Eine Rezension Kurt Wernicke

Historische Anthropometrie

Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte.
Jahrgang 2000, Teil 1.
Akademie Verlag Berlin 2000, 237 S.

Wissenschaftliche Periodika von Weltgeltung gab es auf dem Gebiet der Geistes- und Gesellschaftsgeschichte in der DDR nicht allzu viele - noch weniger haben deren Ende und das Aufgehen dort betriebener Wissenschaft in die gesamtdeutsche Wissenschaftslandschaft überlebt. Die „Neue Museumskunde“ z. B., die bis in die USA und nach Japan hin Beachtung fand und von Museumsleitern der Alt-BRD offen oder weniger offen mit großem Interesse verfolgt wurde, hat nicht überlebt, und ihr seinerzeit international geschätzter Chefredakteur widmet sein Können jetzt dem Zentralblatt der deutschen Brauereiindustrie. Angesichts des schon zu DDR-Zeiten wirklich internationalen Kreises dort anzutreffender Beitragsautoren war bei dem „Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte“ - Publikationsorgan der Hausmacht-Domäne von Jürgen Kuczynski, also dem Institut für Wirtschaftsgeschichte an der (Ost-)Berliner Akademie der Wissenschaften - von vornherein eher mit einer Überlebenschance zu rechnen. Und tatsächlich legt das - natürlich gründlich personell veränderte - Herausgeberteam in schöner Regelmäßigkeit Jahr für Jahr Hefte vor. Angebunden ist das Periodikum jetzt an das Seminar für Wirschafts- und Sozialgeschichte der Universität Köln. Unter den 13 Herausgebern findet sich dann auch - dem Alphabet geschuldet sogar an erster Stelle - ein aus der Wirtschafts- und Sozialgeschichtsforschung der DDR (wenngleich nicht aus der Kuczynski-Schule) hervorgegangener Wissenschaftler: Lothar Baar, in der Berlin-Historiographie bekannt durch seine Dissertation Die Berliner Industrie in der Industriellen Revolution (Akademie Verlag 1966).

Der Band, der als erster in der Erscheinungs-Jahreszahl keine 19, sondern eine 20 vor Jahrzehnt und Jahr trägt, ist thematisch vorwiegend einer Wissenschaftsdisziplin gewidmet, die vor gerade einmal vier Jahrzehnten erstmals als mögliches Betätigungsfeld für Forscher benannt wurde: der Historischen Anthropometrie - d. h. der Feststellung und Vergleichung von physischem Zustand der Menschen durch die Jahrhunderte. Waffen- und Volkskunde haben schon im 19. Jahrhundert anhand von Ritterrüstungen und Bettenmöbeln eine Ahnung geliefert, daß die in der Jetztzeit bei Weißen festgestellte Körpergröße von der in früheren Jahrhunderten üblichen abweichen muß - zu Beginn der Neuzeit waren die Menschen in Europa offenbar kleiner als um 1900. Und daß das 20. Jahrhundert trotz aller Kriegskatastrophen und dadurch ausgelöste Perioden schlechter Ernährung durch sichtbares Körperwachstum und nach vorn wie nach hinten verlängerte Fertilitätsdauer gekennzeichnet ist, muß Zeitgenossen nicht eigens erläutert werden - sie können es in ihrer eigenen Familie mit Händen greifen! Mit dem rasanten Fortschreiten der Sozialgeschichte durch das ganze 20. Jahrhundert sind schließlich auch Daten zur Kenntnis genommen worden, die eine - wenn auch eingeschränkte - Quellengrundlage für seriöse Forschung liefern; eingeschränkt insofern, als Lieferanten für Daten über Körpergröße und sonstigen physischen Zustand von Personengruppen praktisch ausschließlich militärische Einstellungs- und Untersuchungskommissionen liefern, denen der körperliche Allgemeinzustand der künftigen Soldaten keineswegs gleichgültig sein konnte. Hinsichtlich der statistischen Basis für Schlüsse über den Körperzustand von Frauen liegen bis dato nur ganze zwei Zugriffe vor, nämlich Messungen aus dem 18./19. Jahrhundert, die an weiblichen Insassen schottischer Gefängnisse und in Nordamerika an weiblichen Sklaven vorgenommen wurden. Jedoch macht die Einführung naturwissenschaftlicher Meßmethoden Erkenntnisse möglich, von denen die neue Wissenschaftsdisziplin, als sie angedacht wurde, wahrlich nicht zu träumen gewagt hätte: Holger Schutkowski liefert im vorliegenden Band die Ergebnisse einer Untersuchung, die auf der Grundlage von alemannischen Grabfeldern im südwestdeutschen Raum dort geborgene Skelette bzw. Skeletteile chemisch-analytisch auswertet, die auf das 5. bis 8. Jahrhundert zurückgehen. Sie deckt nach anderthalb Jahrtausenden auf, daß infolge höheren Verzehrs von Milchprodukten in gebirgigen Gegenden die körperliche Beschaffenheit der dortigen Bewohner die der Flachlandbevölkerung - die bei höherem Verbrauch von Getreideprodukten weniger tierisches Protein zu sich nahmen - in den Schatten stellte. Ganz Anthropometrist, spart der Autor die naheliegende Konsequenz aus, Tacitus' (eigentlich als Schreckbild gedachtes) Idealgemälde vom hinter dem Limes lauernden „hochgewachsenen“ Germanen deutlich in Frage zu stellen. Die Germanen, die den Römern zu Tacitus' Zeiten über den Weg liefen, waren im Normalfall innerhalb der Grenzen des Römischen Reiches ansässige Bewohner des Alpengebiets - also jene, die gegenüber den nördlicher wohnenden Stammesverwandten hinsichtlich der Verfügung über tierisches Eiweiß einen Verzehrvorsprung vorweisen konnten und damit über einen besseren physischen Gesamtzustand verfügten!

