Eine Rezension von Hans-Rainer John
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Familiensaga mit jüdischer Symbolfigur

Yehuda Elberg: Kalman der Krüppel
Roman.
Aus dem Amerikanischen von Xenia Osthelder.
Rotbuch Verlag, Hamburg 1999, 440 S.

In diesem Buch erwacht noch einmal das polnische Schtetl zum Leben. Warmherzig, aber unsentimental, und mit grimmigem Humor zeichnet der Autor das lebendige Bild einer kleinen jüdischen Gemeinde im abgelegenen Dorf Dombrowka am Ende des 19. Jahrhunderts. Bauern und Tagelöhner, Handwerker und Händler, Gutsherr und Rabbi, Gabbai und Schammes gehen hier ihrem Tagewerk nach. Der Alltag ist hart. Es gibt Geburt, Krankheit und Tod, Lachen und Weinen, Feste und Feiern, Fasten und Trauern.

Die politischen, religiösen und wirtschaftlichen Spannungen sind Hintergrund für eine Ausnahmebiographie. Kalman Schwerdl ist von Kind auf Waise und Krüppel (eine Krankheit hat seine Beine und Füße gelähmt) und wird von einem lieblosen Großvater großgezogen. Statt Mitgefühl und Rücksichtnahme erntet er schon in der jüdischen Schule Hohn, Spott und Demütigung. Sein Leben wird zur Qual. Das hat ihn gehässig, verschlagen und hinterhältig gemacht. Er rächt sich mit boshaften Streichen und Gemeinheiten an seinen Quälgeistern. Denn körperlich unterlegen, ist er im Geiste stark. Mittels seines überragenden Verstandes strebt er nach Reichtum und Ansehen. Ein Imperium und eine Dynastie stehen auf seinem hochfliegenden Plan.

Dabei ist er anfangs ein recht widerlicher Kerl. Aus dem schüchternen Jungen war ein verbitterter Menschenfeind geworden, ein Dieb und Lüstling, der sich mit Gewalt nehmen wollte, was das Leben ihm vorenthielt. Er raubt, schwindelt, bedient sich rücksichtsloser Geschäftspraktiken, um zu leben und auf Kosten anderer zu lachen. Zu Wohlstand gelangt, mißbraucht er die selbstlose Liebe der hübschen Kajle, er schwängert und verjagt sie, verleugnet das gemeinsame Kind, weil Kajle hinkt und einen Sprachfehler hat und damit unter seiner Würde ist. Und Breindl, die schöne Ehefrau seines tumben Arbeitspartners Joschl, den er berechnend ins Haus genommen hat, vergewaltigt er einfach, als sie ihm nicht zu Willen ist - was ist schon ein gesunder, armer Dummkopf gegen einen blitzgescheiten, reichen Krüppel?

Eine Laune läßt ihn eines Tages dem Lastträger Berele, der schwere Säcke auf seinem Rücken schleppt, das Geld für Pferd und Wagen vorstrecken. Berele wird Kutscher, kommt zu Wohlstand und preist Kalman als Wohltäter. Kalmans Ansehen steigt, zumal er auch Synagoge und Gemeindehäuser auf seine Kosten verputzen läßt. Da erkennt er: „Wenn man am Hungertuch nagt, ist jeder Zloty ein Vermögen; doch wenn man jede Menge Geld hat, dann ist es nur wertvoll, wenn man damit Freude kauft.“ So kauft er dem gedemütigten Glaser Matus aus eigener Tasche Ehre und Ansehen und seinen behinderten Töchtern Glück und tüchtige Ehemänner. Er sieht, diese Familie ist zwar naiv, aber gutmütig und rechtschaffen, und „sie hatte erheblich größere Gaben zum Glücklichsein als Kalman mit all seinem Verstand. Sie war gesegnet, das Leben zu genießen, und eine größere Weisheit gibt es nicht.“

War nun seine verrückte Bosheit gänzlich in verrückte Wohltätigkeit umgeschlagen? So einfach war es nicht. Zwar hatte sich seine Verbitterung allmählich entkrampft, doch seine Seele blieb gespalten. Zwar mausert sich der erfolgreiche Kaufmann nach außen hin zum Gutmenschen (so nahm er nun doch Kajle zur Ehefrau und zog den gemeinsamen Sohn als Erben heran), tief innen aber steckte noch der alte Kalman und „wartet auf den richtigen Augenblick, um sich auf seine Opfer zu stürzen“. Nur in rastloser Geschäftigkeit kann er sich selbst aushalten. „Wenn ich nichts habe, worüber ich nachdenken kann, werde ich krank.“ So wirkt er zwanghaft an der Mehrung seines Reichtums.

