Eine Rezension von Karl-Heinz Arnold

Vertraue dich deinem Zahnarzt an

Frances Fyfield: Bruderkuss
Roman.
Aus dem Englischen von Roberto und Pociao de Hollanda.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2000, 384 S.

Heinrich Böll hat uns mit der ihm eigenen, kaum nachweisbaren Ironie den Werbetext überliefert: „Vertraue dich deinem Drogisten an.“ Heute soll man ja seinen Arzt oder Apotheker fragen. Hier nun, in Frances Fyfields siebentem Roman bei Hoffmann und Campe, möchte man als Moral der Geschichte eine neue Aufforderung kreieren: Vertraue dich deinem Zahnarzt an.

Selten, ja noch nie wurden die Grenzen dieses Slogans so extensiv erkundet. Selten war ein solches Horrorszenario zu lesen wie die Beschreibung der grauenvollen halben Stunde, während der die hübsche Sarah Fortune im Behandlungsstuhl des William Dalrymple von diesem nach allen Regeln der zahnärztlichen Kunst so malträtiert wird, daß buchstäblich die blutigen Fetzen fliegen. Dennoch hat Frau Fortune, ihrem Namen entsprechend, mächtiges Glück im unglaublichen Unglück: William wird zwar von zwei Bösewichten gezwungen, den Mund der jungen Dame zu zerfleischen, und das ohne Narkose, aber als Meister seines Fachs vollzieht er diese Tortur mit dem Blick auf die nachfolgende Reparatur - maximale Schmerzen und hinreichender Blutverlust bei begrenztem Schaden.

Was kann einen Mediziner dazu bringen, eine Patientin derart brutal zu mißhandeln? Ganz einfach: Man droht ihm, wenn er nicht Hand an Sarah legt, seine kostbaren Hände irreparabel zu zertreten. Ehe er sich diesen existentiellen Schaden einhandelt - zuvor müßte er mit ansehen, wie die Bösewichte selbst zu Bohrer und Skalpell greifen -, richtet er das Blutbad lieber selbst an.

Die von der Autorin mit Bedacht, vielleicht sogar genüßlich geschaffene Situation scheint ausweglos. Bei allem hinhaltenden Vorgehen des Zahnarztes gegen die freigelegten Wurzelspitzen des Unterkiefers droht der Moment, da die wimmernde Frau einen Kollaps erleidet. Dazu jedoch, der Leser ahnt es, kommt es nicht. Es gibt plötzlich einen mächtigen Knall, eine veritable Explosion vor der Tür des Behandlungsraums. Patientin und Zahnarzt sind gerettet. Ende gut, alles gut, die zwei Verbrecher sind paralysiert, und der schlimmste überlebt den großen Knall nicht.

Die skizzierte Handlung, Schauplatz ist eine Londoner Privatpraxis, wird zum Höhe- und Schlußpunkt eines Romans, den man nicht in die Allerweltsschublade Kriminalliteratur stecken möchte. Frances Fyfield hat eher eine psychologische Studie geliefert, die ganz allmählich an Tempo und Spannung gewinnt und ein halbes Dutzend Personen miteinander verbindet. Es sind dies vor allen die geschundene Sarah, rothaarige Anwältin und Fyfields Geschöpf, seit Roter Rausch (1994 bei Hoffmann und Campe), ihr Zahnarzt und Liebhaber Willam, ihr Klient Cannon Smith, leicht psychopathischer Maler und Bombenbastler, sowie dessen mausgraue, aber liebe Frau Julie und schließlich Cannons schwer psychopathischer Zwillingsbruder John Smith, der mit seinem Bodyguard in der Zahnarztpraxis erscheint, die Tortur an Sarah befiehlt und durch Cannons Bombe getötet wird. Manchmal ist es hilfreich, Bomben basteln zu können.

Brudermord? Juristisch ist es schlimmstenfalls Totschlag, wahrscheinlich aber Notwehr, die Autorin läßt diese Fachfrage offen, obwohl oder weil sie selbst Anwältin ist. Was nach dem großen Knall mit den noch lebenden Personen geschieht, gehört schon nicht mehr zu diesem Roman. Der lebt von der tragischen Haßliebe der Zwillinge. Die Ursache wird nur dezent angedeutet, wie es sich in England gehört. John, der in jeder Hinsicht Stärkere von beiden, reich, absolut skrupellos, hat einst Cannon zu seinem Liebhaber gemacht. Nun, da dieser sich aus der inzestuösen Bindung gelöst und geheiratet hat, will sein Bruder ihn zwingen, die Frau aufzugeben, die erst einmal gehörig bestraft und entstellt werden soll. John und sein Helfer erwischen allerdings die falsche Frau. Durch puren Zufall und mit Absicht der Autorin kommt Sarah statt Julie in den Folterstuhl.

Frances Fyfield gelingt es, diese Irrungen und Wirrungen übersichtlich zu halten, sie plausibel darzustellen und sämtliche Hauptpersonen mit individuellen Zügen zu versehen. Es versteht sich wohl, daß die besondere Zuneigung der Autorin ihrem Geschöpf Sarah gehört, einer liebenswerten und von so manchem Mann geliebten Schönheit mit leichtem Hang zu liebenswürdiger Schlamperei. Sind dies autobiographische Farbtupfen, oder ist es ein Wunschbild? Wir wissen es nicht. Vielleicht stimmt beides. Jedenfalls ist Sarah so überzeugend angelegt, daß man sich ein Weiterleben wünschen möchte. Allerdings dürfte es schwer sein, dieser Spezialvorstellung eine ebenbürtige oder gar überlegene Nachfolge zu verschaffen.

Die Autorin hat sich hier nämlich nicht nur in die Niederungen der Bruderliebe begeben, sondern auch auf die Höhen der Zahnmedizin. Es ist ein höchst origineller Einfall, die Praxis, die Praktiken und die Reflexionen des Zahnarztes William Dalrymple zu einem wesentlichen Bestandteil dieses Romans zu machen. Der Rezensent, leidlich belesen, kann sich keines literarischen Gegenstücks oder Vorbilds entsinnen. Da wird ja nicht etwa die Zahnarztfigur en passant eingeführt, damit sie in der Schlußszene auftreten kann. Nein, wir bekommen den ganzen William geboten mit seinen Ansichten, seinem Verhalten gegenüber unterschiedlichen Patienten, seinem speziellen Wissen und Können, ja seiner Ethik. Frances Fyfield hat, wie sich aus der Danksagung ergibt, von Fachleuten ein Privatissimum in Zahnmedizin bekommen, um auch Details richtig darstellen zu können. So werden wir gewissermaßen lege artis auf den makabren Höhepunkt im Behandlungsstuhl vorbereitet, wenn William seiner Sarah nichtsahnend sagt: Ein Zahnarzt wäre ein miserabler Folterknecht ... Er würde sich nach der Tat überlegen, wie er alles wieder gutmachen kann. Er könnte zwar eine große Show abziehen, eine Menge Blut fließen lassen und so weiter, aber danach könnte er auch alles wieder in Ordnung bringen. Der Mund eignet sich übrigens ausgezeichnet dafür. Alle Wunden im Mund heilen besonders schnell.

Die Autorin hat einleitend ihrem Zahnarzt gedankt, weil er sie nicht nur beraten, sondern auch bewogen habe, dieses Buch überhaupt zu schreiben. Ansonsten hätte sie seine Rechnungen nie bezahlen können. So offenbart sich die ganze Wahrheit und tiefe Weisheit dieser Aufforderung, der noch immer viele Leute ausweichen: Vertraue dich deinem Zahnarzt an!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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