Eine Rezension von Henry Jonas

Der Dramaturg als Archäologe

Juliane Votteler (Hrsg.): Musiktheater heute
Klaus Zehelein - Dramaturg und Intendant.
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2000, 232 S.

Klaus Zehelein (60), Chef der Stuttgarter Staatsoper, zählt zusammen mit seinen Kollegen von den Opernhäusern Zürich und München zu den namhaftesten und erfolgreichsten Opernintendanten Europas. Vom Beruf her ist er nicht - wie üblich - Regisseur, Dirigent oder Verwaltungsexperte, sondern Dramaturg. Über die Theater in Kiel (1967-1970) und Oldenburg (1970-1977) kam er nach Frankfurt/M., wo er sich in der sagenumwobenen Ära Gielen als Chefdramaturg qualifizierte, der die Produktionen entscheidend mitprägte und die gemeinsamen Absichten formulierte. Seit 1991 leitet er nun die Stuttgarter Oper, die 1998 und 1999 als „Opernhaus des Jahres“ ausgezeichnet wurde, und er realisiert das vorzüglich als sein eigener Chefdramaturg, der strategisch entscheidet, was wann wie und von wem produziert wird.

Dieses Buch, das drei Artikel über Zehelein enthält und 11 Texte von Zehelein aus den Jahren 1980 bis 2000 zusammenfaßt, die meist in Programmheften oder im Stuttgarter Opernjournal im Zusammenhang mit bestimmten Inszenierungen erstveröffentlicht wurden, soll mit den Grundsätzen und der Arbeitsweise Zeheleins bekannt machen. Als Leser, der zwar mit dem Musiktheater vertraut ist, aber Zeheleins Arbeit selbst nie erleben konnte, muß ich konstatieren, daß diese Aufgabe nur sehr unvollkommen erfüllt wird, daß die Anschaulichkeit gering ist und daß die Sinnlichkeit musiktheatralischer Realität wenig Widerspiegelung findet. Insofern erreicht die Publikation bei weitem nicht die Standards, die durch Melchinger, Felsenstein oder Herz gesetzt wurden.

Das ist ein Urteil über das Buch, beileibe nicht über die Arbeit Zeheleins, die ganz sicher ähnlich gute, präzis, lebendig und anschaulich beschreibende Chronisten verdient, wie sie zum Beispiel Harry Kupfer mehrfach gefunden hat. Immerhin erhellt, daß sich Zehelein früh vom konventionellen Operntheater und von einem Dramaturgendasein lossagte, daß sich in PR-Arbeit erschöpfte (Programmhefte, Vorträge). Er fühlte sich als eine Art Archäologe, der - sich jedem Werk fragend und forschend nähernd - Schicht für Schicht abträgt, um den Urgrund bloßzulegen und die konventionelle Sicht durch neue, zeitgenössische Erkenntnisse zu ersetzen und dann - quasi als „Produktionsdramaturg“ - zum Mittler zwischen Text und Partitur einerseits und der Szene andererseits zu werden. Er unterschlägt dabei die Schwierigkeiten nicht: Wenn ein Werk auf den Spielplan gesetzt wird, kann man seine „Ergiebigkeit“ nur erahnen, die eigentliche „Grabungsarbeit“ und Analyse setzt ja erst viel später, bei der unmittelbaren Vorbereitung der Inszenierung nämlich, ein. Und zweitens kann von den Vorstellungen des Dramaturgen eben nur so viel in die Inszenierung einfließen, wie er dem Regisseur - der von eigenen Bildern bedrängt wird - zwingend vermitteln kann.

Das Buch enthält manche Beispiele für das sensible Aufspüren von Tiefenschichten in Opernwerken durch den Dramaturgen Zehelein, aber Vorschläge für die szenische Gestalt unterbreitet er kaum. Historizistische Inszenierungen, die oft als „werkgetreu“ gerühmt werden, oder pure Feste des Gesangs mit einer Totalisierung des ästhetischen Scheins lehnt Zehelein zu Recht ab. Natürlich will auch er, daß alte Opern als Stücke inszeniert werden, mittels derer man mit dem Publikum auf das gegenwärtige gemeinsame Leben weist. Aber wie ist die Dialektik von nah und fern, die Spannung zwischen Historizität und Aktualität zu bewältigen? Kann man „Cosi fan tutte“ einfach im Coffee Shop nebenan plazieren? Darauf geht Zehelein nicht ein. Wie sah die „Aida“ von Hans Neuenfels, bei der Zehelein als Mitregisseur genannt wurde, in Frankfurt/M. aus, oder der Wagnersche „Ring“ der Berghaus? Man erfährt es nicht.

