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Christel Berger

Briefe aus dem
20. Jahrhundert

Was wüßten wir alles nicht, hätte es im 20. Jahrhundert keine Briefe gegeben! Und was werden die aus der weiten Zukunft alles nicht über uns erfahren, wenn es im 21. Jahrhundert eine solche Briefkultur wirklich nicht mehr geben sollte? Nur schnell gelöschte E-Mails? Die Prognosen geben langen Briefen auf feinem Papier an den geschätzten Freund, der das wertvolle Gut natürlich für die Nachwelt bewahrt und schon bei Lebzeiten ein Archiv anlegt, keine große Chance.

Aber solche Prophezeiungen sind ja nicht neu, sie werden lediglich (?) erhärtet durch die rasanten Möglichkeiten der Technik. Daß beispielsweise der Herausgeber der Briefe aus dem Exil, Prof. Hermann Haarmann, dieser „schleichenden Verabschiedung eines der bedeutendsten Manifeste der Gedächtniskultur“ ... „Widerstand“ ansagen will, ehrt ihn. Wir wären wirklich um einiges ärmer. Die Berufung darauf, daß schon zu Goethes Zeiten dem Briefe der baldige Abschied vorausgesagt wurde, dieser aber auf sich warten ließ, ist freilich ein schwacher Trost. Unbedingt aber sollte man den „ewigen“ menschlichen Tugenden und Schwächen vertrauen - der Liebe und dem damit verbundenen Bedürfnis, sich dem anderen nachhaltig mitzuteilen; der Eitelkeit, etwas Einmaliges sagen zu können und es aufbewahrt zu wissen, dem menschlichen Mitteilungsbedürfnis. Aber was man so im Alltäglichen schnell los werden will, hat wohl wenig papierne Chancen, und insofern wird zumindest die Wandlung der Briefkultur nicht aufzuhalten sein. Um so mehr Grund, genauer zu betrachten, was alles uns dazu das 20. Jahrhundert beschert hat. Hierzu nur einige Splitter aus neuesten Publikationen und zu Beginn noch ein paar kleine Beispiele aus der reichhaltigen „Briefphilosophie“.

Der Biograph Stefan Zweigs Donald A. Prater bezeichnete Zweig als „einen der produktivsten Briefschreiber des Jahrhunderts“. (Und wer den Umfang der Korrespondenzen von den Großen des Jahrhunderts - ich erinnre nur an die von Thomas Mann - ein bißchen kennt, kann sich ein ungefähres Bild von der immensen Zahl von Seiten und Briefen machen, die einen „der produktivsten“ betreffen. Täglich fünf Briefe, und das über Jahrzehnte!) Ebendieser eifrige Briefschreiber, über dessen Korrespondenz noch zu reden sein wird, orakelte 1924: „Eine edle und kostbare Kunst scheint ihrem Ende entgegenzugehen: die Kunst des Briefes. Was sie so wundervoll machte und ihr ein so weit verbundenes Leben, einen so einzigen Reichtum verliehen hat war, daß diese Kunst nicht wie alle andern allein an die Künstler gebunden blieb: Jedem einzelnen Menschen war es gegeben, seinen Augenblicken inneren Aufschwungs und einer nur vorübergehend in ihn eingebrochener Beseelung im Briefe Ausdruck zu verleihen. Man gab einem Freunde, einem Fremden, was man vom Tage empfing, ein Geschehnis, ein Buch, ein Gefühl, gab es weiter mit leichter Hand ohne die Prätension eines Geschenkes, ohne die gefährliche Anspannung, für ein Kunstwerk verantwortlich zu sein. So entstanden in vergangenen Zeiten zahllose kleine Wunder der Wahrheit in einer stillen Welt, in der noch der Brief bindende Kraft und die Botschaft von Mensch zu Mensch beschwörende Gewalt hatte.“ Als Vernichter dieser Kunst sah Zweig die Zeitung, die Schreibmaschine und das Telefon. Seine eigene Praxis ist ein stiller und nobler Kampf gegen diese Vernichtung - „dieses Verlorene zu erwecken, geistigen Dingen den Zwiegesprächston der seelischen Intimität wiederzugeben“. Knut Beck, Jeffrey B. Berlin und (bei den beiden ersten Bänden) Natascha Weschenbach-Feggeler sitzen seit Jahren an der höchst verdienstvollen Arbeit, die Briefe Stefan Zweigs herauszugeben. Bisher gibt es drei dicke Bände (bis 1931), ein vierter und letzter wird mit Spannung erwartet.