Ein sehr wichtiges Forschungsfeld reißt Editha Marquardt, einst Studentin und jetzt wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Leipzig, mit ihrem Beitrag zur Geschichte der Frauen aus anthropometrischer Sicht an: Sind Frauen eigentlich von Natur aus kleiner als Männer? Ihre schmale Datenbasis (schottische Gefängnisinsassinnen und amerikanische Negersklavinnen) zwingt ihr hochgradig vorsichtige Schlußfolgerungen auf, und sie äußert sich daher nur zurückhaltend: Alle bisher vorliegenden Studien scheinen darauf hinzuweisen, daß ökonomische Krisen sich auf den körperlichen Zustand von Männern und Frauen unterschiedlich auswirkten. Konkret heißt das, daß z. B. die zunächst verheerenden Auswirkungen der Industriellen Revolution auf die produktiv Tätigen und deren familiäres Umfeld (wer denkt dabei nicht an das neu auftauchende Krankheitsbild Rachitis, das wegen seines Ursprungslandes, das zugleich Mutterland der Industriellen Revolution war, „Englische Krankheit“ genannt wurde) zu einer größeren als der überkommenen Differenzierung in der Körpergröße nach Geschlecht führten: die weibliche Durchschnittsgröße verminderte sich früher und fühlbarer als die der betroffenen männlichen Bevölkerung. Das vermittelt doch immerhin einen Einblick in die Stellung, die Frauen damals in der Familie wie überhaupt in der Gesellschaft einnahmen! Das 20. Jahrhundert, das einen bis dahin in seiner technischen Perfektion noch nie gesehenen Massenmord und den Abwurf von Atombomben über zwei dicht besiedelten Großstädten zu verbuchen hat, kann auf anthropometrischem Gebiet immerhin in dem positiven Bewußtsein bilanziert werden, daß sich Wesentliches zum Guten gewandelt hat: Jetzt werden Männer und Frauen von sich verändernden sozialen oder regionalen Faktoren - wie z. B. das Hineingeborenwerden in ländliche oder städtische Umgebung - gleichermaßen betroffen.

