniger über Fontanes Motivation und Arbeitsleistung. Es ist das Verhalten eines Künstlers, der Bezugspersonen braucht, die für ihn gewissermaßen eine Brücke zur Welt bedeuten. Für die Kriegsbücher gilt dies sogar im besonderen Maße, denn für sie konnte die Anerkennung, auf die Fontane hoffte, eigentlich nur von „oben“, der monarchischen Spitze kommen. Von den Fachleuten im engeren Sinne, also den Militärs, hatte der „Pequin“ nichts zu erwarten.

Eine ähnliche Konstellation war in der Krise von 1876, also während seiner Ernennung zum Sekretär der Akademie der Künste und seiner Kündigung dieser Stelle gegeben.

Über die Umstände, die Fontanes „Bestallung“ - der behördliche Ausdruck bezeichnet den Sachverhalt recht genau - begleiteten, sind wir durch eine kürzlich erfolgte Veröffentlichung noch weiter informiert worden.25 Es waren Freunde und Bekannte Fontanes, die für seine Bewerbung die Weichen stellten, um dem „freien Schriftsteller“ nach Jahrzehnten eines oft schwierigen Unterhaltskampfes die gesicherte Existenz in einer angesehenen Beamtenstellung zu ermöglichen. Was die Öffentlichkeit - und der Kaiser - offenbar nicht nachzuvollziehen vermochten, war die Reaktion des Künstlers, der sehr schnell auf das für ihn Problematische dieser Stellung ablehnend reagierte. Mit gewöhnlichen Maßstäben gemessen, war das, was man von ihm verlangte, keineswegs unzumutbar. Der Fehler war, daß man den alltäglichen Maßstab an den zu Ungewöhnlichem Bestimmten anlegte.

Fontane verweigerte sich - und hoffte möglicherweise immer noch auf die Unterstützung des Monarchen. Konnte die Überreichung des letzten Teilbands seiner Darstellung des Krieges gegen Frankreich den Kaiser unberührt lassen? Er hatte Jahre seines Lebens an die drei Kriegsbücher, besonders dieses letzte, gesetzt.

Nun erlebte er das Scheitern einer großen Bemühung, und das ist weder auf sein Verhältnis zu Wilhelm I. noch auf das zu Preußen ohne Rückwirkung geblieben. Für den A u t o r Fontane erwies sich die Krise von 1876 allerdings als entscheidender Gewinn. Damals trat, wie Wruck formuliert, der „vaterländische Schriftsteller“ aus seiner „Rolle“ heraus.26 Anders ausgedrückt, nun wurde er ein Schriftsteller ohne Attribute, wenngleich im fortdauernden Gespräch und in Auseinandersetzung mit seinem „Vaterland“.

Als Nobiling zwei Jahre später sein Attentat auf den alten Monarchen unternimmt, bleibt Fontane bemerkenswert kühl. Nachdem er den Ort des Attentats besichtigt hat, bemerkt er: „Es müssen 2 furchtbare Schüsse gewesen sein u. N. ein brillanter Schütze.“ (4.6.1878 an Emilie; HF IV, 2, 577). Er schrieb das zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht gebliebene Gedicht „Kaiser Wilhelms Helm“:

    Das war nicht nobel, Nobiling!
    Du nahmst die Sache zu gering,
    Man schießt mit dreißig Körner Schrot
    nicht einen deutschen Kaiser tot [...]. (HF I, 6, 571 f.)

Nicht nur wegen des Wortspiels mit dem Namen, durch den es inspiriert scheint, erinnert das Gedicht an das sogenannte Tschech-Lied.27 Wie selbstverständlich nahm Fontane damals den Ton der vormärzlichen Poesien wieder auf, zu dem er selbst so manche Probe beigesteuert hatte. Auch der Romanentwurf Die Bekehrten scheint - zur Gänze oder doch zum größeren Teil - 1878 entstanden zu sein. Ein philologisch gebildeter Professor, „Idealist, Theoretiker, feiner Doktrinär, der alles im Leben im Einklang mit Freiheits- und Fortschrittsprinzipien gestalten will“, findet sich darin seinem Bruder, „echt-uckermärkischer Praktiker [...] ganz aus der alten Schule“, gegenübergestellt.28 Dieser, eine „Art Marwitz, aber ohne jede Ideen und Prinzipien, die diesen auszeichneten“, wird durch die „Attentate“ [auf Wilhelm I., H. N.], der andere durch die „Maigesetze und das Sozialistengesetz bekehrt“. Am Schluß treffen sich beide Reichstagsabgeordnete in einem „Mittelkurs“, in dem der Autor, wie er notiert, wohl „ein Mißliches“ erblickt, ohne sich jedoch der Folgerung entziehen zu können: „Es gibt eine goldne Mitte. Und nur allein bei ihr ist Leben, Gedeihen und Wahrheit.“ (HF I, 7, 314.)

Das weitaus wichtigste Zeugnis aus dieser Übergangszeit vom „mittleren“ zum „alten“ Fontane ist der große Geschichtsroman Vor dem Sturm, der nach mannigfachen Entwürfen und immer wieder unterbrochenen Ansätzen nach 1876 zügig zu Ende geführt wurde und 1878 endlich erschien - „Arbeit und Inhalt meines Lebens“, wie der Autor an den Herausgeber von „Nord und Süd“ werbend schrieb (23.10.1878 an Paul Lindau; HF IV, 2, 626).

