Eine Rezension von Horst Klein

Erinnerung an einen namhaften Sozialdemokraten

William Smaldone: Rudolf Hilferding
Tragödie eines deutschen Sozialdemokraten.
Übersetzt von Christel Steinberg.
Verlag J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 2000, 291 S.

Inzwischen sind 60 Jahre seit dem Tag vergangen, an dem Rudolf Hilferding am 12. Februar 1941 im Pariser Gestapo-Gefängnis „Sante“ unter ungeklärten Umständen ums Leben kam. Der am 10. August 1877 in Wien als Sohn eines jüdischen Beamten geborene und spätere Arzt und Nationalökonom gehörte zur jüngeren Generation österreichischer Marxisten, die als „Austromarxisten“ in die Geschichte eingingen. Als Autor des nach dem Marxschen „Kapital“ wohl wichtigsten Werkes der Wirtschaftswissenschaften, des „Finanzkapitals“, sowie des „Prager Manifests“ des Exil-Parteivorstandes der SPD von 1934, der einstige Finanzminister der Reichsregierung von 1923 und 1928, Theoretiker und Politiker der SPD, ist nahezu verschwunden aus dem öffentlichen politischen Bewußtsein. Dies beklagt auch der Autor des hier zu besprechenden Buches, das - wie kein anderes - dem Leser die Biographie und das wissenschaftliche Werk Rudolf Hilferdings nahebringt. Es ist nicht nur ein verdienstvolles Werk der Erinnerung, sondern eine umfassende und interessante Sicht auf die Geschichte der deutschen und internationalen sozialistischen Bewegung in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, des kritischen Hinterfragens theoretischer und politischer Positionen auf deren Leitfähigkeit in einer neuen Welt, die nunmehr von der Globalisierung aller Sphären der Gesellschaft geprägt und aus diesem Blickwinkel zu erklären sei. Dem Autor ist zuzustimmen, daß es wohl bereits eine Art Zustandsbeschreibung der heutigen Gesellschaft ist, wenn sich westliche Historiker stärker auf führende Nazipersönlichkeiten orientieren - „den Gewinnern im Kampf um die Macht - als auf die besiegten Sozialdemokraten“.

Zwei Straßen in Frankfurt a. M. und Zwickau sowie ein Platz in Bremen tragen Hilferdings Namen. Die Nachkriegs-SPD habe wenig Interesse für dessen Art des marxistischen Denkens aufbringen können. Indessen erinnert das kürzlich herausgegebene Gedenkbuch der deutschen Sozialdemokratie im 20. Jahrhundert auch an Hilferding. Problematisch ist allerdings der positive Vergleich des Autors mit dem theoretischen Interesse der SED an Hilferding. Selbst in der ersten Nummer der theoretischen Zeitschrift „Einheit“ der SED, die im April 1946 dem sogenannten Einheitsgedanken der Arbeiterbewegung gewidmet war, galt Hilferding als „Lobredner des Kapitalismus“. Die 1947 gestatte Neuausgabe des „Finanzkapitals“, auf die sich Smaldone lobend bezieht, erschien als Etikett der „Einheitspartei“, und wurde schon ein Jahr später von Fred Oelßner mit dem Buch Der Marxismus der Gegenwart und seine Kritiker im Hinblick auf theoretische Fehler und Quellen für „opportunistischen Sumpf und Abkehr vom Marxismus“ kritisch bewertet. Später gab es nur 1955 eine weitere Neuauflage des „Finanzkapitals“, aber keine positiven Hinweise in Lehrplänen des Ausbildungsfaches Marxismus-Leninismus. Hilferdings Arbeiten befanden sich wie die der Marxisten Otto Bauer, Max Adler, Karl Kautsky und anderer nicht leninistischer Theoretiker auf dem Index. Im Denken vieler Absolventen von DDR-Universitäten hat sich so begünstigt das Zerrbild vom Opportunismus und Revisionismus festgesetzt. Dagegen widmete sich der Rezensent anläßlich des 50. Todestages mit einem Aufsatz den „Gesellschaftsideen Rudolf Hilferdings“ (BzG, H. 1/1991) sowie dem darin explizit enthaltenen Konzept der „Wirtschaftsdemokratie“ (BzG, H. 1/1999).