Doch zuvor noch eine Meinung aus dem 20. Jahrhundert zum Briefeschreiben, wieder von einem großen Briefeschreiber, der sich zwar auch an der Technik der Kommunikation reibt, aber seine Einwände gehen tiefer: Er, der seismographisch und radikal zugleich auf dieses sein Jahrhundert reagierte, zweifelte an der Wahrheit, der Wahrhaftigkeit der Botschaft: „Die leichte Möglichkeit des Briefeschreibens muß - bloß theoretisch angesehen - eine schreckliche Zerrüttung der Seelen in die Welt gebracht haben. Es ist ja ein Verkehr mit Gespenstern und zwar nicht nur mit dem Gespenst des Adressaten, sondern auch mit dem eigenen Gespenst, das sich einem unter der Hand in dem Brief, den man schreibt, entwickelt oder gar in einer Folge von Briefen, wo ein Brief den andern erhärtet und sich auf ihn als Zeugen berufen kann. Wie kam man nur auf den Gedanken, daß Menschen durch Briefe miteinander verkehren können! Man kann an einen fernen Menschen denken und man kann einen nahen Menschen fassen, alles andere geht über Menschenkraft. Briefe schreiben aber heißt, sich vor den Gespenstern entblößen, worauf sie gierig warten. Geschriebene Küsse kommen nicht an ihren Ort, sondern werden von den Gespenstern auf dem Wege ausgetrunken. Durch diese reichliche Nahrung vermehren sie sich ja so unerhört. Die Menschheit fühlt das und kämpft dagegen, sie hat, um möglichst das Gespenstische zwischen den Menschen auszuschalten, und den natürlichen Verkehr, den Frieden der Seelen zu erreichen, die Eisenbahn, das Auto, den Aeroplan erfunden, aber es hilft nichts mehr, es sind offenbar Erfindungen, die schon im Absturz gemacht werden, die Gegenseite ist soviel ruhiger und stärker, sie hat nach der Post den Telegraphen erfunden, das Telephon, die Funkentelegraphie. Die Geister werden nicht verhungern, aber wir werden zugrunde gehen.“

Dieser düstere Prophet hieß Franz Kafka. Bekanntlich konnte er in seinen Briefen an Milena oder auch an Felice sehr genau beschreiben, was er im Augenblick des Schreibens fühlte, was er dachte, und in Briefen gab es auch Pläne für ein Zusammensein. Aber: Der Augenblick ist flüchtig, und in der Enge eines Prager Zimmers ist ein Plan immer etwas anderes als dessen Realisierung in einer lauten, brutalen Welt. Wir wissen es durch die Briefe: Kafka riß förmlich vor tatsächlichen Begegnungen mit den geliebten Briefpartnerinnen immer wieder aus, er konnte in der Nähe nicht ertragen, was er sich in der Distanz ausgemalt hatte. Die Gespenster in den Briefen träumten eine Welt, die es für ihn nicht gab. Aber: Hätten wir Leser seine Briefe nicht, verstünden wir den Autor und sein Werk um einiges weniger!