Fontane stand damals erst am Beginn seines phänomenalen Alterswerks. Vom „Stechlin“ her betrachtet, der in gewisser Weise eine Wiederaufnahme des ersten märkischen Romans darstellt,29 behält seine Selbsteinschätzung jedoch auch weiterhin Bedeutung. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, das geistig und formal den „Wanderungen“ eng verbundene, auf Grund seiner langen Entstehungszeit sehr vielschichtige , daher auch unterschiedlich interpretierte Werk angemessen zu würdigen.30 Der „Roman aus dem Winter 1812 auf 13“ - wie der Untertitel lautet - „tritt ein für Religion, Sitte, Vaterland, aber er ist voll Haß gegen die ,blaue Kornblume‘ und gegen ,Mit Gott für König und Vaterland‘, will sagen gegen die Phrasenhaftigkeit und die Carikatur jener Dreiheit“ (24.11.1878 an Wilhelm Hertz; HF IV, 2, 637). Das von Fontane beschriebene „Eintreten einer großen Idee, eines großen Moments in an und für sich sehr einfache Lebenskreise“ (17.6.1866 an Wilhelm Hertz; HF IV, 2, 163) zeigt die von Fontane wiederholt beschworene und gegenüber einer fragwürdig gewordenen späteren Zeit verklärend abgehobene altpreußische Gesinnung in hellem Licht.

Die wenige Jahre nach Vor dem Sturm abgeschlossene Erzählung Schach von Wuthenow, deren Wendepunkt die nächtliche Parodie von Zacharias Werners Luther-Drama durch die Gensdarmes-Offiziere bildet, läßt sich - in das Jahr der ersten Buchausgabe fiel der 400. Geburtstag des Reformators - auch als nachdenklich stimmender Kommentar zur Gegenwart verstehen. Sowohl das Preußen der nachfriderizianischen Epoche als auch das junge Hohenzollernreich zehrten von der Erinnerung an militärische Großtaten. Es war die Armee, mit der Friedrich II. seinen Staat einen Platz unter den europäischen Mächten erkämpft hatte, so wie die Gründung von Versailles ein Ergebnis der drei Bismarckschen Einigungskriege gewesen war. Die negative Seite dieser Erfolge war in beiden Fällen ein Überlegenheitsgefühl, das an Hybris grenzte. Im Reich nach 1870 wuchs der Militarismus, weil nunmehr das Bürgertum sich nur allzu willig zeigte, dem Machtanspruch des Militärs zu gehorchen. Die protestantische Kirche fühlte sich durch die errungenen Erfolge ebenfalls bestätigt und war sehr bereit, am alten Bündnis von „Thron und Altar“ festzuhalten. Hatte Werner die nationale mit der religiösen Bedeutung seines Luther-Schauspiels verbunden gesehen, so ergibt sich bei Fontane die Einsicht in die Dekadenz von Luthertum und Preußentum. Zwar ist das entsprechende Aperçu dem „Causeur“ Bülow in den Mund gelegt, aber eben das Maskenspektakel der Offiziere bestätigt die zumindest partielle Berechtigung der Voraussage.

Als Wilhelm 1888 stirbt, ist es vor allem die Unechtheit der Publikumstrauer, die der Spaziergänger Unter den Linden nicht anders als der Zeitungsleser zu beobachten meint und in bitteren Briefen rügt: Für den Ausdruck der eigenen Emotion bleibt kein Raum. In der Sammeleintragung für das Tagebuch von März bis Juli 1888 finden sich nur die lapidaren Sätze: „Am 9. März stirbt Kaiser Wilhelm. Merkwürdige Mischung von Landestrauer und Berliner Radau.“ (HF III, 3/II, 1194). Allerdings hatte Fontane, der 1884 zum 25jährigen Bestehen der Schillerstiftung den Kaisertoast ausgebracht hatte,31 schon bald wieder einen Prolog zu verfassen, der im sogenannten Dreikaiserjahr „mit Hülfe etlicher Ottaverime [...] eine große Arbeit [...] 8 Tage“ (5.10.1888 an Friedlaender; HF IV, 3, 645) das Gedenken an z w e i Monarchen festschrieb: Zur Erinnerung an Kaiser Wilhelm I. und Kaiser Friedrich III. Als „Vorbild in Arbeit, Treue, wahr und schlicht, / In Demut, die der Größe sich verbündet“, wird der alte Kaiser ein weiteres Mal gerühmt, während dem Sohn, „hell und sonnenlicht“, bestätigt wird, ein „ewig Erbe“ hinterlassen, „Kommendes verkündet“ zu haben. (HF I, 6, 577 f.)

