Eine Rezension von Waldtraut Lewin

„Nur ich und mein Buch“

Zeruya Shalev: Liebesleben
Roman.
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler.
Berlin Verlag, Berlin 2000, 368 S.

Ein üppiger langer Zopf, der über den nackten Frauenrücken fällt - das Foto auf dem Schutzumschlag von Zeruya Shalevs Roman. Der Zopf, der das „Markenzeichen“ von Ja'aras einst so schöner Mutter war. Jener Zopf, der Arie, den entsetzlichen, alten und unberechenbaren Liebhaber Ja'aras zu einem seiner irrationalen Wutanfälle bringt: Wie kann sie, Ja'ara, sich erdreisten, die Haare so zu tragen wie ihre von ihm früher angebetete Mutter? Und er schickt sie einmal mehr verachtungsvoll nach Haus, um sie dann später zurückzuholen ...

Die Geschichte ist so bitter und so undurchschaubar wie das Leben selbst. Ja'ara, glücklich verheiratet, mit fester Anstellung an der Hochschule zu Jerusalem, kurz davor, bei einem sie eindeutig favorisierenden Professor eine Abschlußarbeit zu schreiben, lernt einen Studienkollegen ihrer Eltern kennen; ihr Vater scheint den Mann schwärmerisch zu verehren, die Mutter schließt sich ein und gibt vor, ihn zu hassen. Ja'ara wechselt kaum ein paar Worte mit ihm, und schon nimmt das Unheil seinen Lauf. Alles ist verändert. - Wie ein Menetekel steht der Tod der Katze ihrer besten Freundin am Beginn, ein Tod, den sie verschuldet, weil sie sich nicht um das Tier kümmert, als es ihr nachläuft. Es folgt eins aus dem anderen: Lügen und Verschweigen, Vertrauensverlust, die jähe Erkenntnis, daß sie ihren harmlosen Mann eigentlich im Inneren verachtet; dann die erneute Begegnung mit Arie: Es kommt zu einer exzessiven Sex-Szene mit ihm in der Umkleidekabine eines Modehauses. Der Erdrutsch ist nicht mehr aufzuhalten. Ja'ara verfällt in eine süchtige Passion zu dem alten verlebten Egomanen, der sie benutzt und traktiert wie ein Spielzeug, ganz wie es ihm gefällt. Alles wirft sie weg. Ihre Ehe zerbricht, ihre Universitätskarriere scheitert. Keine Demütigung, die ausgelassen wird, keine noch so groteske Situation, die sie nicht erduldet. Arie bietet sie gleich zu Beginn ihres Verhältnisses einem anderen alten Kerl an und guckt dabei zu. Er sperrt sie nach dem Tod seiner Frau ins Schlafzimmer ein, während draußen die Gäste der vierzigtägigen jüdischen Trauerzeit ein- und ausgehen; sie sitzt da auf ihrem Koffer und hungert und dürstet; sie wird dort fast von ihrem Vater ertappt („Korrmanns Tochter“ heißt sie beziehungsreich bei den alten Knackern - ein Wesen, das nicht einmal einen Namen braucht), findet sich in den aberwitzigen Situationen von burlesker Komik für den Außenstehenden; sie wird weggeschickt und zurückgeholt, sie denkt sich die bizarrsten Lügen für sich und andere aus - und entkommt schließlich. Entkommt, weil sie erkennt, welcher Art Aries Beziehung zu ihr ist: „abhängig von ihrer Abhängigkeit“. Entkommt zu einer neuen, anderen Freiheit - darüber wird noch zu reden sein.

Das ist eine ungeheuerliche, fast unerträgliche Geschichte. Objektiv erzählt, wäre sie nichts weiter als ein Porno der Extraklasse. Eine weitere Story über Obsessionen, wie wir sie kennen. Aber der luzide Kunstgriff der Autorin ist, daß das „Opfer“, daß Ja'ara selbst es ist, die diese Geschichte erzählt. Sie erzählt sie mit äußerster Klarheit, weiß um alles, was sie da macht. Sie hat keineswegs ihren Verstand oder ihr Einschätzungsvermögen verloren, im Gegenteil, ihre Wahrnehmungsfähigkeit ist aufs höchste geschärft - sie hat nur keinen eigenen Willen mehr, kann sich nicht wehren gegen das, was geschieht. Es ist, wie wenn jemand in einem Traum liegt und weiß, daß er träumt, aber nicht erwachen kann, nicht erwachen will. Ja'aras plastische und genaue Beschreibung, die Fülle der Bilder und Assoziationen, die ihr zufließen, ihre brutale Selbstironie, der unbestechliche Blick auf den Kerl, von dem sie nicht loskommt, der gleichsam vibrierende Rhythmus ihrer Sprache (die natürlich in Wahrheit die Sprache Zeruya Shalevs ist) und die schlanke Musikalität der wie große Wellen heranrollenden Sätze machen die Lektüre dieses Romans zu einem Genuß ohnegleichen. (Der Übersetzerin Mirjam Pressler haben schon andere gedankt, ich tu es hier noch einmal.) Was aus der Perspektive eines Dritten hämisch, boshaft, ja eklig wäre, ist so nur bizarr. Zeruya Shalevs atemlose Prosa bebt vor Sensibilität, vor Schmerz, vor gleichsam großäugigem Erstaunen im Blick auf das, was da mit ihr geschieht, was sie mit sich geschehen läßt und was sie selbst freiwillig tut.

