Eine Rezension von Eberhard Fromm

Plädoyer gegen den Freitod

Helmut Erlinghagen: Selbstmord und Lebenssinn im Atomzeitalter Athenäum, Bodenheim 1994, 244 S.

Dieses Buch legt man mit zwiespältigem Gefühl aus der Hand. Auf der einen Seite ist man gespannt auf die Begegnung mit einem der wenigen deutschen Augenzeugen des Atombombenabwurfs auf Hiroshima. Auf der anderen Seite wird man verprellt durch die oft aufdringliche Polemik gegen den Freitod. Und da der Autor seine persönlichen Erfahrungen und daraus resultierenden Ansichten über den Lebenssinn im Atomzeitalter - denen man über weite Strecken zustimmen muß - direkt mit seinem Kampf gegen den Selbstmord verknüpft, enstehen recht zwiespältige Gefühle beim Lesen.

Aus dem Nachwort des Herausgebers Rudolf Wolfgang Müller sowie dem knappen Lebenslauf und der Bibliographie von Erlinghagen erfahren wir etwas über das Buch und seinen Autor. Helmut Erlinghagen (1915-1987) gehörte seit 1935 dem Jesuitenorden an, erhielt 1945 die Priesterweihe und lehrte nach einem Philosophiestudium in den USA seit 1953 in Japan Ethik. Von 1937 bis 1970 lebte er vorwiegend in Japan. 1971 kehrte er nach Deutschland zurück. An dem vorliegenden Buch arbeitete er seit 1983, wobei bei seinem Tod zwei Fassungen als Manuskript vorlagen.

Erlinghagen hielt sich am 6. August 1945 in Hiroshima auf. 1982 gab er den Band Hiroshima und wir mit Augenzeugenberichten heraus. Ein wichtiges Anliegen seines ethischen Schaffens bestand darin, den Einsatz der Atombombe in Hiroshima und Nagasaki als Verbrechen zu verurteilen und den Lebenssinn im Atomzeitalter darin zu bestimmen, sich verantwortlich für alle lebenden Werte zu fühlen und in die Verantwortlichkeit einbezogen zu sein.

Bereits im Vorwort bekennt sich der Autor zur strikten Ablehnung jeglicher Art von Freitod, der für ihn als Selbstmord quasi den universalen Untergang vorexerziere. Aus dieser Sicht heraus wird der Selbstmord in der Philosophie untersucht, wobei die Positionen von Sokrates und Plato über Thomas von Aquin, David Hume, Kant und Schopenhauer bis Kierkegaard, Nietzsche und Jaspers reichen. Mit Beiträgen zu Camus und Jean Améry schließt dieser Teil des Buches ab. Alle Argumente für einen Freitod werden rigoros verworfen; seine eigene Ablehnung des Freitods begründet der Autor vor allem mit Positionen aus dem Mittelalter und der scholastischen Philosophie.

Im darauffolgenden Abschnitt werden „Gründe gegen den Selbstmord“ vorgetragen. Der Selbstmörder handele prinzipien- und gewissenlos, er sei undankbar, er verstoße gegen die menschliche Natur, Selbstmord sei eine Perversion - das sind einige der Grundaussagen. „Der Gedankenwelt des Selbstmörders verdankt die Menschheit nichts“, lautet das apodiktische Urteil, ihm fehle die sittliche Reife. „Er ist niemals dazu durchgedrungen, das Gute frei von jeder anderen Erwägung allein um seiner selbst willen zu verfolgen. Er blieb ethisch unfertig, ein Torso.“ Einmal abgesehen davon, daß wohl alle Menschen „ethisch unfertig“ bleiben, weil wir sonst alle Heilige wären, verstimmt dieser Rigorismus im Verurteilen, wenn man an solche Persönlichkeiten wie Heinrich von Kleist, Ernest Hemingway, Walter Benjamin oder Cesare Pavese und ihre Werke denkt. Nach Erlinghagen muß man bis zum Tod durchhalten, weil nach seiner Ansicht das Lebensende ja das eigentliche Lebensziel sei, vor dem man keine Fahnenflucht begehen dürfe.

Die abschließenden Ausführungen zu Fragen nach dem Lebenssinn ähneln in weiten Passagen einer Predigt. Mit Gewinn liest man sie leider nicht. Das liegt vielleicht auch daran, daß Erlinghagen meint, daß sich in unserer Zeit ein fundamentaler Umbruch vollziehe, daß nämlich das Primat der Ethik wieder hergestellt werde. Gerade das geschieht doch aber wohl nicht. Die im Vorwort erhobene Forderung, wonach der unaufhaltsamen technologischen Entwicklung eine ihr vorauseilende Ethik entgegengestellt werden müsse, wird eben nicht eingelöst. Im Gegenteil, die moralische Verunsicherung der Menschen nimmt sowohl im öffentlichen wie im privaten Leben zu.

Angesichts der hohen Zahlen von Selbstmorden in allen Teilen der Welt - die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzte für das Jahr 1998, daß von den 54 Millionen Sterbefällen etwa 1,8 Prozent durch Selbstmord verursacht wurden - reichen eine Ablehnung oder gar eine so rigorose Verurteilung wie in dieser Arbeit nicht aus. Dazu ist ein tieferes Eindringen in das Phänomen des Freitodes notwendig.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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