Das Schicksal des unglücklichen Friedrich III. hat Fontane menschlich bewegt - politisch blieb er auf Distanz. Verse zeigen seine Anteilnahme am Leiden des Todkranken, so das Gedicht „Letzte Begegnung“, das den Besuch König Oskars von Schweden bei dem Sterbenden zum Inhalt hat. Fontanes Tagebücher und Briefe lassen jedoch die fortdauernde kritische Grundeinstellung deutlich erkennen, der er später auch im „Stechlin“ Ausdruck verlieh.32 Zunächst allerdings war Friedrich III. - ein „schlechter Praktikus [...], doch immerhin eine ideale Gestalt, der man ein Stück Respekt nicht versagen darf“ (5.10.1888 an Friedlaender; IV, 3, 646) - durch sein Geschick dem offenen Tadel entrückt; um so heftiger wandte sich Fontane gegen die Kaiserin Viktoria. Ihre fortdauernde Anhänglichkeit und die sich daraus ergebenden engen Beziehungen zu ihrer englischen Heimat ließen in ihm sogar den Verdacht aufkommen, daß sie Deutschland gegenüber Hochverrat treibe. In Fontanes Äußerungen über Friedrich III. und dessen Frau wirkt das zeitgenössische Meinungsklischee erkennbar nach, wie denn auch bei anderen Gelegenheiten bemerkbar ist, daß seine oftmals vehementen Urteile von der Zeitstimmung keineswegs unabhängig sind. Das gilt leider auch für den gegen Ende des Jahrhunderts anschwellenden Antisemitismus.

Die historische Zäsur verläuft zwischen Wilhelm I. und Wilhelm II., fast unmittelbar folgte ein noch nicht Dreißigjähriger einem 91jährigen auf den Thron. Von den dreißig Regierungsjahren des letzten Hohenzollernkaisers hat Fontane ein Drittel miterlebt. Zunächst folgte er dem neuen Regiment mit ungeteilter Zustimmung. Der „unsichere Kantonist“, der als Vertreter einer bestimmten Meinung so wenig verläßlich war, setzte andererseits doch auf klare Verhältnisse - „festes Gesetz und fester Befehl“ (HF I, 6, 323), wie es im Gedicht lautet, und die schienen nun gegeben. Für ihn fielen die ersten Regierungsjahre Wilhelms II. zusammen mit literarischen Erfolgen (von Unwiederbringlich bis Effi Briest) und vermehrter persönlicher Anerkennung: Die große Feier zu seinem 70. Geburtstag, der Schillerpreis, die Verleihung des Ritterkreuzes des Hohenzollernschen Hausordens, die Ehrendoktorwürde der Berliner Universität und die Zuerkennung einer Ehrenpension, die ihn finanziell endgültig sicherstellte. Die wirtschaftliche Flaute im deutschen Reich wich einer Konjunktur, die bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs anhielt, ein Zug der Modernisierung drückte sich auch in den Künsten aus.

Der anfänglichen Zustimmung zu Wilhelm II. folgt die Kritik, die sich schon vor 1895 zeigt, danach ständig zunimmt und weit über die Person des Kaisers hinausreicht. Ein Vorreiter solcher Kritik ist Fontane, wie Brude-Firnau zeigt, in solchem Zusammenhang allerdings nicht gewesen. Es ist „nicht verbalisierte Obrigkeitskritik“33, die er im „Stechlin“ in bezug auf den letzten Hohenzollernherrscher übt. „Wo ist der Kaiser?“ hat man in germanistischen Untersuchungen gefragt.34 Ja, wo ist er? Einer späteren Zeit fällt es nicht leicht zu konkretisieren, was zur Zeit der Niederschrift erkennbare Anspielung war. Es ist die Domina Adelheid, die von der „Schneidigkeit“ der Armee, einem Lieblingsbegriff Wilhelms II., spricht, es ist ihr Neffe Woldemar, Rittmeister bei den Gardedragonern, der antwortet: „Liebe Tante [...] das ist ein Begriff für kleine Garnisonen. [...] Schneidigkeit ist bloß Renommisterei.“ (HF I, 5, 101)