Anders, aber nicht minder interessant, bei Stefan Zweig: Es gelang mir nie, in dem Autor von manchmal etwas schwülstigen Novellen („Amok“, „Brief einer Unbekannten“, „Verwirrung der Gefühle“) , die ich als Backfisch unter der Bettdecke las, und dem Verfasser historisch genauer Studien zu den verschiedensten Persönlichkeiten der Welt- und Kulturgeschichte (Erasmus und Balzac, Dostojewski und Tolstoi, Freud und Fouchet und und ...) mir ein und denselben vorzustellen. Ich hielt ihn kraft seiner Freundschaft zu Romain Rolland für einen Unbestechlichen, einen zu früh gekommenen Europäer. Aus Dokumenten anderer wußte ich, daß sein Selbstmord (gemeinsam mit seiner zweiten Frau) 1942 im brasilianischen Exil selbst denen, die ihn gut kannten, ein Rätsel war, da seine Position im Vergleich mit vielen anderen Emigranten ungleich günstiger gewesen war: Die Brasilianer hatten ihn als einen großen Literaten aufgenommen, ja gefeiert, seine neuen Arbeiten wurden verlegt und auch bezahlt. (Thomas Mann schrieb in diesem Zusammenhang an Stefan Zweigs erste Frau Friederike: „War er sich keiner Verpflichtung bewußt ... gegen die vielen Schicksalsgenossen in aller Welt, denen das Brot des Exils ungleich härter ist, als es ihm, dem Gefeierten und materiell Sorglosen, war? Betrachtete er sein Leben als seine Privatsache und sagte einfach: Ich leide zu sehr. Sehet ihr zu. Ich gehe.“)

Nun kenne ich dank der Arbeit der Herausgeber seine Korrespondenz von 1897 bis 1930, und damit weiß ich viel mehr über diesen Mann als vorher. Aber er behält seine Widersprüchlichkeit, ja sie ist durch die Kenntnis der Briefe facettenreicher geworden.

Als junger, in der literarischen Welt noch unbekannter Mann, der dank des Reichtums seiner Eltern keine Geldsorgen hat, versucht sich Zweig ein bißchen anbiedernd, aber immer kenntnisreich und sicher im Urteil, was das Werk des andern betrifft, mit Briefen auf sich hinzuweisen, auf sich aufmerksam zu machen. So schreibt er an Walter Dehmel, an Hermann Hesse, an Rainer Maria Rilke, Hugo von Hoffmannsthal, Hermann Bahr u. a. Bei manchem findet er Interesse, und es kommt zu langjährigen Korrespondenzen, engeren Bekanntschaften, ja Freundschaften. Der junge Mann ist offensichtlich auf dem laufenden, was Neuerscheinungen betrifft, und bald bekennt er auch seine „Favoriten“. Ist es erst vor allem Emile Verhaeren, wird es dann Romain Rolland. Mit beiden korrespondiert er, für beide tut er viel, um deren Werk im deutschsprachigen Raum bekannt zu machen. Er übersetzt Verhaeren, initiiert Übertragungen anderer, die Publikation von Anthologien. Schreibt selbst Abhandlungen über Leben und Werk der von ihm Verehrten. So wird er trotz seiner Jugend ein für die literarische Welt wichtiger Mann: Indem er das ihm zu enge „Wienerische“ mit der Hinwendung zum Europäischen, ja zum Weltbürger zu überwinden sucht, wird er selbst zum Mittler zwischen Kulturen, oder auch nur Personen, deren Staaten bald im wütenden Krieg miteinander liegen werden. Und dieser Erste Weltkrieg ist für die „Freunde“ Rolland, Masereel, Verhaeren und Stefan Zweig eine große Prüfung, die wohl trotz anfänglicher Gefährdungen vor allem dank der konsequenten Haltung Romain Rollands letztendlich bestanden wird. Zweig aber taumelt am Anfang wie viele andere mit im Rausch der beleidigten Deutschen, die es den Franzosen, die es doch zu arg getrieben haben, geben werden. Später will er davon nichts mehr wissen, ja er verleugnet selbst denen gegenüber, denen er nationalistische Briefe schrieb, seine einstige Haltung. Das alles immer in wohlgemessenen Formulierungen, wie es überhaupt besticht, wie er etwas begründet. Selbst in der Nicht-Übereinstimmung mit dem Briefpartner (man lese hierzu vor allem die Auseinandersetzung mit Martin Buber über das Judentum!) findet er die Form, um ein partnerschaftliches Verhältnis über prinzipielle Meinungsunterschiede hinweg zu bewahren. Und immer ist er sich des Briefpartners bewußt, schreibt nur für ihn, ein „Rundbrief“ wäre ihm ein Greuel!

