Eine Rezension von Hans-Rainer John

Unaufgeklärte Mordtat

Lesley Grant-Adamson: Kein Engel so rein
Roman.
Aus dem Englischen von Hedde Pänke.
Ullstein Verlag, München 2000, 352 S.

Das Criminal Justice Investigations, die britische Institution zur Ermittlung von Unrechtsurteilen, ist Marcus Winterlea auf der Spur. Der Pathologe hat seine Befunde oft opportunistisch zugunsten der Ermittlungen der Kriminologen korrigiert und damit Voraussetzungen für ungerechtfertigte Verurteilungen geschaffen. Die Anwältin Gillian Spry und ihr Assistent stoßen dabei auf den Fall von Dennis Aylard, der vor 45 Jahren wegen Ermordung seiner Geliebten Rita Morden gehenkt worden war. Sie fahnden nach Anna Morden und Sandy Minch, die damals als acht- bzw. neunjährige Mädchen Zeugen der Tat gewesen sein müßten.

Heute freilich ist Anna 53 Jahre alt, und sie hat allen Grund auszusagen, daß sie nichts Relevantes gesehen habe. Dabei erinnert sie sich der damaligen Zeit sehr gut: der Mißachtung und Gleichgültigkeit des Vaters, der verwundet aus dem Krieg gekommen war, durch die Erlebnisse traumatisiert und aus der Bahn geworfen: der Wutanfälle der Mutter, die hysterisch über ein armes, verpfuschtes Leben tobte: ihrer Verführung durch den Hochstapler Aylard, der sie mit Schmuck, Geld und Kleidern bestach, zu ihrem Entsetzen an der kindlichen Tochter Anna herumfummelte, insgeheim aber Frau und Kind hatte und noch andere Freundinnen dazu, und der am Strang doch für eine Tat büßen mußte, die er nicht begangen hatte. Und Anna erinnert sich des Treuebruchs ihrer besten Freundin Sandy, die sie zu einem folgenschweren Streich überredet hatte, danach aber jeden Kontakt abbrach.

Für ihr Wissen und ihre Schuld hat freilich auch Anna schwer gebüßt. So ist es für den Leser nicht sonderlich unbefriedigend, wenn am Ende der Fall Winterlea abgeschlossen und der Fall Aylard nicht neu aufgerollt wird.

Die Autorin - in London dem Foto nach vor etwa 50 Jahren geboren, in Wales aufgewachsen, Journalistin u. a. für den „Guardian“, bis 1985 ihr erster Roman erschien - gilt als Spezialistin für den besonderen Nervenkitzel, die eine Atmosphäre des unentrinnbaren Horrors zu schaffen versteht. Nach mehr als einem Dutzend Romane nennt „The Sunday Times“ sie „eine der erstklassigen Thrillerautorinnen überhaupt“, und „Oxford Times“ befindet über ihre Bücher: „Fast unmöglich, sie aus der Hand zu legen, unbedingt zu empfehlen.“ Gemessen an solchen Vorgaben ist die vorliegende Story weder besonders spannend, noch sind die beteiligten Personen sonderlich interessant. Auch gestalten sich die Ermittlungen so aufregend nicht, ist nach 45 Jahren doch viel Gras gewachsen, da werden Tote nicht wieder lebendig, und eine Rehabilitierung bewirkt eben auch nicht mehr viel. Die Erzählweise ist zudem behäbig, ausführlich, ein wenig umständlich sogar. Ehe die Autorin richtig zur Sache kommt, vergehen fast hundert Seiten, solange rätselt man über die Figuren, ihre Beziehungen zueinander, den Fall - das ist nur eine Pseudo-Spannung -, und auch danach halten sich die Überraschungen in Grenzen.

Zugegeben: Der Roman, einmal in Gang gekommen, ist gut gebaut und glatt geschrieben. Die Autorin erzählt abwechselnd auf zwei Ebenen. Dabei wird sowohl das schäbige Milieu bei Mordens vor 45 Jahren, die zersetzten Beziehungen, die vergiftete Atmosphäre deutlich und erlebbar, als auch die gegenwärtige Kleinbürgerwelt, in der sich Anna nun bewegt. Nur die Tat selbst, Absicht wie Verlauf, bleiben diffus. Das ist enttäuschend. Der Leser hat natürlich längst ausgemacht, daß die beiden Mädchen etwas zu verbergen hatten. Aber daß die Lösung so primitiv und allgemein ausfiel, war bei einer so berühmten Autorin kaum zu erwarten. Das führt zu dem Schluß, daß man es mit keinem schlechten, aber auch keinem besonders herausragenden Exemplar der gängigen Kriminalliteratur zu tun hat.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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