Skepsis und Vertrauensverlust gegenüber der herrschenden Phraseologie und den wechselnden Willensbildungen der politischen Kräfte waren als eine der Grundströmungen des Fontaneschen Denkens schon seit Jahrzehnten gegeben. Besonders hinzuweisen ist auf das Fragment Die preußische Idee, entstanden anscheinend 1894. Damals erschien der autobiographische Roman Meine Kinderjahre, und Fontane schickte sich an, den zweiten Teil seiner Autobiographie abzufassen, den wir unter dem Titel Von Zwanzig bis Dreißig kennen. Rückblickend und der Perspektive des Alters entsprechend, aber auch glättend und retuschierend berichtete er, ohne sich ängstlich an den durch den Titel vorgegebenen Zeitrahmen zu halten, von bedeutenden und problematischen Abschnitten seines Lebens. Gleichzeitig also schrieb er auch über die „preußische Idee“. Die Erzählung handelt von einem nicht weiter ungewöhnlichen Beamten, der jedoch die Karriereleiter bis zum Geheimrat emporklettert, und von seinen widersprüchlichen Erfahrungen. An die alltäglichen Forderungen des Dienstes wüßte Adalbert Schulze - so sein Name - sich schon anzupassen, denn an Fügsamkeit fehlt es ihm nicht, wären da nicht die Wandlungen des geistigen Klimas im allgemeinen und im besonderen die „Idee“ seines Staates, der er sich verpflichtet fühlt und die immer wieder wie ein Chamäleon die Farbe wechselt. Schulze übt aber gewissermaßen vorauseilenden Gehorsam. Als Primaner hat er auf Kant geschworen, als Student auf Herwegh. Der Assessor ist beglückt, daß die preußische Idee mit der ghibellinischen übereinstimmt. Nach 1848 glaubt er wieder an die Werte des alten Preußen und arbeitet, inzwischen Polizeioberregierungsrat unter Hinckeldey, gegen die Revolution. Er begrüßt sodann die „Neue Ära“ und findet seinen Weg durch die Unsicherheiten der Konfliktzeit in das verpreußte Deutschland der siegreichen Kriege. Der Kulturkampf, der den vormärzlichen Antipapismus wieder aufleben läßt, erfüllt ihn mit leidenschaftlicher Zustimmung, als aber Bismarck die Auseinandersetzung abbläst und seinen Kultusminister Falk fallenläßt, beruhigt sich Schulze auf Zureden eines Freundes mit der Einsicht: „Bismarck hat immer recht.“ (HF I, 7, 509) Im Ruhestand wird er in die Welt des italienischen Mittelalters zurückkehren, er umbaut sich mit einer Dante-Bibliothek, die er nur für abendliche Besuche in der Weinstube verläßt, wo er mit anderen erfahrenen Staatsdienern sich austauscht. Noch immer geht es um die „preußische Idee“, inzwischen scheut man sich nicht, sich auch trivialer Einsichten zu bedienen. Ich zitiere: „Gesellschaft bei Huth. ,Die preußische Idee ist nehmen, wenn es geht, und nicht nehmen, wenn es nicht geht‘. - ,Herr Geheimrat Sie haben ganz recht, die preußische Idee ist Wechselfällen und dadurch Schwankungen unterworfen im ganzen aber - und ich möchte sagen diese preußische Idee geht durch - Preußen nimmt, wenn es geht, und nimmt nicht, wenn es nicht geht. Das andre besorgt sich so nebenbei, so und so.‘ - Wer so lange gelebt habe wie er und sich unter Hinkeldey die Sporen verdient habe, werde nicht mißverstanden werden, wenn er mutig ausspreche: die Sozialdemokratie sei die preußische Idee.“ (HF I, 7, 509)

Adalbert Schulze hat alles gelernt, was er zu lernen vermochte. Am selben Abend noch erkrankt er und zitiert sterbend, in Fieberdelirien, abwechselnd aus Dantes Hölle und aus Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt“. „[...] es war ein wundervolles Durcheinander“ (HF I, 7, 510).

Eine schonungslose Philippika! Begegnen wir blankem Zynismus? Es ist Ironie auf einem sehr hohen, durch leidvolle Erfahrung geprüften Niveau, wie sie großer Kunst vorbehalten ist - jene „bodenlose Objektivität und Ironie“, wie sie der von uns eingangs zitierte Sebastian Haffner ins Auge faßte. In den ausgeführten Werken erscheint sie zuweilen verdeckt. Bisher war nur von der ersten Niederschrift der Preußischen Idee die Rede, die offenbar schnell entstanden ist und in der die satirischen Züge daher vermehrt hervortreten. Die zweite, ausführlichere, setzt Gegengewichte und balanciert stärker aus. Unübersehbar sind die autobiographischen Bezüge. Auf die zeitliche Nähe der Preußischen Idee zu Von Zwanzig bis Dreißig ist bereits hingewiesen worden. Ein weiteres Mal entscheidet die gewählte Gattung im wesentlichen Maße über den Tenor der Aussage. Vom „strengen Zeitgenossen“, der in den Briefen, dem „versöhnlichen Dichter“, der in den Romanen sich äußert, hat Brinkmann gesprochen.35 In die Typensatire ging ein, was in der Autobiographie nicht Platz finden konnte.

Fontane hat unter Preußen gelitten, hat allerdings nicht minder von ihm profitiert, und auch das wußte er. Es ist kein Einwand gegen seine Glaubwürdigkeit, wenn man feststellt, daß die Wandlungen, denen sein Verhältnis zu Preußen unterworfen war, auch in einer Beziehung dazu standen, wie Preußen ihm seine Poetentreue dankte. Neben aller Unbeständigkeit gibt es doch auch beständige Züge wie die verklärende Sympathie für das a l t e Preußen, von der noch die Figur des Majors Dubslav von Stechlin beredt Zeugnis ablegt. Auch das Interesse für alles Militärische gehört dazu, das bereits die Hervorbringungen des Schülers zeigen: „Das Schlachtfeld von Groß-Beeren“ und „Die Schlacht bei Hochkirch“ sind nur erste Belege für Fontanes Militärliebhaberei, denen, wie der Kenner weiß, überaus zahlreiche Publikationen mit militärischen Inhalten folgen sollten. Dazu steht nicht im Widerspruch, daß Fontane sich später zu einem herben Kritiker der nach 1871 grassierenden militaristischen Stimmung in Preußen entwickelt hat. Dieser Militarismus ließ vielmehr gerade jene sittlichen Tugenden und Werte vermissen, die mit soldatischen Lebensformen in Fontanes Augen noch selbstverständlich verbunden waren. Obgleich er im Zusammenhang eines Gefechts zwischen Preußen und Dänen 1864, in dem das Zündnadelgewehr erstmals eingesetzt wurde, klarsichtig feststellt, der moderne Krieg sei zu einer Wissenschaft des Tötens geworden, zog er daraus doch insofern keine Konsequenzen, als er den Krieg und die Berechtigung, Kriege zu führen, nicht grundlegend problematisierte.36 Er ist in dieser Haltung inzwischen zum Zeugen einer Zeit geworden, die so endgültig vergangen ist wie der Staat, in dem er lebte.