Er kauft die Ernte des Gutsherrn auf und vermarktet sie in eigenen Zucker-, Süßwaren- und Fleischkonservenfabriken, er baut Getreidesilos, eine Stromfabrik, eine chemische Fabrik, eine große Mühle, ein neues Wohnhaus, er kauft sich einen Fiat. Am Ende ist das Imperium geschaffen, und es gibt Grund zur Annahme, daß auch die Dynastie wachsen würde, obwohl Kalmans Sohn und Erbe einer Krankheit erliegt und Kalman selbst sein Leben verliert, von einem seiner Lastwagen überrollt. Aber dann ergreift der Faschismus die Macht.

Der letzte Satz lautet schlicht „Reichskanzler Hitler wurde der Führer Deutschlands“. Und die Juden wurden, wie wir gedanklich ergänzen können, vertrieben, in Ghettos verbannt oder ermordet - Kalmans Dynastie war also keine Zukunft beschieden. Damit endet ein faszinierendes Buch, das Elemente der Familiensaga mit denen eines Bildungsromans verbindet. Kalmans Entwicklung wird psychologisch umfangreich motiviert, aber er soll nach dem Willen seines Schöpfers nicht nur Individuum, sondern auch eine Art Symbolfigur des jüdischen Volkes sein: „Wenn es je eine lebende Parabel für das Schicksal des jüdischen Volkes gab, dann seine Person, Kalman den Krüppel, Kalman Kaleke. Die Nationen der Welt hassen den Juden und verfolgen ihn, wie die Jungen im Cheder ihn gehaßt und ihm sein Leben zur Qual hatten werden lassen. Die Lehrer forderten sie auf, Mitleid mit dem hilflosen Kind zu haben. Doch die Menschen schauen auf Schwächlinge herab. Je feiger der einzelne, um so mehr läßt er seine Enttäuschung an jemandem aus, der schwächer ist als er, und macht ihn zum Sündenbock für seine Probleme. Wenn alle Juden wie er, Kalman Kaleke, wären und jedes Unrecht, das man ihnen antut, rächten, wäre das Ende aller antisemitischen Übergriffe gekommen.“

Hier freilich wären Fragen anzumelden. Wenn jemand die Verstandesschärfe und das Talent hat, seinen Mitmenschen ein Bein zu stellen und für erlittene Brutalität unschuldige Nachbarn leiden zu lassen, so ist das wohl kein Grund zur Freude. Die anfänglichen Gemeinheiten Kalmans gefährden sein Menschsein und treffen ja zudem auch vor allem Mitglieder der jüdischen Gemeinde selbst. Zum aufrechten Bürger und zum wahren Menschen, der sich im Glück seiner Glaubensbrüder sonnen kann, wird Kalman erst, als er sich aus seiner misanthropischen Verkrampfung zu lösen vermag. Der Autor zielt wohl eher auf eine allgemeine Ermahnung seines Volkes, wachsam zu sein und neuen Anfängen zu wehren: „Eigentlich sollten alle Juden wie Brocken scharfen Meerrettichs sein, gerade so, wie er, Kalman Kaleke.“

Yehuda Elberg (89), im polnischen Zgierz als Sohn eines Rabbiners geboren und selbst ordiniert, gehörte während des Zweiten Weltkriegs der jüdischen Untergrundbewegung an. Er gründete den Schriftstellerverband und die erste jüdische Zeitung seiner Heimat, verließ aber Polen 1948 in Richtung New York und lebt seit 1956 in Montreal. Er hat mehrere Romane, Kurzgeschichten und Dramen auf jiddisch und hebräisch geschrieben, die in Israel höchste literarische Auszeichnungen erhielten. Das Reich Kalmans, des Krüppels erschien als zweiter Roman bereits 1983 in Tel Aviv und in jiddischer Sprache. Erst 1997 erarbeitete Elberg eine amerikanische Fassung, die Grundlage der deutschen Übersetzung wurde.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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