In dem Buch gibt es ein Foto, da schält ein Mann Kartoffeln. Er steht in einer Wohnküche mit Gasherd und Sofa, hat eine Strickjacke an, eine Schüssel steht auf dem Tisch, und die Kartoffelschalen fallen in einen Emailleeimer. Es würde zu einem Stück von Kroetz passen oder zu „Fuhrmann Henschel“, aber es steht darunter: Richard Wagner „Siegfried“, Stuttgart, 14. November 1999. Sicher weiß auch Zehelein: Wird die Gegenwart dem Werk künstlich aufgepreßt, wird die Tendenz nicht folgerichtig aus dem Stück entwickelt, sondern außerhalb des Werkpegels sichtbar gemacht, dann ergibt das einen Verlust an Logik und Stimmigkeit, an Assoziationsreichtum und Modellhaftigkeit, an Überzeugungskraft und Geschichtlichkeit. Das hat schon Brecht beschäftigt und Felsenstein, Strahler und Brook, Planchon und Chéreau (von Jan Kott zu schweigen), aber darüber handelt Zehelein nicht - dabei geht es um Musiktheater, das weithin von alten Werken lebt. Hochinteressant ist ein Gespräch von Zehelein mit Ruth Berghaus, Michael Gielen und Axel Manthey über „Parsifal“, aber als es um die szenische Umsetzung gehen müßte, ist es beendet. Zehn, zwölf erzählende Szenenfotos, gut kommentiert, hätten Abhilfe schaffen können, aber die gibt es leider nicht. Auch der Stuttgarter Versuch, den „Ring“, der aus vier Werken besteht, vier verschiedenen Regisseuren und Bühnenbildnern anzuvertrauen, hätte wohl beschrieben und ausgewertet werden sollen - ein Statement Zeheleins von der Pressekonferenz vor den Premieren ist einfach zu wenig. Man will doch wissen, ob das Kalkül aufgegangen ist oder nicht.

Zehelein weiß: Wer sich um die Weiterentwicklung der Kunstform Oper müht, braucht engen Kontakt zu zeitgenössischen Komponisten und sollte deren Werken in seinen Plänen großen Raum geben. Zehelein träumt sogar von einem projekt- und prozeßorientierten Labor, das als Forschungs-, Produktions- und Ausbildungsstätte ein „Forum Neues Musiktheater“ sein soll, ein Laboratorium für das Musiktheater des 21. Jahrhunderts mit mobilen Räumen und beweglichen Ensembles, die sich zu unterschiedlichsten Formationen zusammenstellen lassen. Er will nicht im Bestehenden verhaftet bleiben, sondern neue Wege ausprobieren. Im Buch finden sich auch Beiträge Zeheleins zu Hans Zenders „Don Quijote de la Mancha“, zu Wolfgang Rihms „Seraphin“ und zu Luigi Nonos „Al Gran sole carico d'amore“, die in Stuttgart aufgeführt wurden. Sie sind ohne Zweifel interessant, setzen aber leider die nicht sehr verbreiteten Werke als bekannt voraus.

Und gehört nicht auch der Tanz zum „Musiktheater heute“? Daß die Stuttgarter Oper über ein großes, leistungsfähiges Ballett verfügt, für das der Intendant ebenfalls verantwortlich ist, erfährt man nicht. Dafür mutet aktuell an, wie bedroht Zehelein die Opernarbeit durch die Politik sieht: „In der finanziellen Krise der öffentlichen Hand diktiert der Rotstift oft genug die Richtlinien für die Kulturpolitik. Künstlerische Arbeit wird gefährdet, sie ist immer wieder jener Biertischdialektik ausgesetzt, die soziales und kulturelles Engagement gegeneinander ausspielt.“ Er endet mit der Forderung: „Wir müssen einklagen, was durch Abbau bedroht ist: den Erhalt der Orte öffentlicher künstlerischer Arbeit und Auseinandersetzung.“

Die Herausgeberin meint, Zehelein habe den Begriff der Musiktheaterdramaturgie in den vergangenen Jahren etabliert und entscheidend geprägt. Dafür gibt es keinen Beweis. Produktionsdramaturgen gibt es an der Komischen Oper seit ihrer Gründung, seit Ende der fünfziger Jahre wurden sie auch in Leipzig, Weimar, Dresden, Chemnitz, Halle üblich, und wenn ich jemand nennen sollte, der sich als erster um die Theorie verdient gemacht hat, würde ich Horst Seeger nennen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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