Als Poet hat er, wie wohl nur noch Kleist, s e i n Preußen - man lese „Auf der Treppe von Sanssouci“ - unter die Sterne versetzt. „Dank Theodor Fontane ist heute das versunkene Preußen vielerorts, was das wirkliche Preußen kaum war: geliebt.“37

Anmerkungen:
* Erstdruck in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, 53 (2001), Heft 1, S. 47-64
1 S. Haffner, Theodor Fontane, in: S. Haffner/W. Venohr, Preußische Profile. Königstein/Ts. 1980, S. 122
2 Zitiert wird, soweit nicht anders angegeben, nach: Theodor Fontane: Werke, Schriften und Briefe, hg. von W. Keitel und H. Nürnberger, München: Carl Hanser 1962-1997. Teilweise in rev. 2. bzw. 3. Auflage (HF Abteilung, Band, Seite).
3 Vgl. Maximilian Hardens Rezension zur dritten Auflage der „Gedichte“ und Fontanes Brief an Harden vom 17.12.1889: „Daß ich als Alter Fritz-Grenadier an den Schluß gestellt werde, ist sublim und hat mich am meisten entzückt.“ (HF IV, 3, 742)
4 Als charakteristisch für Fontanes Schaffensweise kann die zitierte Passage insofern gelten, als das Lob Preußens dem Außenstehenden und politisch-weltanschaulichen Gegner in den Mund gelegt wird. Zudem ist Pater Feßler weltläufig und urteilsfähig. Häufiger begegnen wir in Fontanes Romanen dem Gegenteil, der Sprecher desavouiert durch die eigene Ridikülität oder Beschränktheit die vorgetragene Meinung. Dem bornierten Selbstlob wird dann gegebenenfalls mit Ironie oder Schweigen begegnet. Vgl. dazu etwa „Effi Briest“, 19. Kap., die Gesellschaft in der Oberförsterei Uvagla: „[...] der Hauslehrer [...] stürzte von seinem Platz am unteren Ende der Tafel an das Klavier und schlug die ersten Takte des Preußenlieds an, worauf alles stehend und feierlich einfiel: ,Ich bin ein Preuße [...] will ein Preuße sein.‘ - ,Es ist doch etwas Schönes‘, sagte gleich nach der ersten Strophe der alte Borcke zu Innstetten, ,so was hat man in anderen Ländern nicht.‘ ,Nein‘, antwortete Innstetten, der von solchem Patriotismus nicht viel hielt, ,in anderen Ländern hat man was anderes.‘ “ (HF I, 4, 155) Feßlers Diktum ist auch für eine Anthologie (In Freiheit dienen: Briefe von Theodor Fontane, ausgewählt und eingeleitet von F. Seebaß, München 1956) und Schobers Monographie (K. Schober, Theodor Fontane. In Freiheit dienen, Herford 1980) titelgebend geworden.
5 HF I, 6, 384 f. - Das Gedicht konnte wegen der darin enthaltenen Angriffe gegen Hof und Bürokratie zu Lebzeiten Fontanes nicht veröffentlicht werden. Bittere Anklagen enthält auch der Aufsatz „Die gesellschaftliche Stellung der Schriftsteller“ (HF III, 1, 573 ff.) und immer wieder die Korrespondenz: „[...] der letzte Steueroffiziant gilt im offiziellen Preußen mehr als wir, die wir einfach ,catilinarische‘ (Existenzen) sind.“ (An Friedrich Stephany, 9.12.1883; HF IV. 3. 293)
6 Bereits die Hamburger Dissertation von Kenneth Attwood, Fontane und das Preußentum, Berlin 1970 (ungekürzter Nachdruck - mit veränderter Paginierung - Flensburg 2000), hatte sich mit schroff gegensätzlichen Forschungspositionen auseinanderzusetzen: Rolf N. Linn mit seiner aus dem Jahr 1949 stammenden Arbeit „Prussia and the Prussians in the Works of Theodor Fontane“ (Los Angeles, Diss, phil. University of California [Masch. MS.]) und Hans-Heinrich Reuter in seiner zweibändigen Monographie „Fontane“ (Berlin 1968; München 1968) entwarfen von Fontanes Stellung zu Preußen völlig unterschiedliche Bilder. Attwoods in gewisser Weise vermittelnde Position (die sich jedoch von Linns unkritischer und Reuters kritisch-überzeichnender Auffassung deutlich abgrenzte) brachte die Diskussion zu keinem Abschluß. Neben Reuters Darstellung hatte er noch eine weitere aus der ehemaligen DDR stammende Preußen-Deutung angegriffen und als „im ganzen [...] mißlungen“ bezeichnet (P. Wruck, Preußentum und Nationalschicksal bei Theodor Fontane. Zur Bedeutung von Traditionsbewustsein und Zeitgeschichtsverständnis für Fontanes Erzählungen „Vor dem Sturm“ und „Schach von Wuthenow“, Phil. Diss. [Masch.] Humboldt-Universität in Berlin 1967). (Attwood, a. a. O., S. 313) Eine Erwiderung Wrucks findet sich in dem Aufsatz „Fontanes Entwurf ,Die preußische Idee‘ “, Fontane-Blätter 5 (1982), S. 187 f. Vgl. dazu auch F. Paulsen, Zum Stand der heutigen Fontane-Forschung, Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft 25 (1981), S. 475
