Eine Rezension von Bernd Heimberger

Geistige Gegenwehr

Torsten Hilse/Dieter Winkler (Hrsg.):
Unterdrückte Wahrheit
Schubladentexte aus der DDR II.
verbum, Berlin 2000, 216 S.

Der große Schwall der Schubladenliteratur blieb aus! Enttäuscht, daß das Erwartete nicht kam, wandten sich westdeutsche Feuilletonisten wie die düpierte Verlobte fluchtartig von der Literatur aus der DDR ab. Verflogen war auch die Lust, sich danach zu erkundigen, was wieder in den Schubladen landete, nachdem die Verlage eher redigiert denn lektoriert hatten. Sich selbst zu richten oder zu rechtfertigen konnte nicht die Sache der Schriftsteller sein, die sich das Reduzieren gefallen ließen. Schubladenliteratur aus der DDR hat Deutschland also nicht bekommen.

„Schubladentexte aus der DDR“ haben Torsten Hilse, der 1989 zu den Gründungsmitgliedern der SPD gehörte, und der Kulturwissenschaftler Dieter Winkler gesucht, gefunden und in Druck gegeben. Nun bereits die zweite Folge. 1999 gab es den Band Die Fragen und die Freiheit. Jetzt gibt es den Band Unterdrückte Wahrheiten. Die Titel sind Programm. Die verlegerisch-konzeptionelle Absicht der Publikationen ist es, Texte zu veröffentlichen, die auch für die Freiheit der Verfasser sprechen, sich der „Unfreiheit“ in der DDR zu widersetzen.

Die Biographien der emigrierten, heimgekehrten, in der DDR etablierten Antifaschisten zum Maßstab gemacht, stellte Volker Braun vor Jahrzehnten hintergründig fest, daß die Bürger der DDR keine Biographie haben. Auf die Biographien der Beiträger beider Bände geachtet, kommen alles andere als geradlinige DDR-Lebensläufe zum Vorschein. Vonwegen versorgt sein von der Wiege bis zur Bahre! Die DDR in ihren Gegebenheiten nicht gleichmütig hinzunehmen hieß, den Druck der Gesellschaft zu spüren zu bekommen. Wer Gegendruck riskierte, mußte mit Brüchen in seiner Biographie rechnen. Das wird in den biographischen Angaben ebenso deutlich wie in den Texten. In der Summe sind die Beiträge keine Worte wider die DDR-Wirklichkeit. Sie sind die Wirklichkeit der DDR. Die Beiträge sind Beispiele der geistigen Gegenwehr. Sie sind Proteste gegen die Partei-Herrschaft. Die hat es jederzeit in der DDR gegeben. Die sehr unterschiedlichen prosaischen, lyrischen, publizistischen, wissenschaftlichen, dokumentarischen Texte sind Zeugnisse engagierter, kritischer, konstruktiver Haltungen der Autoren. Egal, welche Anlässe die Texte veranlaßten, sie differenzieren die Darstellungen der Geschichte der DDR, die zu einem Konglomerat der Stasi-Makulatur verkommen sind.

Substantieller Kern der neuen Sammlung sind „Dokumente zu Wolfgang Heise“ (1925-1987). Der Philosoph und Ästhetiker war ein Mensch, der für viele Kollegen, Juristen, Literaten, Künstler eine Autorität war. Die Dokumente belegen die Penetranz der Partei, geistige Autorität zu untergraben. Vergeblich! Denn wahr ist, Wahrheit läßt sich nicht unterdrücken, wo auch immer versucht wird, Wahrheit zu unterdrücken. Die Schubladentexte sind Bestätigungen für die nicht unterdrückbare Wahrheit. Sie sind nicht veröffentlichte Wahrheiten, doch kaum unbekannte Wahrheiten. Nicht wenige Bürger der DDR haben mit Unmengen von Eingaben an den Staatsrat und untergeordnete Ämter ihrem Ärger Luft gemacht. Dutzende Bücher ließen sich aus den Millionen Eingaben binden, die eine nuancierte DDR-Geschichtsschreibung ermöglichen würden.

Einiges, was die veröffentlichten Schubladentexte öffentlich machen, wird zustimmend, zweifelnd, zufriedenstellend gelesen werden. Ständig ist das Gefühl der Freude da, daß so in den Tagen der Gegenwart der DDR im Lande gedacht, gehandelt, also geschrieben wurde.

Das Buch in der Hand, gerät man leicht in einen Lesesog. Es ist, als wäre ein Aktenordner aufgeschlagen, der so manches erstaunliche Stück der Biographie bewahrt. Der Band Unterdrückte Wahrheit schreibt mit die bessere Biographie der DDR, deren letzte Kapitel längst noch nicht verfaßt sind. Torsten Hilse und Dieter Winkler liefern Material für die Geschichtsschreibung. Weitere Zulieferungen folgen? Der Band Unterdrückte Wahrheit ist nicht zu lesen, ohne daß der Blutdruck steigt. Still, ganz still, macht die Menschlichkeit, die in dem einen oder anderen Text ist.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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