Mehr und mehr entwickelt er sich noch während des Krieges zu einem leidenschaftlichen Kriegsgegner, der über nationalistischen Interessen steht. Demgemäß ist sein Briefwechsel - verstärkt in dieser Zeit mit dem „Gewissen Europas“, Romain Rolland, darauf gerichtet, sich mit Gleichgesinnten (nun auch mehr mit Künstlern seiner und jüngerer Generationen) zwar nicht zu vereinen (derartige „Bünde“ werden ihm mehr und mehr suspekt), aber zu verständigen. Die Autoren der Briefbände haben gut entschieden, die kurze Zeitspanne von 1914 bis 1919 in einem Band, dem zweiten, zu versammeln.

Der dritte und bislang letzte Band umfaßt dann die Zeit von 1920 bis 1931. Diese Jahre waren Stefan Zweigs produktivste und erfolgreichste. Was er gesät hatte, konnte er nun ernten. Was er sich - auch über Irrtümer und schmerzliche Einsichten - zu Lebensmaximen gemacht hatte, konnte nun in ein vielfältiges literarisches Werk - eine ganze eigene „Welt“ - eingehen, deren Bau einen umsichtigen und klugen Architekten verriet. (Und er „baute“ diese Welt nicht nur literarisch, denn auch die Kommunikation in der Gemeinschaft „freier Geister“ war der Versuch, eine andere Welt zu schaffen!) Nicht mit großen Pamphleten und Komitees arbeitete er, wie es Mode wurde. Zweig wollte dem europäischen Gedanken dienen vor allem im Austausch geistigen Reichtums. Er sorgte weiterhin mit seinen Arbeiten - Übersetzungen, Biographien und Interpretationen - dafür, daß z. B. der Belgier Emile Verhaeren und der Franzose Romain Rolland im deutschsprachigen Raum bekannt wurden, ihre Kunst und Ideen Anhänger fanden. So fuhr er beispielsweise im Oktober 1920 in Deutschland von Stadt zu Stadt und hielt Vorträge über Rolland. Seine Leserschaft war mittlerweile so angewachsen, daß Neuerscheinungen seiner Novellen schon nach den ersten Tagen Tausende von Käufern fanden. Seine Stücke wurden mehr und mehr von den wichtigsten Theatern in Deutschland und Österreich angenommen. Seine historischen Miniaturen und Lebensbildnisse bedeutender Persönlichkeiten wurden um immer neue Beispiele kreativer Möglichkeiten bereichert. Neben den Arbeiten über Verhaeren, Rolland, Masareel, Tolstoi, Dostojewski fand Zweig immer neue Gründe, bestimmte menschliche Schaffensweisen mit Porträts ihrer typischen Vertreter vorzustellen bzw. vorstellen zu wollen (nicht alle Pläne wurden verwirklicht!) - beispielsweise Der Kampf mit dem Dämon (1925 - Hölderlin, Kleist, Nietzsche) oder Die Heilung durch den Geist (1930 - Mesmer, Mary Baker-Eddy, Freud) oder Die Besessenen des 19. Jahrhunderts (Van Gogh, Strindberg, Poe, Blake - nicht verwirklicht), Die großen Seher (Plato, Dante, Goethe, Shakespeare - nicht verwirklicht). Zweig gelang es immer mehr, biographische Fakten mit psychologischen Deutungen zu verbinden, und so wurde er „der Seelenjäger, der sich den gefährlichen Schlüssel Freuds zu eigen gemacht hat“ (Rolland über ihn). Doch selbst das war nicht alles an Leistung - in ebendiesen Jahren war er auch ein umsichtiger Berater von Verlagen sowie der Mentor einiger jüngerer Autoren (Pannwitz, Remarque, Ernst Fischer). Er kannte die Neuerscheinungen der Verlage, er knüpfte immer neue Kontakte, lobte fast so facettenreich wie Thomas Mann und verstand es hervorragend, das Kritische so zu formulieren, daß der Kritisierte nicht gekränkt sein mußte.