7 Ein signifikantes Datum bietet in diesem Zusammenhang des Erscheinen der Briefe an den wichtigsten Korrespondenzpartner der beiden letzten Jahrzehnte: Theodor Fontane, Briefe an Georg Friedlaender, hg. von K. Schreinert, Heidelberg 1954, die den Gesellschaftskritiker Fontane vermehrt ins Bewußtsein riefen. Die märkischen und die Berliner Romane erhielten durch die in der Folge vielzitierten Urteile des Briefschreibers über seine als abgelebt empfundene Epoche einen schärferen Kontext, der ihnen erneute Aktualität verlieh. Nicht zuletzt die Meinungen über Fontanes Verhältnis zu Preußen wurden durch diesen Briefband wesentlich mitbestimmt.
8 „Deutschland ist jetzt überfluthet von diesen bornirten Subjekten, die weil sie drei Examina bestanden und einige Literaturkapitel auswendig gelernt haben, der deutschen Nation beibringen wollen, wie Kunst und Dichtung beschaffen sein müsse. Vier Bücher solcher Herren liegen vor mir, eins immer schlechter und dünkelhafter als das andere, lederne Menschen, die weil sie so ledern sind, auch nicht das Geringste von der Sache verstehn, moderne Bildungsscheusäler, denen jedes natürliche Gefühl, wenn sie's je hatten, abhanden gekommen ist. Meine grenzenlose Verachtung gegen diese Leute ist in einem steten Wachsen begriffen. Sie wollen fördern und verwüsten alles.“ Briefe an Georg Friedländer (wie Anm. 6), S. 298
9 HF III, 4, 398
10 H. Scholz, Theodor Fontane, München 1978; E. Verchau, Theodor Fontane: Individuum und Gesellschaft, Frankfurt/M. u. a. 1983; H. Ahrens, Das Leben des Romanautors, Dichters und Journalisten Theodor Fontane, Düsseldorf 1985; G. Sichelschmidt, Theodor Fontane. Lebensstationen eines großen Realisten, München 1986; H. Roch, Fontane, Berlin und das 19. Jahrhundert, Düsseldorf 1985. - Von keiner dieser Arbeiten läßt sich sagen, daß sie das Fontane-Bild, dem Stand der neueren Literatur entsprechend, weiterentwickelt hätten. Wenn Scholz einer „erbbiologischen Argumentation“ sich bediente, die, „in mehreren Kapiteln ausgeführt, zur Überbetonung des französisch-hugenottischen Erbes verleitet“ (C. Jolles, Theodor Fontane, Stuttgart 1983, folgte er ebenso einer traditionellen Vorstellung wie Sichelschmidt, der zu einer Problematisierung der krisenreichen Geschichte Preußens und Fontanes Einstellung dazu offenbar keinen Anlaß sah: „Am Beispiel Preußens pflegte Fontane zu exemplifizieren, was deutsche Menschen unter einer straffen und zielbewußten Führung erreichen können.“ (S. 335 f.) Der von Ahrens verbreitete Gallimathias entzieht sich einer ernsthaften Erörterung (vgl. meine Rezension Fontane-Blätter 6 (1986), S. 450-454. Das zuerst 1962 erschienene Buch von Roch bietet, gegliedert in 26 Kapitel, eine ansprechende Erzählung: eine Folge kleiner Essays (etwa „Ruppiner Bilderbogen“), aus denen sich zuletzt ein Bild der Epoche ergeben soll. Weitere Literatur verzeichnet H. Nürnberger, Fontanes preußische Welt. Zu einigen neueren Untersuchungen und Editionen., in: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 22 (1989), S. 340-359
11 Hingewiesen sei auf den 1975 erfolgten Abschluß der in München erscheinenden Ausgabe der „Sämtlichen Werke“ (Nymphenburger Ausgabe), die besonders durch die in der Dritten Abteilung gesammelten kritischen Schriften Fontanes fortdauernde Bedeutung erlangte; auf das Erscheinen der „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ (1976), der „Autobiographischen Schriften“ (1982) sowie mehrerer Briefausgaben im Aufbau-Verlag (DDR), darunter - mit mehr oder weniger zwanzigjähriger Verspätung gegenüber dem ursprünglichen Plan - einer der für Fontanes menschliche und künstlerische Entwicklung interessantesten Briefwechsel (Die Fontanes und die Merckels. Ein Familienbriefwechsel 1850-1870, 2 Bde., hg. von G. Erler, Berlin und Weimar (1987). Sogar die jahrzehntelang so gut wie vergessenen Bücher Fontanes über die Kriege 1864, 1866 und 1870/71 erlebten wiederholte Neuausgaben, die sich bis ins Taschenbuch fortsetzten. Auch Fontanes Briefe an den Verleger der Kriegsbücher wurden gesammelt (Theodor Fontane, Briefe an den Verleger Rudolf von Decker. Mit sämtlichen Briefen an den Illustrator Ludwig Burger und zahlreichen weiteren Dokumenten, hg. von W. Hettche, Heidelberg 1988).
