Eine Rezension von Eva Kaufmann

Eingeschlossen oder ausgesperrt

Helga Kurzchalia: Im Halbschlaf
Roman.
Rotbuch Verlag, Hamburg 2000, 171 S.

Die Ich-Erzählerin, um 1949 geboren, leidet am Eingesperrtsein im DDR-Staat, am Gefühl, nicht gebraucht zu werden und nichts Sinnvolles tun zu können, die kostbare Lebenszeit mit Warten zu vertun. Nach dem Psychologiestudium an der Bauakademie angestellt, soll sie Analysen über das „Heimischwerden“ in Neubaugebieten anstellen, die, wenn sie allzu kritisch ausfallen, in Panzerschränken verschwinden.

Die junge Frau ist mit einer Reihe Gleichgestimmter befreundet, die wie sie das Leben in der DDR unerträglich finden und ausreisen wollen. Ihre Sehnsucht, die „große weite Welt“ zu sehen, wird durch die Erzählungen der Eltern genährt, die 1946 aus dem Exil in England in den Osten Deutschlands gingen, um hier - wie andere Exilanten - ein „besseres Deutschland“ aufzubauen. Helga Kurzchalia (Jg. 1948) greift mit ihrem Prosadebüt einen speziellen Generationskonflikt auf. Er betrifft die Konfliktlage der Kinder von Widerstandskämpfern, die in der DDR in zum Teil hohen Funktionen tätig waren und das Leben ihrer Kinder in einer Weise vorprägten, die nicht selten entschiedenen Widerspruch, sogar Widerstand provozierte. Wir wissen davon nicht zuletzt aus Literatur, u. a. aus Erzählwerken von Monika Maron, Irina Liebmann, Katja Lange-Müller und Barbara Honigmann.

Helga Kurzchalia beläßt es bei der Benennung dieser Konfliktlage, spielt sie nicht aus. Im Zentrum des Textes steht das diffuse emotionale Unbehagen der Ich-Erzählerin, dem sie durch Ortsveränderung zu entkommen hofft: „Wenn schon nicht in den Westen, dann eben gen Osten.“

Gelegenheit dazu bietet sich, als ihr Ehemann durchsetzt, als Chemiker ein halbes Jahr an einem Forschungsinstitut in der Nähe Moskaus arbeiten und Frau und Kind dorthin mitnehmen zu können. Der Aufenthalt in der Sowjetunion - Ende 1976, Anfang 1977 - bildet die hauptsächliche Handlungszeit, von der aus Episoden aus Kindheit und Jugend erinnert werden. Das ist genau die Zeit, als in der DDR Wolf Biermann ausgebürgert wird und Freunde der Protagonistin dagegen Protestaktionen unternehmen. Ihre Lebenskrise verschärft sich insofern, als sie als „mitreisende Ehefrau“ zunehmend mit ihrem Mann hadert, der ganz in seiner wissenschaftlichen Arbeit aufgeht und die Auswanderungswünsche einiger seiner Arbeitskollegen nicht versteht, mit denen sie sich in Dalino angefreundet hat. Gegen Ende des Buches wird mitgeteilt, nach der Rückkehr in die DDR habe sie ihre Stelle an der Bauakademie aufgegeben und arbeite nunmehr in einem psychiatrischen Krankenhaus.

Auf den letzten fünf Seiten des Buches erzählt die Protagonistin ausführlich und anschaulich von ihrer Arbeit mit einem kranken vierjährigen Mädchen. Dieser Textteil soll wohl bedeuten, daß sich die Lebenssituation der jungen Frau insofern verändert hat, als sie eine Arbeit tut, die sinnvoll ist. Von anderen im Buch berührten Konflikten ist nichts zu erfahren. Was insgesamt aus der Situation des metaphorisch zu nehmenden „Halbschlafs“ wird, auf die der Titel anspielt, bleibt offen.

Kurzchalias Schreibweise gewinnt vor allem in Episoden Prägnanz, die Nebenfiguren betreffen, z. B. den Freund Rudi, der seiner Mutter, einer seit kurzem pensionierter Staatsanwältin, vorwirft, aus dem englischen Exil ausgerechnet nach Ost-Berlin gegangen zu sein. In seiner Person wird der Konflikt von Emigrantenkindern auf die Spitze getrieben. Der Vierunddreißigjährige verbringt sein Leben im engeren Wortsinn im Halbschlaf, nämlich im Bett, und brütet Ideen zu einem „radikal-demokratischen Programm“ aus und phantasiert von der „dritten Phase der Weltrevolution“.

In solchen Episoden wird die wirkliche Dimension der Konflikte ahnbar, die das Leben der Figuren und der hinter ihnen stehenden authentischen Personen und Prozesse ausmachten und letztlich in den Kollaps des ganzen Systems mündeten.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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