Der begnadete Briefschreiber blieb er also auch in dieser Zeit der literarischen Ernte. Auch wenn der künstlerische Erfolg förmlich nach neuen Texten schrie, die Zeit für die Briefe nahm er sich allemal. Der dritte Band der Auswahlausgabe (!) enthält über 200, meist mehrseitige Briefe an alte und neue Briefpartner: Romain Rolland, Julius Bab, Sigmund Freud, Anton und Katharina Kippenberg, Ludwig Marcuse, Guido Kolbenheyer, Frans Masareel, Maxim Gorki, Franz Werfel, Cläre Goll u.a. Natürlich schreibt er auch seiner Ehefrau Friderike ausführlich, wenn sie nicht beieinander waren.

Auch wenn Stefan Zweig mit den meisten der Briefpartner freundschaftlich verbunden war, direkt private Briefe hat dieser äußerst diskrete und wohl auch selbstdisziplinierte Mann kaum geschrieben. (Wer ganz genau liest, findet kurze Andeutungen über unproduktive, gar depressive Phasen, hin und wieder blitzt ein Stückchen Privatleben durch!) Seine Welt war die des Geistes, und so finden wir im vorliegenden Band ein ganzes Kompendium an Themen, die die damaligen Zeitgenossen bewegten: die Inflation und neu erschienene Bücher, neue wissenschaftliche Darstellungen und das Phänomen des sozialistischen Experiments in Rußland, das Anwachsen des Faschismus („Mir graut manchmal vor der rasenden Torheit dieses Weltfacismus, vor dem brutalen Triumph der Gewalt: er wird das Ideal der nächsten Generation sein und der Fußballenthusiasmus wird bald einem böseren Furor weichen.“ 1923 an Franz Servaes!), Meinungen über die Besonder- und Wesenheiten des Jüdischen, über Sinn und Absicht von Literatur oder über das Deutsche, die Deutschen und das Ziel Europa. Es wäre ein leichtes, mit so manchem wirklich interessanten Zitat Stefan Zweigs Aktualität zu beweisen. Er hatte dabei durchaus keine Illusionen, was die Borniertheit vieler betraf. Aber er hatte damals noch die Kraft, an der „Besserung der Menschheit, dieses schleimigen Tausendköpflers“ mitwirken zu wollen. „Der ,Wahn‘ gehört eben unweigerlich in die magische Mixtur der Existenz und so wie wir selbst uns einen aus Worten, Religionen, Philosophien brauen, benötigt wohl auch die Menschheit den ihren ... Diesen Wahn immer neu zu erfinden, ist für mein Empfinden die einzige Aufgabe der sogenannten Geistigen.“ Dies war sein Credo - auch für ein grenzenloses Europa, dessen Notwendigkeit er ganz nüchtern als Überlebenskonsequenz gegenüber den USA sah. Aber was er dann für „europäisch“ hält, zeigt ihn als „Geist“ seiner Zeit: „Wichtig ist nur, daß die Kultur, der Geist erhalten bleibe, und hier ist die eigentliche Aufgabe aller wirklichen Deutschen und nicht in der Politik.“ Erst im Detail wird deutlich, daß über Europa denn doch vor achtzig Jahren anders nachgedacht wurde als heute, und leider muß man sagen: Der Wegfall solcher Gedanken ist kein Gewinn für die Gegenwart.