12 „Man wird den Widerspruch zwischen dem Fontane der Märzrevolution und dem Fontane der preußischen Konfliktzeit aushalten müssen. [...] Da gibt es nichts zu vermitteln; der Widerspruch bleibt unaufgelöst. Das gilt jedenfalls solange, wie man die Szenen aus zwei Lebensphasen gleichsam ,zusammenschneidet‘ und das Dazwischen ausspart.“ Hubertus Fischer, Mit Gott für König und Vaterland. Zum politischen Fontane der Jahre 1861 bis 1863, 2. Teil, in: Fontane-Blätter 59, 1995, S. 80
13 P. Wruck, Theodor Fontane in der Rolle des vaterländischen Schriftstellers. Bemerkungen zum schriftstellerischen Sozialverhalten, in: Theodor Fontane im literarischen Leben seiner Zeit. Beiträge zur Fontane-Konferenz vom 17. bis 20. Juni 1986 in Potsdam, mit einem Vorwort von Otfried Keiler, Berlin 1987 (Beiträge aus der deutschen Staatsbibliothek 1987, S. 1-39)
14 G. Friedrich, Fontanes preußische Welt. Armee - Dynastie - Staat. Herford 1988 (Ungekürzter Nachdruck - mit veränderter Paginierung - Flensburg 2001)
15 Thomas Mann, Essays, Bd. 1-6, hg. von H. Kurzke und S. Stachorski, Frankfurt am Main 1993-1997; hier: Ess I, 114 und 145
16 C. Jolles: Fontane und die Politik. Ein Beitrag zur Wesensbestimmung Theodor Fontanes, Berlin und Weimar 1983, S. 15. (Vollständige Publikation der zunächst nur in einem Teildruck erschienenen Dissertation.)
17 Vgl. hierzu meinen Aufsatz „,Hohenzollernwetter‘ oder Fünf Monarchen suchen einen Autor. Überlegungen zu Fontanes politischer und literarischer Biographie“, in: Theodor Fontane und Thomas Mann. Die Vorträge des internationalen Kolloquiums in Lübeck. Hrsg. von E. Heftrich u. a., Frankfurt am Main 1998 (Thomas-Mann-Studien; Bd. 18), S. 49-76), der dem vorliegenden Referat in wesentlichen Teilen zugrunde liegt. Vgl. auch W. Rieck, Preußens Königshaus im Urteil Fontanes, in: Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts. Im Auftrag des Theodor-Fontane-Archivs hg. von H. Delf von Wolzogen in Zusammenarbeit mit H. Nürnberger. 3 Bde. Würzburg 2000, hier Bd. 1, S. 36-50
18 Rieck (wie Anm. 17), S. 47
19 In Audienz empfangen wurde Fontane bezeichnenderweise nur von König Maximilian II. von Bayern, aber von keinem der preußischen Könige. Allerdings war er ihnen als Autor nicht unbekannt. Friedrich Wilhelm IV. wurde von seinem Vorleser Louis Schneider mit Balladen Fontanes bekannt gemacht. Wilhelm I. verwahrte, wie Fontane selbst in Kritische Jahre - Kritiker Jahre erzählt, sein drittes Kriegsbuch („das aus vier starken Halbbänden bestehende Werk“) auf seinem Schreibtisch (HF III, 4, 1041). Friedrich III. war von dem Gedicht „Auf der Treppe von Sanssouci“ entzückt, las es seiner Frau beim Frühstück aus der Berliner LeseZeichen 5/2001 „Vossischen Zeitung“ vor und - „ganz charakteristisch“, wie Fontane anmerkt - schnitt es sich aus (an Georg. Friedländer, 6.1.1886, HF IV, 3, 145). Wilhelm II. berichtet in seinen Memoiren, daß ihm sein Lehrer aus Werken von Alexis und Fontane vorgelesen habe (Kaiser Wilhelm II. Aus meinem Leben 1859-1888, Berlin 1927, S. 65). Bei Fontanes Begräbnis ließ er durch den Chef des Zivilkabinetts, Geheimrat Lucanus, einen Kranz niederlegen. Fontane empfing über längere Zeiträume finanzielle Zuwendungen für seine literarischen Arbeiten und zuletzt einen Ehrensold, ferner erhielt er einige kleinere Auszeichnungen. Gemessen an dem, was bildenden Künstlern zuteil wurde, hielt sich dies alles in bescheidenen Grenzen.
20 P. Wruck, Theodor Fontane - von Dreißig bis Sechzig. Einleitende Worte zu den Beiträgen des Kolloquiums der Theodor Fontane Gesellschaft (15.-17.9.1993), in: Fontane Blätter 58, 1994, S. 11
21 „Das entsetzlichste aller Dogmen, die Stuartleistung von der Gottesgnadenschaft der Könige, steht mal wieder in üppigster Blüthe (siehe die beiden Reden beim Abschiedsmahle des Prinzen Heinrich) und denke ich mir 500000 Repetirgewehre dazu, so weiß ich nicht, was mit der Menschheitsentwicklung werden soll, wenn ich nicht auf die bei Hemminstedt hereinbrechenden Fluthen oder auf ähnlich Elementares warten darf.“ (13.7.1898 an Friedrich Paulsen; HF IV, 4, 733)