Marquardt leitet zum eigentlichen Hauptthema der folgenden Aufsätze über: der Veränderung von physischer Konstitution der Menschen im Prozeß der Industriellen Revolution. Es sind keine zur Freude Anlaß gebenden Resultate, die da vorgelegt werden, denn sie zeigen recht ungeschönt, daß die heute wieder laut ausgesprochene Skepsis gegenüber dem angeblich ehern daherschreitenden „Fortschritt“ (wenn man denn darunter höhere Produktivität und damit einhergehende höhere Verfügbarkeit von Konsumtions- und Informationsmitteln versteht) angebracht ist, da er doch nicht nach den Menschenopfern fragt, die seine Marschstrecke zieren. Die Anthropometrie kalkuliert nüchtern mit dem ihr vorliegenden Datenmaterial und eliminiert zeitgenössische Loblieder auf höheres Nationaleinkommen oder gewachsene Pro-Kopf-Einnahmen: Sie notiert Körpergröße, das Verhältnis von Körpergröße und Körpergewicht und die Rate der Kindersterblichkeit - und sie kommt zu der Schlußfolgerung, daß (nach den aus sieben Ländern vorliegenden Daten) selbst bei steigenden Reallöhnen die Industrielle Revolution zunächst über lange Jahrzehnte zu einer Verschlechterung im körperlichen Zustand der von der Umwälzung betroffenen Bevölkerung führte: Je wirtschaftlich „fortgeschrittener“ eine Region war, um so mehr rutschte der biologische Lebensstandard ab! Den euphorischen Befürwortern einer - als Parallele zur einstigen Industriellen Revolution - gegenwärtig ehern daherkommenden Globalisierung wird allerdings eine Art Gegenrechnung aufgemacht durch die Studie des Australiers Carl Mosk über die körperphysiologischen Konsequenzen des Eintritts von Japan in die Modernisierung: Der Autor stellt anhand seines Materials fest, daß es keine Verringerung von Körpergröße und -gewicht gab, als die Industrialisierung dort um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert einsetzte. Die Verfechter eines immer weiter gehenden Abbaus der Einmischung des Staates in das Sozialleben seiner in der Wärme der „Shareholder value“-Gesellschaft wohllebenden Bevölkerung werden sich durch Mosks Schlußfolgerungen zwar nicht beeindrucken lassen, aber den anderen Lesern sei doch mitgeteilt, welche Faktoren er bei seinem für Japan so positiv ausfallenden britisch-japanischen Vergleich zugunsten Japans wirken sieht: zunächst eher fallende Agrarpreise (anders als in Europa und den USA, wo agrarische Großproduzenten erheblichen politischen Einfluss auszuüben vermochten. K. W.); dann das Anwachsen der Kenntnisse über medizinische und hygienische Praktiken in der breiten Masse, die Druck auf die Politik hinsichtlich staatlicher Maßnahmen und Kontrolle auf sanitärem Gebiet machte; die Einführung staatlichen Schulzwanges schließlich verhinderte die beim Anspringen der Industriellen Revolution übliche Opferung von Kindermassen zugunsten des Molochs Industrie. (Was Mosk nicht in den Sinn kommt, ist ein Beachten der Notwendigkeiten, die sich aus der bewußten Militarisierung des japanischen Lebens ergaben. Man darf schließlich nicht vergessen, daß auch der Anstoß zu der ersten Schwalbe einer preußischen Fabrikengesetzgebung (1837) von den alarmierenden Meldungen der Kreisrekrutierungsämter kam, die voller Schrecken den wahrhaft schlimmen körperlichen Zustand potentieller Rekruten aus Fabrikenregionen feststellten!) Und als schallende Ohrfeige für die immer noch nicht gänzlich verstummten Protagonisten einer „zivilisatorischen Mission“ europäischer Kolonialherrschaft kommt zu guter Letzt die Untersuchung von Brennan/McDonald/Shlomowitz über die Körpergröße von Bewohnern des nordostindischen Bundesstaats Uttar Pradesh daher: Sie beweist nämlich, daß seit ca. 1870 - als die englische Kolonialherrschaft sich dort endgültig mit festem Griff installiert hatte - die Körpergröße der Landesbewohner, unabhängig von ihrer Kastenzugehörigkeit, bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts zurückging, aber seit der indischen Unabhängigkeit kontinuierlich anwächst! Sehr beeindruckend im Hinblick auf die weltweit hohe Wertschätzung der indischen demokratischen Ordnung ist in diesem Zusammenhang der Nachweis, „politische Unabhängigkeit von den Briten hatte einen wohltätigen Effekt auf das physische Wohlergehen aller Gruppen in der Gesellschaft von Uttar Pradesh, aber die eng mit der herrschenden Partei (dem Indischen Nationalkongreß. K. W.) verbundenen Sektoren der ländlichen Gesellschaft zogen am meisten Vorteil daraus“. (S. 146)

Neben dem Hauptthema des Heftes liefert es Studien zur Rolle von Ausstellungen, Messen und Museen bei der Vermittlung technisch-technologischen Wissens in Württemberg während des Modernisierungsprozesses (der für dort mit der Zeit 1806-1918 angesetzt wird), zu Struktur, Strategie und Management großer deutscher Warenhausketten und zur deutschen Auswanderung nach Südamerika im 19. Jahrhundert (die zugunsten der prävalenten Nordamerikaauswanderung in der Emigrationsforschung offenbar bisher vernachlässigt wurde). In der Spalte „Forschungs- und Literaturberichte“ legt u. a. Klaus F. Zimmermann, Direktor des Bonner Insituts Zukunft der Arbeit, eine achtseitige Problemzusammenfassung zum Thema „Aussiedler seit 1989“ vor, die in ihrer Dichte gegenüber dem gängigen Politiker-Blabla überaus beeindruckend ist und eine messerscharfe Schlußfolgerung offeriert: „Über kurz oder lang wird Deutschland sich in die Reihe derjenigen Länder einreihen müssen, die die Zuwanderung mit Hilfe von Quoten und Kriterien systematisch regeln. Das eigene Selbstverständnis entsprechend zu ändern setzt Selbstbewußtsein und die Sicherheit über die eigene nationale Identität voraus. Das wird unserem Land und seiner in Wirklichkeit schon bunt gemischten Gesellschaft noch ein gehöriges Stück Arbeit abfordern.“ (S. 232)


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
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