Eine Rezension von Hans-Rainer John

Eine Wienerin in L. A.

Marlene Streeruwitz: Nachwelt
Ein Reisebericht. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1999, 400 S.

Ein Roman ist es wohl nicht, die Bezeichnung „Reisebericht“ ist dagegen korrekt. Es handelt sich um das fiktive Reisetagebuch einer Margarethe Doblinger, 39 Jahre alt, Journalistin und Dramaturgin in Wien, die eine Biographie von Anna Mahler, der Tochter des berühmten Komponisten und Dirigenten Gustav Mahler, schreiben will und zu Recherchen für zehn Tage nach Los Angeles fliegt, neben Wien, London und Spoleto einer der Wohnorte der 1988 verstorbenen Dame. Vom 1. bis 10. März 1990 hält sie sich dort auf. Jedem dieser Tage sind etwa 40 Druckseiten gewidmet. Jeder Tagesbericht enthält drei Bestandteile.

Erstens geht es um das Sammeln von Informationen über Anna Mahler, die sich zeitlebens vom erdrückenden Vaterbild zu emanzipieren suchte, letztens ohne rechten Erfolg. Sie dilettierte ein wenig in Musik und Malerei, betrieb einzig die Bildhauerei professionell, allerdings ohne übergreifende Bedeutung zu gewinnen. Sie war fünfmal verheiratet, darunter mit dem Komponisten Ernst Krenek, sie hatte ein Verhältnis mit dem österreichischen Kanzler Schuschnigg, lebte einfach und wurde erst nach dem Tode ihrer Mutter wohlhabend. Margarethe Doblinger trifft acht Leute, die mit Anna bekannt waren, und protokolliert deren Erinnerungen. Die ehemaligen Ehemänner, Nachbarn, Freunde und Freundinnen, Berufskollegen und Schüler berichten sprunghaft und zusammenhanglos, wie im Leben, durch keinerlei Zwischenfragen diszipliniert, also nicht logisch und folgerichtig, dadurch entsteht der Eindruck einer gewissen Oberflächlichkeit und Zufälligkeit. Sie sprechen im allgemeinen gut und achtungsvoll von Anna, aber jeder hat von ihr ein anderes Bild. Schon am siebenten Tag fragt sich Margarethe: „Was machte sie hier. Was war das für ein sinnloses Unternehmen. Was hatte sie hier verloren. Warum war sie hierher gekommen. Und wie hatte sie einen Augenblick annehmen können, das alles wäre wichtig.“ Am Ende gibt sie den Plan der Biographie auf. Wahrscheinlich hat sie das falsche Objekt gewählt, ein allzu alltägliches Leben, das mit seinem Werk keine tiefere Spuren hinterlassen hat.

Zweitens geht es um die minutiöse Schilderung des äußeren Ablaufs dieser zehn Tage, der Ereignisse und Erlebnisse: wo Margarethe wohnt und schläft, was sie ißt und trinkt, wann und mit wem sie telefoniert, wo sie einkauft, spazierengeht, mit dem Auto durch die Gegend und von einem Treffpunkt zum anderen fährt, wie sie Theater besucht, wie ihr gesundheitliches Befinden ist. Wenn sie Zeitung liest, werden die wichtigsten Titelzeilen zitiert und damit die tagesprägenden Geschehnisse erinnert. Das alles geschieht sehr dicht und plastisch, so daß man sich ein genaues Bild machen kann sowohl von Margarethes Tagesablauf als auch vom Leben in L. A. Manches allerdings ist zu ausführlich, zu auswahllos geschildert, und manches wiederholt sich, so daß es am Ende ermüdet: Jeder Klobesuch, jedes Abführmittel registriert, wirkt am Ende ein wenig penetrant. Die Schilderungen der Stadtspaziergänge und der Autofahrten mit den Landschaften und der nervösen Suche nach Abfahrten, Abbiegungen, Einfahrten und Parkplätzen sind nahezu unendlich, und nach der Beschreibung von vier Supermärkten, zwei Drugstores und fünf Schopping malls ist dann auch das letzte Informationsbedürfnis gestillt.

Der dritte und wohl bedeutendste Bestandteil hat mit Margarethes eigenem Leben zu tun. Sie ist nicht kalt und unempfindlich. Indem sie sich mit Anna Mahler befaßt, gerät sie über das eigene Leben ins Nachdenken, denn da gibt es Parallelen. Von ihrem Mann Gerhard hat sie sich der Ehrlichkeit halber getrennt, als ihr Verhältnis mit dem Theaterdirektor Wagenberger, ihrem Chef, begann, geblieben ist ihr nur die geliebte Tochter Friedericke. Aber das Verhältnis war genausowenig dauerhaft wie das mit dem Dichter Heinrich Dieffenbacher. Jetzt ist sie mit dem Internisten Helmut Kovacic liiert. Er ist 14 Jahre älter als sie. Eigentlich sollte er sie nach L. A. begleiten. Unter einem Vorwand ist er aber im letzten Moment abgesprungen. Offenbar kann er sich weder von seiner Ex-Frau Traude noch von seiner schönen Stieftochter Sandra wirklich befreien. Margarethe fühlt sich verlassen. Sehnsucht nach dem Geliebten kämpft in ihr mit dem rationalen Erfassen der Situation. Sie sollte sich konsequent von Helmut trennen. Auch eine neue Arbeit braucht sie, mit Wagenberger geht das ja nun nicht mehr. Die Verunsicherung, in die sie durch die Materie und durch den Abstand von Wien gerät, bestimmt die Art, wie sie ihren Interviewpartnern gegenübertritt. „Was machte sie hier. Andere Leute ausfragen. Schlimme Schicksale ausgraben, um das eigene ertragen zu können.“ Sie gewinnt Klarheit über sich selbst und ihre Lage. Dieses Psychogramm ist berührend, während alle anderen Personen nur sektoral in den Gesichtskreis des Lesers treten, unscharf und ein wenig oberflächlich, wie Reisebekanntschaften eben.

Wie die bereits vielfach preisgekrönte Wiener Autorin Marlene Streeruwitz (bisher Hörspiele, Theaterstücke und die Romane Verführungen und Lisas Liebe) ständig diese drei Ebenen verfolgt und organisch miteinander verbindet, so daß am Ende ein Gesamtbild entsteht, ist - trotz Einwendungen im einzelnen - im ganzen schon bewundernswürdig und interessant. Gewöhnungsbedürftig ist freilich die Sprache. Die Verwendung kurzer Sätze, oftmals besteht ein Satz nur aus einem Wort, ist kein Nachteil, und daß mitunter das Subjekt oder das Verb fehlt, ergibt einen hastenden, drängenden Gestus, der das Tempo des modernen Lebens einzufangen scheint. Auch ungewohnte Formulierungen wie „Es war sich dann nicht ausgegangen“ statt „Es hatte nicht geklappt“ nimmt man als liebenswürdige Eigenart gern in Kauf. Die verfremdende Satzstellung dagegen, die mit Vorliebe Verwendung findet, ist befremdend und eine echte Lesehemmung: „Die Ohren völlig frei standen“ oder „Sich nicht wehren hatte können“ oder „Nicht finden hatte können“ oder „Sie sie nicht erschießen hatte wollen“ oder „Schreien hätte wollen“ oder „Sich eine Verletzung fühlte“. Diese quälende Verunstaltung oder Sprache ist um so weniger begreiflich, als sie natürlich nicht unterlaufen, sondern gewollt ist, denn an vielen anderen Stellen beweist sich die Autorin auch hier als wirkliche Meisterin der Sprache.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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