Nicht nur da erscheint Zweig als Rufer in einer Welt, die vergangen ist und deren Werte nicht aufgehoben werden konnten. Bekanntlich heißt seine Autobiographie, die erst nach seinem Tod erschien, Die Welt von gestern, und es wird im vierten Band keine leichte Lektüre werden mitzuerleben, wie Zweig sich das, was er für eine Zukunft erträumte, wofür er sich eingesetzt hatte, für unwiederbringlich vergangen erkennt. Auch die Frage Thomas Manns an Friederike Zweig, wann und wodurch Stefan Zweig aufgehört hat, als „moralische Instanz“ wirken zu wollen und sein Leben „als Privatsache“ zu betrachten begann, wird vielleicht ein paar Teilantworten finden. Da die Autobiographie vor allem - wie die Herausgeber der Briefe richtig schreiben - „ein Buch der Erinnerung an das Selbstverständnis und an die Erfahrung seiner Generation ist“, ist mit der Briefausgabe zu Recht das weitaus mehr persönliche Bild eines Großen dieses Jahrhunderts nachgereicht worden, von dem Arthur Schnitzler - wenn auch noch in der Zeit der Jugend - dennoch wiederum zu Recht sagen durfte: „Er hat gute Tendenzen; ist gewiß nicht ein ,wahrhaftiger‘ oder gar reiner Mensch. Zutiefst ist in ihm ein Stück Renegatentum.“

Die Fülle des Buchmarktes bringt es mit sich, daß man eine Art Fortsetzung der Lektüre findet in dem von Hermann Haarmann herausgegebenen Band Abschied und Willkommen. Briefe aus dem Exil (1933-1945). Wieder eine Auswahl von Briefen, und es finden sich auch Briefpartner Stefan Zweigs darunter. Wie dieser gingen viele Gleichgesinnte weg aus Nazideutschland (während einige wenige, darunter sein alter Freund Guido Kolbenheyer, Karriere machten, z. T. sogar mit Büchern, die Zweigs Gefallen gefunden hatten! So kompliziert war es also!). Julius Bab, Ludwig Marcuse, Franz Theodor Csokor, Ferdinand Bruckner - durchaus der „Briefwelt“ Stefan Zweigs zugehörig - sind neben Alfred Kerr, Arnold Zweig, Johannes R. Becher, Fritz Kortner, Alexander Granach, Erwin Sinko, Friedrich Wolf u. a. nun die Absender von Briefen, die davon berichten, wie es dem einzelnen im Exil erging. Von einer „Briefkultur“, die sich mit Genuß über die geistigen Dinge dieser Welt ausläßt, ist nun keinesfalls mehr zu sprechen. „Briefschreiben bleibt scheußlich“, schreibt Alfred Kerr 1941, für den Briefe ein literarisches Genre waren, mit dem er sich vor 1933 seinen großen Ruf erarbeitet hatte. Die jetzige Not beim Briefschreiben gibt diesen Alltagstexten, die nicht zur Veröffentlichung vorgesehen waren, ein ganz eigenes Gewicht und eine moralische Dimension, der man sich nicht entziehen kann. Hermann Haarmann versteht jeden Brief als „ein sprechendes Zeichen vergangener Lebenswelten“, und unter ebendiesem Gesichtspunkt sind die Briefe ausgewählt. Erzählt wird in den Briefen von den meist mühseligen Versuchen, entweder Arbeit oder Geld im Gastland zu finden, schlichtweg „all die Fragen des praktischen Lebens“, wie Arnold Zweig schreibt, sind das Hauptproblem vieler, die sich im „normalen Leben“ in der Heimat meist überhaupt nicht damit zu beschäftigen brauchten. Wie Hoffnung allmählich aufgebraucht wurde, beschreibt Oskar Maria Graf 1942 aus den USA: „Jeder meiner Kollegen, der hierherkam, glaubte, er würde hier schon irgendwie mit seiner Schriftstellerei durchkommen, manche hatten sogar kleine anfängliche Erfolge, dann aber schnitt es auf einmal ab, und so geht's - außer den paar ganz prominenten - allen!“ Graf empfindet das als Bewährungsprobe, was nicht jeder schafft. Das Alleinsein und die Isolierung ist ein weiteres Thema, der Verlust von Freunden („Längst braucht man nicht mehr alle zehn Finger, um die Menschen zu zählen, die zählen“ - Bruno Frank), auch die Querelen innerhalb der Exilanten klingen an, und besonders erschütternd sind die Berichte über die, die es nicht ausgehalten haben und Selbstmord begingen. „Daß man am Leben so vollkommen verzweifeln kann, daß weder Marx noch Frau noch Kampf uns erstrebenswert und zweckvoll erscheinen - diesem Schauspiel haben wir gerade beigewohnt.“ (Erwin Piscator über den Tod von Ernst Toller.) Die Nerven bei vielen lagen bloß, denn es ging ja wortwörtlich ums Überleben. Fritz Kortner drückt es in seiner Bitte um Hilfe wohl am eindringlichsten mit folgendem Bild aus: „Du mußt so handeln, so intensiv, so unzimperlich, als ob Du um ein Kind Angst hättest, und vor etwas Schrecklichem bewahren möchtest. Nimm es wörtlich.“