22 So Fontane im ersten, „Preußens Zukunft“ betitelten Beitrag für die „Berliner Zeitungs-Halle“, in der er im Interesse der Einheit Deutschlands die Selbstauflösung Preußens fordert: „Betrachte es sich als ein Mann und drücke es sich todesmutig die Speere ins Herz um der Größe des Vaterlandes willen.“ (HF III, 1, 10)
23 Dazu ausführlicher H. Nürnberger, Fontanes Welt, Berlin 1997, Kap. „Wege des Erzählers. Preußen in Stagnation und Krise“, S. 302 ff. Im Text ungekürzte Taschenbuchausgabe (mit veränderter Paginierung), Berlin 1999
24 Theodor Fontane und Bernhard von Lepel. Ein Freundschaftsbriefwechsel, hg, von J. Petersen, 2 Bde., München 1940. - Hier Bd. 2, S. 355
25 H. Fischer (Hg.), ... „so ziemlich meine schlechteste Lebenszeit.“ Unveröffentlichte Briefe von und an Theodor Fontane während der Akademiezeit, in: Fontane-Blätter 63 (1997), S. 26-47
26 Wruck (wie Anm. 13), S. 32
27 „Aber keiner so frech / Wie der Bürgermeister Tschech, / Er erschoß uns auf ein Haar / Unser teures Königspaar [...]“ Das Lied ist auch durch „Frau Jenny Treibel“ in Erinnerung geblieben. (HF I, 4, 318)
28 HF I, 7, 313 f. - Vgl. hierzu auch H. Fischer, Wendepunkte. Der politische Fontane 1848 bis 1888, in: Theodor Fontane. Am Ende des Jahrhunderts (wie Anm. 17), S. 27
29 Die Erzählung vom Jahrhundertende korrespondiert mit der vom Jahrhundertanfang, eben mit „Vor dem Sturm“. „Allerschönsten Dank für die freundlichen Worte, die Sie erneut für meinen vaterländischen Roman, den ersten, den ich schrieb (ich begann ihn 63 auf 64, als die nach Schleswig-Hollstein gehenden österreichischen Batterien auf der Verbindungsbahn, Königgrätzerstraße, an mir vorüberrasselten), gehabt haben. In Jahresfrist hoffe ich Ihnen einen Roman von beinah gleicher Dicke, der, statt im Oderbruch, in einem Ostwinkel der Grafschaft Ruppin spielt, überreichen zu können. Er ist auch patriotisch, aber schneidet die Wurst von der andern Seite an und neigt sich mehr einem veredelten Bebel- und Stöckerthum als einem alten Zieten- und Blücherthum zu.“ (An Friedrich Paulsen, 29.11.1897; HF IV, 4, 678)
30 „Es ist ein esthetisches Problem, ein biographisches und ein historisches. Der Roman wird zur Sammellinse, in der noch einmal zusammengefaßt ist, was eine an Widersprüchen reiche Entwicklung gezeitigt hatte.“ Reuter, Fontane (wie Anm. 6, Bd. 2, S. 536. Vgl. auch Nürnberger, Fontanes Welt (wie Anm. 23), Kap. „Wege des Erzählers“, Vor dem Sturm, S. 281 ff.
31 „Er war zu groß, um Größe zu beneiden“, rühmt Fontane, auf das Verhältnis des Monarchen zu Bismarck anspielend (HF I, 6, 573). Die Zurückhaltung des Kaisers, die es erlaubte, den ,Schwefelgelben‘ gewähren zu lassen, hat Fontane wiederholt hervorgehoben und auch im Vergleich mit Friedrich Wilhelm IV. gewürdigt: „Dies ist der Kardinalunterschied zwischen ihm und seinem Bruder [...], der keine großen Leute neben sich ertragen und deshalb auch keine Dankbarkeit für die Großtaten andrer in seinem Herzen großziehen konnte.“ (12.3.1881 an Philipp zu Eulenburg; HF IV, 3, 125)
32 Fontane spricht Friedrich III., besonders in der Behandlung Bismarcks, politischen Instinkt ab und läßt Dubslav im Gespräch mit dem einstigen Londoner Botschaftsrat Barby die Überzeugung äußern, daß der Kaiser - der sich als Kronprinz zum ostelbischen Adel in Distanz gehalten hatte - an der „scharfen Quitzow-Ecke“ (HF I, 5, 307) gescheitert wäre. Vgl. dazu auch Attwood (wie Anm. 6), S. 189 f. und S. 246.
33 G. Brude-Firnau, Die literarische Deutung Kaiser Wilhelm II. zwischen 1889 und 1989, Heidelberg 1997 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Folge 3, 148), S. 26
34 W. Schumann: Wo ist der Kaiser? Theodor Fontane über Kaiser Wilhelm II., in: Monatshefte 71 (1979), S. 170. - Die weiteren von Brude-Firnau (wie Anm. 33), S. 173, aufgeführten Literaturangaben zum gleichen Themenkreis sind um die ausführliche Erörterung in Friedrichs Monographie (wie. Anm. 14) zu ergänzen (Kap. „Fontane und Kaiser Wilhelm II.“).
35 R. Brinkmann, Theodor Fontane. Über die Verbindlichkeit des Unverbindlichen., München 1967, S. 27 f.
36 Sogar der moderne Krieg behielt in Fontanes Augen noch einen poetischen Zauber, vgl. Friedrich, Fontanes preußische Welt (wie Anm. 14.), S. 152 f.
37 Haffner, Theodor Fontane (wie Anm. 1), S. 130


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
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