Smaldone beschreibt kurzweilig den Lebensweg des marxistischen Theoretikers und sozialdemokratischen Politikers in den Kämpfen seiner Zeit, die Dramatik eines oftmals auch mißverstandenen politischen Lebens. In sechs Kapitel gegliedert, werden 1. das österreichische Erbe, 2. das Finanzkapital und der Kampf um die Einheit der Sozialdemokratie, 3. der Revolutionär, 4. der republikanische Theoretiker, 5. der republikanische Politiker und 6. das Damoklesschwert bzw. Faschismus und Tod Hilferdings behandelt. Mit Hilferding nimmt der Leser auch die vielfältigen und von Gegensätzen geprägten Beziehungsfelder in der sozialistischen Bewegung und darüber hinaus zu bürgerlichen Politikern, wie beispielsweise Heinrich Brüning, zur Kenntnis. Ausgewogen skizziert der Autor die private Lebenssphäre Hilferdings und deren Aufgehen im Leben des Wissenschaftlers und Politikers. Der theoriebewußte Leser kann die Kerngedanken des „Finanzkapitals“ bzw. der 1910 erschienenen Studie über die jüngste Entwicklung des Kapitalismus leicht nachvollziehen. Smaldone bezeichnet „Hilferdings Imperialismusanalyse als durchaus überzeugend“, gerade weil sie sich schon aufgrund des historischen Zwischenraums in einigen wichtigen Aspekten von der Marxschen Theorie unterschieden habe und über sie hinausgegangen sei. Obgleich ihr „Wert für das Verständnis der heutigen Weltwirtschaft“ begrenzt sei, „doch 1910 stellte sie eine wichtige theoretische Weiterentwicklung dar“. Indem Hilferding „die Marxsche Analyse der Aktiengesellschaft erweiterte und das sich verändernde Verhältnis zwischen Bank- und Finanzkapital herausarbeitete, beleuchtete er entscheidende Aspekte einer wichtigen Phase ökonomischer Entwicklung, die auch heute noch von Bedeutung sind“. Das Finanzkapital habe Hilferdings Ruf eines bedeutenden Ökonomen begründet, „und es bestätigte auch seinen politischen Standort im Lager des marxistischen Zentrums der SPD“; es sei vor allem von denjenigen Parteigenossen rezipiert worden, „die Bernsteins theoretische Prämissen ablehnten, aber auch einer ,radikalen‘ Abkehr von der reformorientierten Parteipraxis abgeneigt waren“. Hilferdings Positionen zu Imperialismus und Krieg, zu seiner Theorie des organisierten Kapitalismus und zur Wirtschaftsdemokratie werden untersucht. Dabei geht Smaldone nicht immer konsequent auf die Primärquellen zurück, und dies hat auch Irrtümer in der Darstellung zur Folge, so zum Beispiel in der brisanten Kriegsfrage als wichtiger Seite der Imperialismusanalyse. Auf die Unvereinbarkeit sozialdemokratischer Werte und imperialistischer Kriegsideologie hatte Hilferding bereits in seinem 1909 in der „Neuen Zeit“ veröffentlichten Artikel „Der Revisionismus und die Internationale“ aufmerksam gemacht. So schrieb er: „Die Gewinnung des Volkes für die imperialistische Ideologie“ sei für die Herrschenden „zu einer Frage der Macht“ geworden. Die Antikriegsposition Hilferdings ist zwar für den Autor unstrittig, allerdings thematisiert er einen Gegensatz zu Otto Bauer, den er als „leidenschaftlichen Befürworter des Krieges“ bezeichnet, was aber grundsätzlich nicht zutrifft. Hier folgt Smaldone offenbar der fälschlicherweise von Lenin in die Sekundärliteratur eingebrachten Darstellung. Richtig ist, daß Otto Bauer zu den konsequenten Kriegsgegnern in Österreich bzw. in der II. Internationale gehörte. Neben Liebknecht, Luxemburg, Friedrich und Max Adler war er einer der wenigen, denen es gelang, tiefer in die sozialen Ursachen und Ziele der Kriegspolitik vorzudringen. Er charakterisierte „die kapitalistische Staats- und Gesellschaftsordnung“ als „die aller Kriege letzte Wurzel“. Ebenso setzte er sich in der von ihm verfaßten „Erklärung der ,Linken‘“ kritisch mit der kriegsbejahenden Haltung seiner Partei auseinander, um sie zur Rückkehr auf sozialdemokratischen Boden zu bewegen. Bauer, der wie andere Antikriegslinke auch sofort bei Ausbruch des Krieges einberufen und an die russische Front geschickt wurde, geriet bereits 14 Tage später beim ersten Gefecht in Gefangenschaft. Zwei Jahre galt er als vermißt, im Herbst 1917 kehrte er nach Wien zurück, noch immer als Wortführer der Linken.