Der Herausgeber hat die Briefe chronologisch (mit einer leider zu knappen Kommentierung versehen, selbst die Angabe der Orte bzw. Länder, an denen der Brief geschrieben wurde und wohin, fehlt, wenn er nicht im Brieftext angegeben ist) angeordnet. Es gibt auch keine spezielle Unterscheidung nach Exilländern. Dennoch fällt in der Gruppe der sowjetischen Exilanten die anfängliche Euphorie darüber (Granach, Kurella, Friedrich Wolf) auf, daß hier das „Willkommen“ mit Gebrauchtwerden, mit Arbeit verbunden scheint. Die späteren Warnungen, lieber nicht dorthin zu kommen, sind sehr versteckt und dennoch deutlich. Eines der bewegendsten Zeugnisse dann der Brief Heinrich Vogelers aus einer Kolchose, in der er hungernd, frierend, krank und mittellos vegetiert (und schließlich stirbt), alleingelassen von den Genossen, die Härte und Mitleidlosigkeit der „neuen“ Menschen erfahrend.

Der Band erschien innerhalb der Reihe „akte exil“, eine Schriftenreihe des Instituts für Kommunikationsgeschichte und angewandte Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin. Selten hat mich ein Buch der Wissenschaft so aufgeregt wie dieses. Daß diese emotionale Wirkung mit zum Anliegen der Herausgeber gehört (und nicht etwa Vollständigkeit, thematische Abgegrenztheit oder irgendeine andere „wissenschaftliche Tugend“), verdient meine besondere Anerkennung!

Fast gleichzeitig mit den Briefen aus dem Exil erschien ein weiteres Buch, ebenfalls mit Briefen aus dem Exil: Elisabeth Marum-Lunau: Auf der Flucht in Frankreich.

Der Unterschied besteht diesmal darin, daß es sich um die Korrespondenz einer in der Öffentlichkeit weiter nicht bekannten Familie handelt, daß Zeitraum und Exilland eingegrenzt sind. Dennoch geht es auch hier - noch intensiver - um den Alltag des Exils, ums Überleben. Die emotionale Wirkung ist nicht weniger groß.

Die geistige und moralische Leitfigur dieser Familie war der Reichstagsabgeordnete Ludwig Marum - Jurist, Sozialdemokrat und nach nazistischem Rassengesetz Jude, der bereits im März 1934 im Konzentrationslager Kislau umgebracht wurde. Dessen Frau Johanna und seine drei Kinder Elisabeth, Hans und Brigitte sowie deren Partner Heinz, Sophie und Peter befanden sich 1939 - unterschiedlich situiert - im Exil in Frankreich. Wie alle Exilierten traf sie der Kriegsausbruch, das hieß konkret erst einmal die Aufforderung an die männlichen „Staatsangehörigen des deutschen Reiches“ (auch wenn sie ausgebürgert waren!), sich in Sammelstellen zu begeben. Später wurde das auch auf die Frauen erweitert. Was folgte, waren Internierung, Untersuchung der einzelnen Fälle, Trennung von Familien und Partnern, plötzliches Sich-Finden in irgendeinem der großen Lager, wieder Trennung und immer verzweifeltere Versuche, dem Lager oder den eingerückten Deutschen zu entgehen. In der Familie Marum gelang einem Teil die Flucht nach Amerika bzw. Mexiko, während die jüngste Tochter Brigitte und deren Freund Peter Holländer umkamen. Zählt man zu diesem Kreis der Familie auch Geschwister und deren Ehepaare sowie die Eltern und Kinder, kommt man auf 50 Personen. 20 von ihnen wurden Opfer nazistischer Rassenpolitik. Nur vier von fünfzig haben die Jahre von 1939-1945 „vor Ort“ überlebt.

