Eine Rezension von Helmut Hirsch
cover

„Nester voller Widersprüche sind wir“

Golo Mann/Marcel Reich-Ranicki: Enthusiasten der Literatur
Ein Briefwechsel, Aufsätze und Portraits.
Herausgegeben von Volker Hage.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2000, 293 S.

„Nester voller Widersprüche sind wir“

Golo Mann/Marcel Reich-Ranicki: Enthusiasten der Literatur
Ein Briefwechsel, Aufsätze und Portraits.
Herausgegeben von Volker Hage.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2000, 293 S.

Dieses Buch kann man an jeder beliebigen Stelle aufschlagen. Immer ein treffliches Wort, ein überraschender Zusammenhang, ein pointiert ausgeführter Gedanke. Direkte und indirekte Korrespondenzen. Der Briefwechsel zwischen Golo Mann und Marcel Reich-Ranicki ist auf den ersten Blick eine Arbeitsangelegenheit. Verabredungen, Bitten, Bestätigungen, Aufmunterungen. Der Literaturredakteur der „FAZ“ Marcel Reich-Ranicki schickt generöse Angebote an Golo Mann, von dem er weiß, daß er ein Kenner und Liebhaber der Poesie ist. Erwünscht sind Essays, Kritiken und Interpretationen von Gedichten für die „Frankfurter Anthologie“. Verehrung und Wertschätzung von einem Mann, der nicht nur ein scharfer Kritiker ist. Der auch selbst schreiben kann. Marcel Reich-Ranicki geht weit in seinen Wünschen gegenüber Golo Mann. Einmal heißt es: „Was immer Sie machen wollen, wir möchten es drucken. Und obwohl ich grundsätzlich und ein für allemal keine Katzen im Sack kaufen möchte - Ihre Katzen sind wir sogar im geschlossenen Sack zu kaufen bereit. Also falle ich Ihnen zu Füßen und bitte Sie wieder einmal um Beiträge und frage mich und Sie, wie lange Sie uns auf eine Antwort werden warten lassen.“

Unnachgiebigkeit und Geduld lohnen sich. In regelmäßigen Abständen kommt ein Text von Golo Mann, auch Reden und Aufsätze für andere Gelegenheiten werden freudig aufgenommen. Und da während jener Jahre (1974-1990) auch Reich-Ranicki viel über Thomas und Heinrich Mann schreibt, gibt es Anlässe für kleine Wortgefechte und aufklärende Ergänzungen. Spannend wird es besonders dann, wenn Golo Mann über den Onkel und über den Vater diffizile Nuancen mitteilt, die kein Kritiker wissen kann. Reich-Ranicki hatte ein ganzes Buch über Thomas Mann geschrieben. Golo Mann liest es mit Interesse und steuert in der Briefdiskussion ein paar Wesentlichkeiten aus eigener Erfahrung bei. Der Titel des Reich-Ranicki-Buches, Thomas Mann und die Seinen, wird von Golo Mann fein akzentuiert: „Auch ich, in aller Bescheidenheit, fühle mich mehr als der Meine als der Seine; ohne den gewaltigen Einfluß, den er auf mich ausgeübt hat, zu bestreiten.“ Dann kommt er auf die wechselvollen Vater-Sohn-Beziehungen zu sprechen. Sie veränderten sich „nach 1933 entschieden zum Guten“, doch „schlimm stand es zwischen meinem zehnten und meinem zwanzigsten Jahr, und davon blieb natürlich immer irgend etwas hängen. Unvermeidlich mußte ich seinen Tod wünschen; war aber während seines Sterbens und danach völlig gebrochen; es dauerte Monate, bis ich mich einigermaßen von diesem Verlust erholte. Solche Nester voller Widersprüche sind wir nun einmal.“

Auch in Reich-Ranickis Aufsatz zu den Briefen und dem Leben von Klaus Mann fand Golo Mann Unstimmiges. Alles fand er zwar richtig, „das Ganze trotzdem nicht. Warum nicht? Weil die Sympathie fehlte. Gänzlich ohne Sympathie, scheint mir, geht so etwas doch nicht.“ Ähnliche Bemerkungen oder Richtigstellungen von kompetenter Seite auch bei verschiedenen anderen Gelegenheiten. Es ist schön, hier zu sehen, wie sich der kritische und der erlebnismäßige Partner im Briefwechsel ergänzen. Für den erwartungsvollen Leser genau das richtige Futter. Reich-Ranicki trägt Einwände dieser Art gelassen, äußert sich aber zugleich auch ein bißchen wortkarg, eine gelinde Verstimmung nie ganz verbergend. „Was Sie zu meinen Artikeln über Klaus und Thomas Mann geschrieben haben“, antwortet er, „ist für mich außerordentlich wichtig und interessant. Sie können mir glauben, daß ich volles Verständnis für Ihre Gesichtspunkte habe.“

1975, zum hundertsten Geburtstag des Vaters, schreibt Golo Mann: „Ich versuche so zu tun, als hätte ich diesen Autor nie gekannt.“ Das sind akrobatische Sprünge, bei denen manche Details, die die Nachwelt begierig erwarten mag, ans Tageslicht kommen. In einem Brief an Reich-Ranicki, sechs Jahre später, meint Golo Mann über den Vater: „... aber seine Herkunft war provinziell, und davon kam er nie ganz los ... Gute Bürgersleute in einer kleinen Stadt. Daher stammt auch sein Antisemitismus, von dem er nie völlig wegkam (sein Bruder auch nicht).“ Ein Wort, das gegenwärtigen Rätselratern über Zeit-Phänomene zu denken geben sollte.

Zu Goethe will dem Historiker Golo Mann „absolut nichts einfallen“. Man soll auch nichts schreiben, „wenn einem das Herz nicht danach ist“. Von Prosa, gesteht er einmal, verstehe er nicht viel, mehr aber von Gedichten. Seine „Erlkönig“-Interpretation wird von Reich-Ranicki wie eine Sternstunde gefeiert. Schön ist auch immer wieder die Freude des Anregers Reich-Ranicki zu lesen, der sich als „Zöllner“ sieht, „der dem Weisen seine Weisheit abverlangt“.

Zu den lesenswertesten Beiträgen dieses Buches gehören Golo Manns Gedicht-Interpretationen. Sie alle haben eine kleine Vorgeschichte, vermittelt durch die vorangestellten Briefe. Und dann eben doch noch etwas über Goethe. Auch über Friedrich Rückert, Heinrich von Kleist, Hofmannsthal, Platen, Fontane. Das sind große Miniaturen, wenn diese Übertreibung gewagt werden darf. In seiner Autobiographie resümiert Reich-Ranicki: „Golo Manns Sprache entwickelte sich sehr wohl unter dem Einfluß der überaus kunstvollen Diktion Thomas Manns, nur freilich im bewußten oder unbewußten Widerstand gegen diese Diktion.“ Widerstand hin, Widerstand her, dies ist ein wichtiges Buch für Leser, die Prozesse und Individuen verstehen wollen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite