Eine Rezension von Marianne Jonzeck

Belgier im Widerstand

Marion Schreiber: Stille Rebellen
Mit einem Vorwort von Paul Spiegel.
Aufbau-Verlag, Berlin 2000, 352 S.

Eine kühne, eine singuläre Widerstandsaktion gegen den Holocaust: Am 19. April 1943, im Warschauer Ghetto hatte an diesem Tag der bewaffnete Aufstand begonnen, überfielen drei junge belgische Widerständler, der jüdische Arzt Youra Livschitz und seine nichtjüdischen Freunde Jean Franklemon und Robert Maistriau, den von SS-Obersturmführer Kurt Asche befehligten Deportationszug mit der Nummer 20. Er sollte 1631 belgische und nichtbelgische Juden, darunter mehr als 250 Kinder, vom Sammellager Mechelen nach Auschwitz transportieren. Ausgerüstet waren die nach Marion Schreiber „tollkühnen Amateure“ nur mit Zangen, einer Pistole, einer Sturmlampe und einem Bündel mit 50-Franken-Scheinen, die den Flüchtenden ausgehändigt werden sollten. Sie befreiten 17 Frauen und Männer. An diesem denkwürdigen Pessach-Abend gelang insgesamt 231 Deportierten noch auf belgischem Boden die Flucht aus dem Todeszug. Belgier halfen ihnen. „Sie haben uns die Hand gereicht, ohne uns zu kennen“, schreibt die jüdische Aktivistin Claire Prowizur später in ihrem von Marion Schreiber zitierten Lebensbericht.

Schon der Schriftsteller und Publizist Arno Lustiger (geboren 1924) hatte in seiner Dokumentation des jüdischen Widerstandes von 1933 bis 1945, erschienen 1994 bei Kiepenheuer & Witsch unter dem Titel Zum Kampf auf Leben und Tod!, diesen waghalsigen, sowohl von der belgischen Partisanenarmee als auch von zivilen Widerstandsgruppen abgelehnten Befreiungsakt zur Sprache gebracht. Zugleich wies Lustiger auf die „im besetzten Europa seltene Solidarität mit den Juden“ in Belgien hin. In Einzelheiten allerdings unterliefen ihm Fehler. So führten seiner Auslegung nach „die Brüder Dr. Georges und Alexander Livschitz und ein weiterer Kamerad“ die Tat aus. Lustigers Angaben gingen schließlich in der Fülle von Informationen, die seine wertvolle Publikation enthält, unter.

Marion Schreiber (geboren 1942), langjährige „Spiegel“-Korrespondentin in Brüssel, überläßt in ihrer akribischen Rekonstruktion des bisher bei uns kaum bekannten Befreiungsschlages, eingebettet in die Geschichte und Vorgeschichte der belgischen Résistance unter der deutschen Besatzungsmacht, nichts dem Zufall. Ihr stand offensichtlich eine Quellenbasis zur Verfügung (private Dokumente, Akten, Berichte und Protokolle aus der Zeit nach dem Einmarsch der Deutschen in Belgien, Interviews mit Holocaust-Überlebenden und Zeitzeugen), die es ihr ermöglichten, ein lebendiges, ja eindringliches Bild jener Zeit zu entwerfen. Die unverhohlene Sympathie der Autorin für den beispielhaften Widerstandsgeist eines großen Teils der belgischen Bevölkerung gegen das Naziregime überträgt sich auf den Leser. Ihre Bewunderung gilt den jungen Helden der hier anfangs beschriebenen Attacke auf den 20. Deportationszug ebenso wie den „stillen Rebellen“ aus den unter dem Dach der „Front de l'Indépendance“ operierenden Untergrundorganisationen. Sie macht deutlich, daß eine solche Widerstandsaktion wie die geschilderte, eine „Heldentat wider alle Vernunft“, nur in dem besonderen belgischen Zeitklima jener Jahre möglich war.

Daß neben Widerstand und Ungehorsam gegen das Naziregime und seine Verbrechen in Belgien auch Verrat und Denunziation gedeihen konnten, wird nicht verschwiegen. Typen wie der Spitzel Pierre Romanovitch oder der Greifer Icek Glogowski halfen mit, „die Züge nach Auschwitz zu füllen“. Romanovitch lieferte auch die Brüder Youra und Alexander Livschitz, Persönlichkeiten des belgischen Widerstandes, an die Gestapo aus. Beide wurden 1944 erschossen.

Vorangestellt wurde dem Buch ein sehr persönliches Vorwort Paul Spiegels, der selbst dank hilfsbereiter und mutiger belgischer Bürger den Holocaust überlebte. Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland verweist darin ebenfalls auf die besondere belgische Situation in den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft und die Überlebensbilanz der damals in Belgien lebenden Juden: Mehr als 50 % der etwa 60 000 registrierten Juden entkamen der Vernichtung. Allein 4 000 jüdische Kinder konnten gerettet werden.

Mögen auch gründliches Recherchieren und Analysieren hervorstechende Merkmale dieser fesselnden historischen Reportage sein, beeindrucken die psychologisch einfühlsamen Porträts der am Überfall auf den 20. Konvoi beteiligten Hauptpersonen nicht minder. In dem erzählten Geschehen sind sie stets gegenwärtig.

Präzise und unprätentiös ist die Sprache der journalistisch erfahrenen Autorin. Details und einzelne Bildausschnitte bleiben vielleicht gerade deshalb lange haften.

Vorenthalten wird dem Leser eine Zeittafel. Der zeitgeschichtlich Interessierte dürfte konkrete, über die angegebene Bibliographie hinausgehende Quellenangaben vermissen.

Mit 25 Schwarzweißfotos; im Anhang Liste der Deportierten und Bibliographie.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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