Nur Briefe können das, was dieses Buch leistet: Authentizität pur. Wie es unerfunden wirklich war, was im einzelnen gedacht, gehofft, getan wurde, was es zu essen gab und wie die Bedingungen in den einzelnen Lagern und gar für die Ausreise waren, erfährt man so authentisch wie noch nie aus dieser Dokumentation der Briefe der sieben Familienmitglieder. Kein Exil-Roman - auch nicht das von mir hochgeschätzte Transit der Seghers - kann das ersetzen, was diese nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Briefe an Details und Exilerlebnissen und Gefühl für Zeit und Lage zutage fördern. Die Freude über eine Dusche oder die Sorge um neue Schuhe. Die Zurückhaltung, der Liebsten die Wahrheit über das eigene Ergehen zu sagen. Die Gerüchte. Die Stimmungen. Dabei ist diese Familie ein Glücksfall, was Differenziertheit und Charaktervielfalt betrifft. So unterscheidet sich das Schicksal der kommunistischen Familie des Sohnes Hans erheblich von dem seiner Schwester Elisabeth. Wieder ganz anders die beinahe sorglose und noch sehr junge Brigitte! Und selbst in dieser Zeit und Situation wurden Babys geboren, und deren Eltern haben sich gefreut! Fast unvorstellbar und doch nicht erfunden!

Elisabeth Marum-Lunau (1998 in New-York verstorben) hat die Briefe in jahrelanger Arbeit gesammelt, gehütet, zuletzt unterstützt von ihrer Schwägerin Sophie Marum. Beide fanden in dem französischen Exilforscher Jacques Grandjonc und in Doris Obschernitzki hervorragende Sachwalter. Etwa ein Zehntel aller erhaltenen Schriftstücke ergeben dieses nun auch in Deutschland erschienene Buch, vorzüglich kommentiert, liebevoll und sachkundig zusammengestellt von den Herausgebern.

Angesichts dieser Fülle von Eindrücken, Gefühlen, Fakten, die diese vergleichsweise wenigen Briefbände bieten, steht die Frage nach dem Widerstand gegen einen möglichen Verlust dieser Kultur um so dringender. Aber da helfen weder Appelle noch Beschwörungen, und per Dekret ist überhaupt nichts zu machen. Das Vorhandene zur Kenntnis zu nehmen und seinen Wert zu erkennen ist wohl die billigste Konsequenz. Aber auch diese hat zu wenig Freunde, denn die Verlagspraxis bezeugt, daß Briefausgaben ganz selten die „Renner“ im Geschäft sind, zumal die Herausgeber eine immense Arbeit zu leisten haben. Ihnen an dieser Stelle der Dank der - wenn auch zu wenigen - Freunde von Briefausgaben!

Zu:
Knut Beck/Jeffrey B. Berlin/Natascha Weschenbach-Feggeler (Hrsg.):
Stefan Zweig. Briefe. Band 1. 1897-1914; Band 2. 1914-1919, Band 3. 1920-1931.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M.

Hermann Haarmann (Hrsg.): Abschied und Willkommen
Briefe aus dem Exil.
Bostelmann & Siebenhaar, Berlin

Doris Obschernitzki (Hrsg.):
Elisabeth Marum-Lunau: Auf der Flucht in Frankreich.
Der Briefwechsel einer deutschen Familie im Exil 1939-1942.
Ausgewählt und kommentiert von Jacques Grandjonc.
Hentrich & Hentrich, Berlin
Erstausgabe in französischer Sprache: Boches ici, Juifs la-bas. Edisuded Aix-en-Provence 1997


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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