Eine Rezension von Gerhard Keiderling
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Erinnerungen an die Zeit zwischen 1933 und 1950

Jürgen Kleindienst (Hrsg.): Heil Hitler, Herr Lehrer!
Kindheit in Deutschland 1933-1939.
50 Geschichten und Berichte von Zeitzeugen.
JKL Publikationen, Berlin 2000, 360 S.

Ders. (Hrsg.): Lebertran und Chewing Gum.
Kindheit in Deutschland 1945-1950.
55 Geschichten und Berichte von Zeitzeugen.
JKL Publikationen, Berlin 2000, 361 S.

Mit den vorliegenden Bänden wird die Reihe „Zeitgut“ fortgesetzt (vgl. Berliner Lesezeichen Heft 1 und 10/2000). Sie will - wie der Herausgeber betont - „die klassische Geschichtsschreibung durch Momentaufnahmen aus dem Leben der betroffenen Menschen“ ergänzen. Im Grunde handelt es sich um Geschichtserzählung, die die Alltagsgeschichte jener Perioden aus individuellem Erleben festhält und somit einen selbständigen Platz beansprucht. Da die Jahre 1933-1939 und 1945-1950 schon in früheren Bänden behandelt worden sind, handelt es sich bei den Vorliegenden um Supplemente. Der Vergleich der Verfasserverzeichnisse läßt den Schluß zu, daß der Herausgeber - wohl im Interesse des Seriencharakters - die Erinnerungsberichte bedarfsweise „stückelt“. An diesem Ort ist schon früher auf die Problematik solcher Handlungsweise hingewiesen worden. Nicht nur, daß Lebenswege „zerhackt“ werden, die Teilstücke gewinnen nolens volens auch einen trivial-idyllischen Charakter, was wohl nicht beabsichtigt ist.

Heil Hitler, Herr Lehrer! setzt den früheren Band Pimpfe, Mädels & andere Kinder fort. Als Hitler und seine NSDAP an die Macht kommen, beginnt für die meisten Zeitzeugen die Schulzeit. Lehrer in braunen Uniformen, Fahnenappelle, Mitgliedschaft in HJ und BDM bestimmen von nun den Schulalltag. In manchen Elternhäusern gibt es Bedenken und Widerstände, doch allgemein herrscht Begeisterung. „Die vielen Eindrücke bleiben mein Leben lang erhalten“, liest man. Einige wenige erinnern sich an das Schicksal jüdischer Mitschüler und deren Familien. Ihre Kindheit und Jugend schildern die Autoren übereinstimmend als eine Zeit, in der man hoffte, durch Arbeit und Frieden zu einem bißchen Glück zu kommen.

Lebertran und Chewing Gum führt in die Nachkriegszeit. Besatzer und Besetzte, Flüchtlingstrecks, Hunger und Wohnungsnot, Kippenstechen und Schulspeisung, alleinstehende Mütter und aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrende Väter - das und anderes mehr stehen im Mittelpunkt der Erinnerung. Aus den Berichten spricht die Hoffnung, bald aus dem „Schlamassel“ herauszukommen. Im Einzelschicksal erschließen sich Notlage und Aufbruch eines ganzen Volkes.

Noch einmal zum Vorsatz der Reihe „Zeitgut“, die „klassische Geschichtsschreibung“ durch eine autobiographische Perspektive erweitern zu wollen. Solch löbliches Unterfangen setzt einen repräsentativen Querschnitt von Zeitzeugen, sowohl nach sozialen wie auch geographischen Gesichtspunkten, voraus. Daran scheint es trotz der Aufrufe des Herausgebers momentan noch zu mangeln. Für die Nachkriegszeit auffällig ist, daß die Mehrzahl der Berichte westdeutscher Provenienz ist. Wenngleich die Ausgangssituation im Mai 1945 in ganz Deutschland annähernd gleich war, so setzte alsbald eine divergierende Entwicklung in Ost und West ein, die auch die Lebenswege der hier zu Wort Kommenden auseinanderführte. Der Band Lebertran und Chewing Gum vermittelt den Eindruck, daß das Leben in Westdeutschland bald wieder in „normale“ Bahnen geriet: Familie, Essen und Kleidung, Krankheiten, Schule, Spiele und Freundschaften. War es wirklich so? War die Nachkriegsgeneration nach alledem unpolitisiert? Die Mehrzahl der Beiträge dieses Bandes scheint dies für Westdeutschland zu bestätigen. Über Ostdeutschland hingegen erfährt man wenig. Wie soll in Folgebänden das Problem von „hüben und drüben“ behandelt werden?

Beiden hier besprochenen Bänden sind neben zahlreichen Privatfotos eine Zeittafel, ein Ortsregister und Angaben zu den Autoren beigefügt. Allerdings enthält die Zeittafel für Bd. 14 zahlreiche Fehler; auch fällt auf, daß nur kultur- und medienpolitische Ereignisse in den Westzonen genannt werden. Ungeachtet dieser Einschränkungen enthalten beide Bände Kindheits- und Jugenderinnerungen von Zeitzeugen, die ein realistisches Bild von den damaligen Lebensverhältnissen, von den Sehnsüchten dieser Generation wiedergeben.

Die älteren Leser, die diese Jahre selbst miterlebten, werden sich in vielem wiederfinden, und die jungen Leser werden die Texte nachdenklich lesen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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