Indessen vermittelt Smaldone einen weitgehenden Einblick in die schwierige Problematik der Sozialisierung. Hilferding war Mitglied der 1918 berufenen Kommission. Für ihn habe Sozialisierung das bedeutet, „was er als langen und komplexen Vorgang beschrieb, ,die allmähliche Überführung der gesamten Produktion in die Verfügungsgewalt der Gemeinschaft‘“. Hilferding habe sich im Unterschied zu seinen ursprünglichen Forderungen gegen eine sofortige Verstaatlichung der Banken ausgesprochen, weil er das private Bankkapital im Interesse der wirtschaftlichen Stabilität Deutschlands für wichtig gehalten habe. Andererseits sei er für die gesellschaftliche Kontrolle über solche Rohstoffe wie Kohle und Stahl eingetreten. Auch habe er sich gegen eine Sozialisierung der gesamten Wirtschaft gewandt. Diese Gedanken wie auch die der namhaften sozialistischen Theoretiker machen deutlich, mit wieviel Unsicherheiten theoretische Konzepte der Sozialisierung damals besprochen wurden, nicht zuletzt beeinflusst von negativen russischen Erfahrungen. Smaldone beleuchtet auch, wie kurzlebig Sozialisierungsvorstellungen waren, weil die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse letztlich den scheinbar machbaren Ideen widersprachen bzw. die guten Ideen von den negativen politischen Machtverhältnissen der Weimarer Republik eingeholt wurden.

Ausführlich schildert der Autor die Rolle Hilferdings als Parteipublizist und Herausgeber der theoretischen Zeitschrift „Die Gesellschaft“. Er habe es wie sein Mentor Kautsky als seine Pflicht angesehen, „den marxistischen Standpunkt der Partei zu formulieren und zu verteidigen; das galt für Angriffe von rechts und von links gleichermaßen. Hilferdings Haltung sei ähnlich wie die Kautskys gewesen: „Auch er war zutiefst überzeugt von der materialistischen Geschichtsauffassung und von der Rolle, die dem Proletariat darin zugesprochen wurde.“ In der Weimarer Republik sei es Hilferding gewesen, „der diese theoretische Perspektive artikulierte, die sowohl für das Selbstverständnis der Bewegung als auch für seine persönliche Identität von zentraler Bedeutung war. Was einzelne Fragen sozialdemokratischer Theorie und Praxis anging“, so habe er sich durchaus flexibel gezeig. „Angriffen auf die Grundlage seiner Weltsicht jedoch begegnete er mit Widerstand.“ Er habe an dieser Weltsicht festgehalten, bis die Ereignisse von 1933 sein Vertrauen in sie unwiederbringlich zerstörten.

Ganz so zerstörerisch auf Hilferdings Weltsicht wirkte wohl die nationalsozialistische Machtergreifung nicht. Der weitsichtige Theoretiker, der bereits maßgeblich am Görlitzer (1921) und Heidelberger Parteiprogramm (1925) mitarbeitete, bekam 1933/34 vom SPD- Exil-Parteivorstand (SOPADE) den Auftrag, das Parteiprogramm zu überarbeiten. Sein Entwurf, der die Zustimmung einer Mehrheit im Vorstand fand, ging letztlich als „Prager Manifest“ in die sozialdemokratische Parteigeschichte ein. Zutreffend bezeichnet Smaldone das „Prager Manifest“ als „die radikalste programmatische Erklärung, die die SPD je herausgegeben“ habe. „Mit der Begründung, im Kampf gegen die nationalsozialistische Diktatur gebe es keine Kompromisse, sei also für Reformismus und Legalitätskurs kein Platz, forderte das Manifest ,die Eroberung der Staatsmacht, ihre Festigung und Behauptung zur Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaft‘. Der alte Parteiapparat könne diese Aufgaben angesichts der veränderten politischen Lage nicht erfüllen. Daher sei es notwendig, die SPD von einer reformistischen in eine revolutionäre Organisation umzuwandeln.“ Hilferding habe sich auch für ein klassenübergreifendes Bündnis gegen den Faschismus ausgesprochen.

Smaldones Arbeit beleuchtet auch durch eine breite sekundäre Quellenerschließung die internationale Reflexion und Rezeption des Hilferdingschen Erbes. Sie frischt Geschichtskenntnisse auf und vermittelt neues Faktenwissen zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Sie zeigt auch sehr eindringlich, wie bedeutsam und unverzichtbar die biographische Forschung für ein möglichst umfassendes Geschichtsbild ist.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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