Zeruya Shalev erzählt eine verquere Liebes- und Leidensgeschichte. Aber indem sie das tut, ruft sie uns wieder ins Gedächtnis, was wir über allem Herz-, Schmerz- und Happy-End-Kitsch, der täglich via Bildschirm über uns hereinbricht, fast vergessen haben: Happy-Ends sind Lügen. Liebe ist kein Weltheilmittel und Eros ein schrecklicher Gott. Liebe als Kitt der Gesellschaft - welch ein trivialer Irrtum. Liebe ist eine durch und durch asoziale Kraft, sie schert sich den Teufel um gesellschaftliche Konventionen und sittliche Normen, sie ist wie ein Taifun, der Bindungen zerstört, und mit der Vernunft liegt sie seit eh und je im Clinch. Das wußten alle Großen der Weltliteratur, von den alten Griechen bis zu Shakespeare und Goethe, und wenn in Ingeborg Bachmanns Spiel Der gute Gott von Manhattan die Liebenden schließlich, jenseits aller Welt, in die Luft fliegen in einer Explosion, dann haben sie bloß nicht so rechtzeitig die Notbremse ziehen können, wie es Ja'ara letztlich gelingt.

Aber zuvor geht alles zu Bruch. Es sind ja nicht nur die äußeren, die gesellschaftlichen Valeurs - Freundschaft, Ehe, Beruf -, vor deren Scherben die Erzählerin am Ende steht. Alles gerät ins Schwanken. Der boshaft-gelangweilte Lover teilt ihr verstörende Details aus dem Leben ihrer Eltern mit, Details, von denen sie vorher nichts ahnte, die aber auch nicht so konkret sind, daß sie sich daraus ein neues Bild machen kann. Niemand scheint mehr so zu sein, wie sie annahm, daß er ist - am wenigsten natürlich sie selbst. Zu der tiefen Verunsicherung: Was gefällt Arie an mir, was verletzt ihn, was bringt ihn in Wut?, zu den irrationalen Versuchen, ihm um jeden Preis zu gefallen, ihn zu stimulieren, gesellt sich in zunehmendem Maß eine böse Lust, andere ihrerseits zu kränken und zu verunsichern. Und alle Pläne, den teuflischen Fangnetzen zu entkommen, alle Versuche enden wie die jenes Käfers, der am Rand eines Krugs emporklettert und abstürzt, ehe er oben ist.

Ja'ara rettet sich mit Hilfe eines Buches. Sie rettet sich mit dem, was die große und überwältigende Tradition des Judentums ausmacht, mit „Der Schrift“. Das schöne Buch der Geschichten über die Zerstörung des Tempels, das ihr der Professor geborgt hat, worüber sie ihre Arbeit schreiben wollte und das sie sogar im freiwilligen Gefängnis in Aries Schlafzimmer dabei hat, und ein anderes Buch, in dessen tieftraurigen Geschichten sie - ebenfalls trauervollen - Trost findet -, sie sind es am Ende, die ihr Zuflucht geben. Wir finden Ja'ara schließlich, nächtens eingeschlossen in der Universitätsbibliothek, in ihren Armen das Buch haltend „wie eine Mutter ihr Kind“, auf dem Teppich im blassen Schein des Notlichts Geschichten lesend, uralte Geschichten ihres Volkes. „Kormanns Tochter“, die verstörte Tochter Zion, ist heimgekehrt aus den Verstrickungen und Verführungen des boshaften Eros zu den großen, den ewig bleibenden Traditionen jüdischer Existenz, nimmt weinend Platz am Born der Überlieferung. An dem, was Israel ausmacht.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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